Wo die Büffel ziehen

In Reinickendorf träumt man nicht nur vom Wilden Westen. Hier findet Europas größte Countrymusikmesse statt. von heinrich dubel

Der Mensch ist klein gegenüber einer großen Idee. Im Februar mag am Senftenberger Ring in Reinickendorf alles ohnehin noch etwas trüber, dumpfer, vielleicht sogar hoffnungsloser erscheinen. Die Wandelräume zwischen den Wohntürmen sind vollgestellt mit quadratischen Pflanzkübelmassiven, in denen sich winter- und großstadtresistentes Grünzeug unter schmutzigen Eiskrusten und Verpackungsmüll versteckt.

Eine gewisse Nördlichkeit kann man dem Märkischen Viertel nicht absprechen. Sonst gibt es nichts, was dieser Ort mit den grandiosen Landschaften Nordamerikas gemein hätte. Dort ist vermeintlich alles Prärie und Canyon, Wüste, Wald und wilderness, und wohl auch Freiheit. Vor allem ist dort Ferne vom Hier, wo die Gegend doch arg zersiedelt und alles ringsumher in Beton gegossene sozialarchitektonische und trostlose Zweckutopie der siebziger Jahre ist.

Das Gemeindezentrum im Märkischen Viertel heißt Fontane-Haus. Dieser Name ist denn auch das Einzige, was sich in einen Zusammenhang mit so etwas wie Landschaft stellen lässt, wie es sie hier irgendwann einmal gegeben haben muss. Die wüste Mark gehört der Vergangenheit an, aber der Traum von freier Natur und unbegrenzten Möglichkeiten hat sich ganz pragmatisch zwischen Schwimmbad und Oberschule eingerichtet, stilecht, wie es heißt, im American Western Saloon. Zwischen Sternenbanner und Scheunendeko gibt es dort alles, was dem Berliner an Amerika schon immer gefallen hat: Hamburger und Hotdogs, Miller-Bier, Jack-D-Whisky und Countrymusik.

Der Saloon ist nicht der einzige Nexus Berliner Wildwest-Freaks – da sind noch Westerntown Siemensstadt und Richtershorn Köpenick –, aber vielleicht ihr wichtigster. Denn hier trainieren die Incahoots, eine Linedance-Truppe, die mehrfach deutscher und Europameister wurde sowie im vergangenen Jahr auch Weltmeister. Die Bühne im American Western Saloon wird ständig bespielt. Und gleich nebenan findet seit neun Jahren die größte europäische Countrymusikmesse statt, immer im Februar, »in direkter Konkurrenz zu den Filmfestspielen und seit zwei Jahren aus den Miesen«, wie der Messeveranstalter und Saloonier Frank »Franky« Lange nicht ohne Stolz vermerkt.

Es war nicht vorauszusehen, dass aus der Gebrauchsmusik armer weißer Südstaatler ein milliardenschweres Geschäft werden würde. Als Solokünstler hat etwa Garth Brooks mit 100 Millionen Platten mehr verkauft als Frank Sinatra, Bruce Springsteen oder Michael Jackson. Die in den USA seit etlichen Jahrzehnten erfolgreichste Sparte der Populärmusik ist auch in Europa längst der Nische entwachsen. Zuckrige Balladen der Kanadierin Shania Twain, deren Sound sicher mal »authentischer« war, laufen auf Viva oder MTV zwischen Britney Spears und Madonna. Country ist massentauglich.

Um den milliardenschweren, massentauglichen Country geht es in Reinickendorf allerdings nicht, obwohl auch hier Twain und Brooks gehört werden. Die Countrymusikmesse ist mit ihren zwei Eintragungen im Guinessbuch der Rekorde als größte Messe und mit der größten Zahl von Linedancern in einer Session dennoch kein Dorfkarneval. 10 000 Besucher besuchen sie in drei Tagen, davon sicher zwei Drittel Hardcore-Freizeit-Parallelweltler: Nord- oder Südstaatler (viele), Waldläufer oder Fallensteller (einige), Riverboat-Kartenhaie (wenige) und natürlich Cowboys (die meisten). Frauen bietet das Rollenspiel quasi geschichtsgemäß weniger Möglichkeiten: Neben Saloongirl und Farmersfrau bleiben die Squaw oder Calamity Jane.

Dieses bunte Völkchen, das Franky liebevoll-spöttisch »Hobbyisten« nennt, bestimmt zwar das Bild, in der Hauptsache aber geht es bei der Messe um Musik. Dieses Jahr treten in Reinickendorf über 100 Bands und Solokünstler auf, 16 davon aus den USA, zum Teil direkt aus dem Mekka der Country Music, Nashville/Tennessee. Andere kommen aus Skandinavien, den Beneluxstaaten, Polen, Tschechien und Australien. Die meisten stammen aus Deutschland, dessen Wildwestbindung stark ist und seit Generationen besteht. Sie tritt, zuweilen ohne erkennbaren Anlass, im Kindesalter auf. Der Heimat fern und nah zugleich manifestiert sie sich literaturgeschichtlich bei Karl May. Die Rezeption von »Bonanza«, »High Chaparell«, Spaghettiwestern und John-Wayne-Filmen in der Bundesrepublik schuf eine Akzeptanz der US-amerikanischen Kultur, an der auch der Vietnamkrieg nicht zu rütteln vermochte. Und was ein waschechter Westberliner war, der hatte von jeher ein besonderes Verhältnis zur Schutzmacht Nummer eins.

Die offizielle Kultur der DDR nahm sich ebenfalls der Thematik an. Schließlich war die Geschichte des Wilden Westens neben der großartiger und fortschrittsgläubiger Individuen in der Unbegrenzheit ihrer Möglichkeiten auch eine von Arbeiter- und Bauernheeren, deren einst gelobtes, aber besitzrechtlich immer enger werdendes Land bald Indianermassenmördern und Großindustriellen anheim fiel. In der DDR gab es mehr Indianervereine als im Westen, den Kölner Raum ausgenommen. Zum Kampf gegen den Hauptklassenfeind gehörte dessen eigene Musik, so etwa neben Amiga-Pressungen klassischer Nashvilletitel oder »Linker« wie Joan Baez auch der bizarre US-Import Dean Reed, ein lonesome guitarman, der, stilecht, wie es heißt, ein einsames Ende in einem Brandenburger See fand.

Countrymusik ist eine seltsam widersprüchliche Sache. Die meisten Menschen lehnen sie spontan und heftig ab. Wo sie aber gehört wird, kann gleichwohl ein Musikantenstadl der Volksmusik oder ein urbaner Szeneladen sein. All-Timers der deutschen bzw. deutschsprachigen Countrymusikszene seit bald 40 Jahren sind Larry Schuba und seine Western Union, aber auch Gunter Gabriel, der »House of the Rising Sun« sowohl in eine nur noch selten gehörte Hausbesetzernummer (»Es steht ein Haus in Westberlin«) als auch in einen Truppenbetreuungssong (»Es steht ein Haus im Kosovo«) übersetzte und der im Kabarett Wühlmäuse ein Gedächtnissingen für Johnny Cash absolvierte, als es so weit war. Ebenso Truck Stop. Karel Gott. Johnny Hill. Udo Jürgens. Freddy. Heino. Stefan Raab. Country Rose. Die Jever Mountain Boys. Even Cowgirls get the Blues. California Fog. Hermann Halb. Doc Schoko. Rob »Robert« Tiger, der Producer von Sarah Connor, mit seiner Band Country Cousins. Die Wild Roses um Rose McGee. Blood und the Honky Tonk Floor. Die Ghost Town Saints, eigentlich eine Kreuzberger Punkband, die Ende Januar auf der Reinickendorfer Westernbühne suburbane Cowboyhüte zum Linedance reihte. Die Downs Brüder, die eine ähnliche Erfahrung im Kaffee Burger in Mitte machten, allerdings mit zwei Busladungen westdeutscher Teenager auf Klassenfahrt. Sie alle verlangt es nach einem home where the buffalos roam …

Für Einige wird es Reinickendorf sein, an einem Wochenende im Februar.

Die Country Music Messe findet 6. bis 8. Februar statt. Infos unter: www.countrymusicmesse.de