Freie Bahn den Aufsteigern!

Der Umbau des Hochschulwesens wird nicht nur von den Unternehmerverbänden forciert, sondern auch von den sozialen Aufsteigern, die Vorteile für ihre Kinder sichern wollen. von michael hartmann

In der deutschen Bildungspolitik bietet sich zur Zeit ein auf den ersten Blick erstaunliches Bild. Während alle internationalen Vergleichstudien dem deutschen Bildungssystem überholte Strukturen bescheinigen, weil es in der Schule zu früh selektiert und einen zu geringen Anteil der Bevölkerung zu einem Hochschulabschluss führt, übertreffen sich die Politiker mit immer neuen Vorschlägen und Gesetzesinitiativen, die genau in die entgegengesetzte Richtung weisen.

Das dreigliedrige Schulsystem

Für jeden halbwegs neutralen Beobachter liegt auf der Hand, dass die Pisa- und die Iglu-Studie der Dreigliedrigkeit des Schulsystems ein verheerendes Zeugnis ausgestellt haben. In kaum einem anderen Land ist der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulabschluss so stark wie in Deutschland, während die als Effekt der frühen Auswahl versprochene Leistungssteigerung ausbleibt. Was aber wird auf Länderebene beschlossen? Hessen und Niedersachsen erhöhen die Selektion noch weiter, indem sie die noch existierende Orientierungsstufe nun endgültig abschaffen.

Im Hochschulsektor ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Nähme man die Erhebungen der OECD ernst, müsste der Zugang zu den Hochschulen eigentlich deutlich erleichtert werden, um den Anteil der Hochschulabsolventen dem internationalen Durchschnitt anzunähern. Die Diskussionen um die Einführung von Studiengebühren wie auch um die Schaffung von Eliteuniversitäten verfolgen offensichtlich ein anderes Ziel. Eine Öffnung der Hochschulen dürften sie kaum vorantreiben.

Die Interessen des Kapitals

Diese Politik wird vom deutschen Kapital vehement unterstützt. Seine Repräsentanten plädieren ebenso wie die große Mehrzahl der Medienvertreter lautstark für die derzeit angedachten »Reformen« im Hochschulbereich, während sie über die Dreigliedrigkeit des Schulwesens kaum ein Wort verlieren. Warum schlägt das Kapital alle Schlussfolgerungen aus internationalen Vergleichen und alle daraus resultierenden Warnungen in den Wind? Ist es nicht in der Lage, langfristig zu denken?

Angesichts des Verhaltens der deutschen Unternehmerverbände liegt es nahe, die letzte Frage einfach mit einem Ja zu beantworten. Damit macht man es sich aber zu leicht. Will man die aktuelle Bildungspolitik wirklich verstehen, muss man zwei Dinge beachten. Zum einen gibt es durchaus Elemente, die den Interessen des Kapitals entsprechen, zum anderen, und das ist der wichtigere Aspekt, ist die Schul- und Hochschulpolitik das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen, bei denen die Interessen des Kapitals nur einen, wenn auch zweifellos einen besonders gewichtigen Faktor darstellen.

Was den ersten Punkt angeht, so ist es vor allem der finanzielle Aspekt, der den Vorstellungen des Kapitals entgegenkommt. Wer die zur Umsetzung der OECD-Empfehlungen dringend erforderlichen Mittel in das deutsche Bildungswesen investieren will, der kann nicht gleichzeitig weitere steuerliche Erleichterungen für die Unternehmen fordern. Letzteres hat für das deutsche Kapital jedoch offensichtlich Vorrang. Die finanziellen Entlastungen sind eben sofort spürbar, während die langfristigen Folgen der Auszehrung der öffentlichen Haushalte nicht so eindeutig zu prognostizieren sind. In der Bildungspolitik kann man ja z.B. die Privatisierung der Kosten vorantreiben und, wie es in der Frage der Studiengebühren auch geschieht, verstärkt auf eine stärkere Eigenbeteiligung der Studierenden setzen. Damit wäre der Widerspruch zwischen Steuerentlastungen und Bildungsinvestitionen zumindest teilweise entschärft.

Außerdem kann man nach dem Vorbild der USA den »Import« von in anderen Ländern bereits schulisch ausgebildetem »Humankapital« forcieren. Die US-amerikanischen Eliteuniversitäten können ihren Bedarf an qualifizierten Studierenden und Wissenschaftlern schon lange nicht mehr aus dem Reservoir des US-amerikanischen Schulsystems decken. Das ist dafür in seiner Breite zu schlecht, weil ebenfalls seit langen Jahren chronisch unterfinanziert.

Solange man die erforderlichen Fachkräfte aber importieren kann – in den technischen und den Naturwissenschaften kommt inzwischen ca. die Hälfte aller Studierenden und Wissenschaftler in den USA aus dem Ausland –, lässt sich diese Politik relativ problemlos fortsetzen. Für Deutschland bietet sich nach dem Untergang des Ostblocks ein vergleichbares Modell auf allerdings niedrigerer Ebene an. Die Mängel der schulischen Ausbildung können zumindest zum Teil dadurch ausgeglichen werden, dass man an den Hochschulen in großer Zahl qualifizierte Studierende und Wissenschaftler aus Osteuropa aufnimmt.

Die Aufsteiger

Die aktuellen bildungspolitischen Entscheidungen und Vorschläge erklären diese Überlegungen allerdings nur teilweise. Ausschlaggebend für die derzeit verfolgte Bildungspolitik ist vielmehr das soziale Kräfteverhältnis. Es wird geprägt durch die Interessen erheblicher Kreise des Bürgertums, vor allem unter den (zum Teil vom sozialen Abstieg bedrohten) akademischen Freiberuflern und höheren Beamten, und der sozialen Aufsteiger der sechziger und siebziger Jahre. Sie bestimmen, erstere bei CDU/CSU und FDP, letztere bei SPD und Grünen, den Kurs in Fragen der Schul- und Hochschulbildung, da es trotz der Proteste der Studierenden insgesamt nur relativ geringen Widerstand in der Gesellschaft gibt. Für sie sind dabei zwei Fragen vorrangig: Wie kann dem eigenen Nachwuchs eine gute Ausbildung garantiert werden, ohne dass die Ausgaben für das Bildungssystem deutlich erhöht werden und damit die eigene steuerliche Belastung steigt bzw. geplante Entlastungen nicht realisiert werden können? Und wie kann die eigene soziale Stellung qua Bildungsabschluss an die eigenen Kinder vererbt werden?

Für den schulischen Bereich lautet die Antwort eindeutig: Beibehaltung der Dreigliedrigkeit. Sie sorgt vergleichsweise effektiv dafür, dass der Nachwuchs aus der Arbeiterschaft und auch aus den unteren und mittleren Angestellten- und Beamtenhaushalten frühzeitig aussortiert wird. Dadurch verbessert sich nicht nur die Konkurrenzlage der eigenen Kinder wesentlich, die überproportional hohen Aufwendungen für die Gymnasialausbildung können so auch gesichert werden.

Die Unternehmer schweigen in dieser Frage weitgehend. Zwar kommt vom Handwerk, das die Folgen der Schulstrukturen bei der Suche nach Auszubildenden unmittelbar zu spüren bekommt, weil es häufig mit schlecht ausgebildeten Hauptschülern konfrontiert wird, hin und wieder Kritik. So forderte der Handwerkstag Baden-Württemberg sogar eine Abschaffung des gegliederten Systems. Solche Äußerungen bleiben jedoch vereinzelt. Einzelinteressen werden in dieser Frage dem Gesamtinteresse untergeordnet, d.h. einem einheitlichen Vorgehen in allen anstehenden gesellschaftlichen »Reformen« mit jenen Gruppen des Bürger- und gehobenen Kleinbürgertums, die ein großes Interesse an der Dreigliedrigkeit haben.

Hierarchisierung der Hochschulen

Im Hochschulbereich ist die Ausgangslage eine andere. Er zeichnet sich im internationalen Vergleich bislang durch eine relativ ausgeglichene Struktur aus. Eine Hierarchisierung der Hochschulen, wie sie in den meisten anderen großen Industrieländern üblich ist, existiert hierzulande noch nicht. Ob man an bekannten Universitäten wie an der Humboldt-Universität oder an der TU München studiert hat oder aber an wenig renommierten Provinzhochschulen wie in Dortmund oder Osnabrück, spielt für die Berufschancen bisher keine Rolle. Genau das soll nun geändert werden.

Diesem Zweck dienen fast alle Maßnahmen, die derzeit diskutiert oder schon umgesetzt werden. So ist die Forderung von Eliteuniversitäten nach dem Vorbild der USA zwar unrealistisch, weil die dafür notwendigen Gelder – Universitäten wie Harvard oder Stanford verfügen jährlich über zwei bis 2,5 Milliarden Dollar – nicht vorhanden sind, sie liefert jedoch eine breite propagandistische Unterstützung für Pläne, die deutsche Hochschullandschaft durchgreifend zu hierarchisieren.

Dementsprechend wird die Debatte um die Eliteuniversitäten auch genutzt, um die für eine solche Umgestaltung wirklich wesentlichen Forderungen lautstark zu verkünden. Im Mittelpunkt stehen dabei drei Punkte. Die öffentlichen Mittel sollen nicht mehr relativ gleichmäßig, sondern durch eine Bindung an die Drittmitteleinwerbung oder ähnliche Maßnahmen sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Hochschulen verteilt werden; die Hochschulen sollen sich ihre Studierenden selbst auswählen können; Studiengebühren sollen ab dem ersten Semester eingeführt werden.

In der Summe bedeutet das, dass sich auf Dauer Universitäten verschiedener Kategorien herausbilden werden. Wer mehr Drittmittel einwirbt, bekommt mehr staatliche Gelder, kann sich damit nicht nur bessere Wissenschaftler und eine bessere Ausstattung, sondern in Folge auch eine schärfere Auswahl der Studierenden und schließlich überdurchschnittlich hohe Studiengebühren leisten.

Mit einer solchen Hierarchisierung soll aus Sicht wichtiger Kreise des Bürgertums und vieler sozialer Aufsteiger der sechziger und siebziger Jahre sozial vor allem eines erreicht werden. Die eigenen Kinder können auf den Universitäten, die dann die erste Liga bilden, eine hoch qualifizierte Ausbildung genießen, während der Nachwuchs der übrigen Bevölkerung überwiegend mit den finanziell schlecht ausgestatteten Restuniversitäten vorlieb nehmen muss.

Wie die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, kann man sich auf die dafür erforderlichen sozialen Auswahlmechanismen verlassen. Persönliche Auswahlgespräche, besonders in Verbindung mit Studiengebühren, sorgen allen Rufen nach Leistungseliten zum Trotz stets dafür, dass die Kinder der oberen zehn Prozent der Bevölkerung mit Anteilen von 70 bis 90 Prozent weit überproportional an den führenden Hochschulen vertreten sind. Was sich hierzulande bisher erst beim Zugang zu Elitepositionen beobachten lässt, wird dann schon in den Hochschulen Realität.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt