Respekt für die Rabenmutter

Im Alter von 85 Jahren starb in Amsterdam Fanny Blankers-Koen, die »fliegende Hausfrau«. von elke wittich

Das öffentliche Urteil über Fanny Blankers-Koen stand schon vor dem Beginn der Olympischen Spiele 1948 in London fest: Bei der niederländischen Leichtathletin könne es sich nur um eine ausgemachte Rabenmutter handeln. Denn anders sei es nicht zu erklären, dass die 30jährige ihre beiden Söhne zugunsten einer Sportveranstaltung alleine ließ.

Fanny Blankers-Koen war zutiefst getroffen und wäre fast wieder zurück nach Hause gefahren. Ihr Mann überredete sie schließlich, doch in London zu bleiben, und so schaffte »die fliegende Hausfrau«, wie man sie nicht nur in den Niederlanden seit damals nannte, einen in der Frauenleichtathletik bis heute gültigen Rekord. Sie gewann vier Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen von 1948: über 100 Meter, 200 Meter, in der 4 x 100-Meter-Staffel und im 80-Meter-Hürdenlauf. Damit gelang es ihr, es ihrem Idol Jesse Owens nachzutun – später sollte nur Carl Lewis Gleiches schaffen.

Eigentlich hätten es für Blankers-Koen sogar noch ein paar Podestplätze mehr werden können, das IOC hatte jedoch aus unerklärlichen Gründen die Anzahl der Einzelstarts eines Athleten auf drei beschränkt und die Athletin durfte weder im Hoch- noch im Weitsprung antreten.

Blankers-Koen hatte jedoch nicht nur Gold gewonnen, sondern auch bewiesen, dass entgegen der damals vorherrschenden Meinung Mütter durchaus noch erfolgreiche Sportlerinnen sein können, ein Gedanke, an den sich Funktionäre wie Avery Brundage, der spätere IOC-Präsident, noch Jahrzehnte später nicht richtig gewöhnen konnten.

Als Francina Elsje Koen hatte sie 1936 als 18jährige an ihren ersten Olympischen Spielen teilgenommen. Mit der 4 x 100-Meter-Staffel wurde sie Fünfte, in der Hochsprungkonkurrenz belegte sie den sechsten Platz. Der denkwürdigste Moment dieser Spiele, so erzählte Blankers-Koen später immer wieder, sei es für sie jedoch gewesen, ihr Idol Jesse Owens zu treffen – und von ihm ein Autogramm zu erhalten.

Nach den Spielen sah es dann jedoch lange so aus, als wäre die Karriere der talentierten Niederländerin zu Ende. 1940 und 1944 wurden die Spiele wegen des Weltkriegs abgesagt, Koen heiratete 1940 ihren Coach Jan Blankers.

Als 1948 wieder Olympische Spiele ausgetragen wurden, war die Sportlerin zwar amtierende Weltmeisterin im Hoch- und Weitsprung, Hürdenlauf, über 100 Meter und in der 4 x 400-Meter-Staffel, aber eben auch zweifache Mutter. Und für die damaligen Verhältnisse mit 30 Jahren schon unerhört alt.

Ihre Trainingsbedingungen entsprachen darüber hinaus eher dem Pensum, das heute leidlich sportliche Menschen absolvieren: Im Sommer trainierte Blankers-Koen zweimal wöchentlich jeweils zwei Stunden lang, im Winter lediglich am Samstagnachmittag. Ihre beiden Kinder Jan und Fanny waren immer dabei, wie sich die Tochter erinnerte. »Sie fuhr mit ihrem klapprigen Fahrrad zum Training, mit uns auf dem Rücksitz. Während sie ihre Runden drehte, bauten wir in der Weitsprunggrube Sandburgen.«

Für viele Niederländer grenzte dies schon an Vernachlässigung, Mütter hatten damals rund um die Uhr für ihre Kinder da zu sein. Das Haus zu verlassen, um eigenen Interessen nachzugehen, galt als im höchsten Maße egoistisch. Der New York Times beschrieb Blankers-Koen 1982, dass sie sich einer regelrechten Kampagne ausgesetzt gefühlt habe: »Ich bekam viele böse und unverschämte Briefe. Die meisten Verfasser schrieben, ich solle gefälligst zu Hause bei meinen Kindern bleiben und überhaupt solle es Müttern wie mir verboten werden, in kurzen Hosen auf dem Sportplatz zu erscheinen.«

Der Journalist einer großen niederländischen Tageszeitung habe sogar in einem Artikel gefordert, dass Blankers-Koen auf ihre Olympiateilnahme verzichte und sich stattdessen um ihre Familie kümmere. »Als ich in London ankam, ging ich direkt auf ihn zu und kündigte ihm an: ›Dir werd’ ich’s zeigen!‹«

Fast wäre das nicht gelungen: Im Hürdenlauf war das Ergebnis derart knapp, dass das Zielfoto entscheiden musste. »Während ich wartete, spielte die Band plötzlich ›God save the King‹. Ich war enttäuscht, weil ich dachte, dass also meine britische Konkurrentin gewonnen haben musste. In Wirklichkeit war aber gerade König George VI. im Stadion eingetroffen. Und kurz darauf stand ich als Siegerin fest.«

Die endlose Warterei auf das Ergebnis und die täglichen Anfeindungen waren für die älteste Teilnehmerin der Spiele jedoch zu viel: Blankers-Koen wollte vor dem Halbfinale über 200 Meter entnervt abreisen. »Sie sagte, zwei Goldmedaillen seien genug«, erinnerte sich ihr Ehemann. »Ich musste sie in langen Gesprächen davon überzeugen, doch anzutreten. Es sei eine einmalige Chance, die Gelegenheit ihres Lebens, beschwor ich sie, und am Ende konnte ich sie tatsächlich überreden.«

In den Niederlanden war die Begeisterung nach ihrer Rückkehr groß: Fans schenkten Blankers-Koen ein nagelneues Fahrrad, zu dieser Zeit eine absolute Kostbarkeit. Eine Sporthalle, ein Stadion und ein Bahnhof tragen ihren Namen. Und als sie zurück nach Amsterdam kam, war sie nicht mehr die geschmähte Rabenmutter, sondern eine gefeierte Athletin. In einer vierspännigen Kutsche wurde sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt gefahren, Zeitzeugen erinnern sich, dass das »Straßenfest den Jubelfeiern nach der Befreiung von den Nazis kaum nachstand«.

Dass Blankers-Koen zur weltbesten Sportlerin ihrer Zeit und zur Heldin der von Nazideutschland befreiten Niederlande werden sollte, hat sie einem Zufall zu verdanken. Geboren wurde sie auf einem Bauernhof außerhalb der Ortschaft Baal, und es stellte sich heraus, dass sie eine gute Schwimmerin war. Doch mit 15 Jahren entdeckte sie die Leitchtathletik für sich, und ihr Schwimmtrainer erklärte ihr, dass sie sich für eine Sportart entscheiden müsse. »Ich wählte Leichtathletik und mit 17 konnte ich den ersten niederländischen Rekord einstellen!«

Nach ihrem großen Erfolg bei den Londoner Spielen gab Blankers-Koen den Sport nicht auf: 1950 gewann sie bei den Europameisterschaften drei Goldmedaillen, und 1952 startete sie bei der Olympiade in Helsinki. Doch zuvor hatte sie sich am Bein verletzt, und von den ihr verabreichten Medikamenten wurde ihr so schwindelig, dass sie beim 80-Meter-Hürdenlauf gegen ein Hindernis lief und das Rennen aufgab. 1955 beendete die »fliegende Hausfrau« ihre Karriere.

Vergessen wurde sie von den Niederländern jedoch nicht, ihr Sohn Jan erzählte vor zwanzig Jahren der Times, dass ihm die Beliebtheit seiner Mutter ziemlich auf die Nerven gegangen sei: »Mit ihr einfach durch die Straßen zu gehen, war absolut unmöglich, andauernd wurde sie von Passanten angehalten und in Gespräche verwickelt. Irgendwann lief ich dann grundsätzlich ein paar Meter hinter ihr, weil ich diesen vielen Bewunderern aus dem Weg gehen wollte. Seltsamerweise ist das bis heute so, ich gehe immer noch hinter ihr.«

Am 25. Januar starb Fanny Blankers-Koen im Alter von 85 Jahren in einem Pflegeheim in Hoofdorp bei Amsterdam.