Zur Ethik des Warnstreiks

Die Tarifverhandlungen in der Metallindustrie zeigen, wie sehr die Gewerkschaften in die Defensive geraten sind. von udo van lengen

Der Cartoonist Gerhard Seyfried hat 1978 in seinem berühmten Wimmelbildersammelband »Wo soll das alles enden« beschrieben und illustriert, wie Lohnabhängige eine Revolution machen könnten. Ein Boss (Schmerbauch, mit Krawatte und Zigarre) braucht, um einen Arbeiter (Hänfling mit Zigarette und Maulschlüssel) fertig zu machen, immerhin eine ganze Fabrik (rauchende Schlote), Kapital (Geldsack und Tresor), einen Verwaltungsapparat (Aktenordner), jede Menge Meister, Vorarbeiter, Stechuhren, Sirenen, Werkschutzbullen (Knüppel griffbereit). Da ist es umgekehrt doch viel einfacher (grinsender Arbeiter trägt Holzkeule).

Heute stehen die Lohnabhängigen mit Transparenten, Flugblättern, Fahnen und Glühwein vor den Toren der Betriebe. Rund 50 000 Beschäftigte legten in der vorigen Woche vorübergehend die Arbeit nieder, um in den gegenwärtigen Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie der Forderung der IG Metall nach vier Prozent mehr Lohn Nachdruck zu verleihen. Vor allem in Baden-Württemberg kam es zu Warnstreiks, u.a. beim Autohersteller Audi. Aber auch im Saarland, in Niedersachsen, Thüringen und Hessen beteiligten sich Tausende Beschäftigte an Aktionen.

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall bietet der Gewerkschaft an, die Gehälter zweimal in 27 Monaten um jeweils 1,2 Prozent zu erhöhen. Die Unternehmer verlangen außerdem, in dem Tarifvertrag eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit bis vierzig Stunden festzuschreiben. Anders als heute soll nach dem Wunsch der Unternehmer innerbetrieblich nicht nur über verlängerte Wochenarbeitszeiten entschieden werden, sondern auch darüber, ob die Lohnabhängigen einen vollen, partiellen oder gar keinen Lohnausgleich erhalten.

Der Pressesprecher des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall behauptet, man habe keine andere Wahl. Die Arbeitskosten in Deutschland seien zu hoch. Die vorgeschlagene Lösung sei die beste, weil die Lohnabhängigen am Ende genauso viel verdienten wie heute. Sie würden nur ein wenig länger arbeiten. »Das ist immer noch besser, als die Löhne zu senken«, meint der Pressesprecher.

Der Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Peters, lehnt diese Ideen trotzdem ab. Dem Deutschlandfunk sagte er: »Man will zu einer kostenlosen Arbeitszeitverlängerung kommen. Das heißt, wir fordern hier vier Prozent und die Arbeitgeber wollen mit der Verlängerung der Arbeitszeit alleine schon drei Prozent Lohnkosten einsparen.« Auf ein Spiel, bei dem die Leute »betrogen« würden, könne sich eine Gewerkschaft nicht einlassen.

Peters’ Einschätzung lautet: Die Unternehmer wollten wohl die Kampfesstärke der Gewerkschaften testen. Martin Kannegiesser, der Präsident von Gesamtmetall, hält dagegen: »Jetzt die Weichen für betriebliche Lösungen bei der Arbeitszeit zu stellen, ist kein Test der Stärke der IG Metall, sondern der Reformfähigkeit des Flächentarifs.« Käme es zu einem Ergebnis, würde der Flächentarif attraktiver. »Und das kommt auch der IG Metall zugute, denn ihr Einfluss wird dann auch die Betriebe mit niedrigem Organisierungsgrad erreichen«, wirbt Kannegiesser schmeichlerisch für seine Pläne.

Die Unternehmer wähnen sich derzeit, auch angesichts der gesellschaftlichen Stimmung, in einer komfortablen Situation. Die Gewerkschaften dagegen sind in die Defensive geraten. Im vergangenen Jahr bekam die IG Metall das gewachsene Selbstbewusstsein der Unternehmer und die Angst der Lohnabhängigen zu spüren. Der Streik der Ost-Metaller für die 35-Stunden-Woche und die Angleichung ihrer Löhne an das Westniveau wurde abgebrochen. Die Solidarität mit den Kollegen im Osten ließ in dem Augenblick nach, als die Unternehmer im Westen in einigen Betrieben Kurzarbeit einführten. Dem folgte eine harte Auseinandersetzung in der Gewerkschaftsführung über den zukünftigen Kurs, und gerade im Osten kehrten viele enttäuscht der IG Metall den Rücken.

Der Mitgliederschwund zeitigt mittlerweile Konsequenzen. Ende Januar gab die Führung der IG Metall bekannt, es sei wahrscheinlich, dass in Sachsen und Sachsen-Anhalt kein neuer Flächentarifvertrag zustande kommt. Die IG Metall könne die Lohnabhängigen nur noch auf niedrigstem Niveau mobilisieren. Daher sei es sinnvoller, in den wenigen gut organisierten Betrieben Sachsens einen Haustarifvertrag zu erstreiken.

Trotzdem sind nicht alle Gewerkschafter gewillt, den Unternehmern das Feld kampflos zu überlassen. »Das Dilemma ist nicht nur der neoliberale Zeitgeist«, sagt ein Betriebsrat von Daimler-Chrysler in Stuttgart im Gespräch mit der Jungle World. »Auch die Gewerkschaftsführung hat Fehler gemacht, weil sie sich zu sehr angepasst hat.« Aber wer zurückweiche oder sich anpasse, komme niemals aus der Defensive heraus. »Wir müssen Leute mobilisieren und uns so dicht hinter unsere Verhandlungsführer stellen, dass sie nicht zurückgehen können.« Dankenswerterweise seien die Unternehmer in ihren Forderungen maßlos. »Sie helfen einem förmlich, die Leute zu mobilisieren.«

Um den wachsenden Druck von Unternehmern und der Regierung zu begegnen, fordert die Gewerkschaftslinke einen Strategiewechsel. Am letzten Wochenende versammelte sie sich in Berlin. Detlev Hensche, der ehemalige Vorsitzende der IG Medien, sagte in seiner Begrüßungsansprache: »Wenn Zukunftssorgen aufkeimen, ist man bereit, länger zu arbeiten. Arbeitszeitverkürzung ist dann ein sperriges Thema. Aber wir müssen dieses Feld besetzen.« Die Arbeit und die Arbeitszeit müssten solidarisch umverteilt werden. Vor allem aber dürfe man das utopische Denken nicht aufgeben, beschwor Hensche die Anwesenden. »Lasst uns die Ethik des Erfolges gegen die Ethik der Brüderlichkeit austauschen.«

Ein Teilnehmer des Treffens erzählte der Jungle World: »Als unser Chef im letzten Sommer meinte, dass wir in Zukunft wieder vierzig Stunden arbeiten sollen, habe ich gedacht: Der tickt nicht mehr ganz richtig. Und nun geht’s tatsächlich darum.« Ein älterer Gewerkschafter meinte: »Wenn wir in dieser Tarifrunde nachgeben und Öffnungsklauseln akzeptieren, dann regeln Tarifverträge in Zukunft die Maximalstandards und nicht mehr die Mindeststandards, so wie es eigentlich gedacht ist.« Ein anderer kritisierte die Gewerkschaftsführung: »Viele, auch in den Gewerkschaftsvorständen, sind orientierungslos. Daher herrscht bei uns Resignation.«

Mit bloßen Appellen sind jedenfalls nicht alle zufrieden. Ein Gewerkschafter kritisierte, dass bei den Linken keine konkreten Aktionen geplant seien. Stattdessen werde nur theoretisiert. Seine Frage lautet: »Wie legen wir die Zündschnüre und deponieren Streichhölzer in der Nähe, so dass Leute von selbst aktiv werden?« Ein Revolutionär, ein Vertreter des Seyfriedschen Holzknüppels in einer abgewandelten Variante? Jedenfalls ist er ohne Einfluss.

Denn im Saal war von Aufruhr erst etwas zu spüren, als ein Trotzkist auftauchte, der die Massen aufrütteln wollte. Die Zuhörer begrüßten ihn mit ironischem Lächeln, und mit wachsendem Entsetzen hörten sie ihm zu. Schließlich griff der Moderator ein, und mit Häme überschüttet, trottete der Aufwiegler aus dem Saal. »Die Massen wollen nicht nach links«, rief ihm einer hinterher.