Öl, Blut und Tränen

So verkehrt die Behauptung war, es gebe Massenvernichtungswaffen im Irak, so falsch war auch die Unterstellung der Friedensbewegung, es gehe nur ums Öl. von markus euskirchen

Geht es um Kriege zwischen Staaten, so lassen sich aus der täglichen Zeitungslektüre zwei dominierende Motive entnehmen: einerseits die »Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit« (also die Herstellung von Marktbedingungen) in einer »instabilen« (marktwidrigen) Region, andererseits die »Durchsetzung der Menschenrechte« (also die Konstitution von willigen Marktsubjekten). Diese Zielsetzungen sind als Gründe für staatlich organisierte Gewaltanwendung und Massentötung allgemein akzeptiert. Dennoch werden hinter den offiziellen Kriegsbegründungen verborgene Motive, meist materieller Natur, vermutet. Es gehe gar nicht um Frieden und Wohlergehen der bombardierten Bevölkerung, sondern »nur« um wirtschaftliche Gründe, so der Verdacht. Bei Kriegen gegen Staaten, die über gar keine rechte Ökonomie verfügen, nötigen offensichtlich die zufälligen Naturbedingungen zu diesem Verdacht: Rohstoffe, bevorzugt Erdöl, seien der Grund, auch noch gegen schon ruinierte Staaten Krieg zu führen. So scheint auch im Irak »Blut für Öl« geflossen zu sein – wenigstens suggeriert das die anhaltende Präsenz dieser Parole in der Friedensbewegung im Frühjahr 2004.

Die oft mobilisierungstaktisch begründete Engführung auf den Kriegsgrund Öl verkennt aber sowohl den faktischen als auch den politischen Kern der Sache. Das Öl muss einem Land nicht erst durch Krieg entrissen werden. Auch im Frieden etabliert ein gewaltträchtiges Regime den weltweiten Ölhandel als zwischen nur formell gleich berechtigten Partnern. Hundert Jahre koloniale und imperiale Außen- und Sicherheitspolitik der Industriestaaten etablierten das Regime, innerhalb dessen die Verfügbarkeit von Öl zu einer Frage des Preises geworden ist. Hinter unschuldigen Zahlen – 15, 20, 30 Dollar je Barrel Erdöl – steht das Ölregime als politisches Machtverhältnis der mehr oder weniger gerüsteten und gewaltbereiten Nationalstaaten bzw. ihrer Regierungen untereinander. Dieses Verhältnis wird keineswegs gewaltfrei aufrechterhalten. Die übermächtigen Militärapparate der Abnehmerländer sichern die Alternativlosigkeit des Systems ab. Die permanente militärische Drohung liefert den Regierungen der Lieferländer den ständigen Anreiz zur Kooperation.

Gleichzeitig nährt die Bedrohung aber auch die Unzufriedenheit mit diesem System innerhalb der Lieferländer und damit den Willen, es zu ändern. Diesen Widerspruch tragen die Lieferländer innenpolitisch mit repressiven Mitteln aus. Die Regierungen unterdrücken politische Oppositionsbewegungen innerhalb ihrer Staaten mit blutigen Mitteln, ohne sich ernsthafte Rügen der Abnehmerregierungen einzuholen. Dieses internationale Ölregime mag also durch die ökonomische Brille als friedliches Verhältnis zwischen Lieferanten und Abnehmern erscheinen. In seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit zeichnet es sich jedoch einerseits durch ein Diktat der friedlichen Koexistenz seitens der Abnehmerregierungen und andererseits durch permanentes innerstaatliches Blutvergießen seitens der Lieferregierungen aus.

In der Folge bestehen die gesamten Ökonomien der zu recht so genannten Rohstoffstaaten in der Förderung und vor allem in der Ausfuhr der Rohstoffe. Das Öl des Irak ist im Irak selbst gar kein echter Reichtum. Er kann es gar nicht gebrauchen. Zu Reichtum wird es erst durch den Export in Länder, wo es Mittel zur Erzeugung von Mehrwert ist. Die Industriestaaten beklagen ihr Angewiesensein auf die Rohstoffe gern als Abhängigkeit. Tatsächlich ist es umgekehrt: Rohstoffstaaten hängen zu 100 Prozent vom Rohstoffexport ab. Er ist ihr gesamter ökonomischer Staatszweck. Die ökonomische Unterordnung solcher Staatsgebilde unter den Weltmarkt ist vollzogen. Sie sind eingeordnet in ein System, das die reichen Staaten immer reicher macht. Im konkreten Fall: Das Öl-Embargo gegen den Irak seit dem Irakkrieg von Bush sen. hat zu allererst und einzig den Irak ruiniert.

Dieses mit den militärischen Mitteln der großen Interventionsnationen garantierte Ölregime fordert mitten im vermeintlich friedlichen Ölhandel den Lieferländern einen Widerspruch ab, den sonst nur ein Staat seinen Bürgern abverlangt: freiwillige Unterwerfung unter die für jeden einzelnen und tatsächlich unvermeidlichen Sachzwänge. Verzicht im eigenen Interesse. Zu diesen Interventionsnationen gehört übrigens auch die BRD.

Darüber hinaus ist der Gedanke einer in Dollar berechneten, unmittelbaren Kriegsrendite absurd. Gerade wenn ein Staat in den Krieg zieht, beendet er volkswirtschaftliche Vorteilsrechnungen. Auch der Verdacht, die USA wollten sich das irakische Öl per Eroberung exklusiv sichern, führt in die Irre. Vielleicht wird dem einen oder anderen texanischen Ölkonzern eine irakische Lizenz zugeteilt. Aber dieses Ziel wäre mit den normalen Zwangsmaßnahmen der Diplomatie und der ökonomischen Erpressung wohl billiger zu erreichen gewesen, für eine die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft direkt und indirekt kontrollierende Macht wie die USA allemal. Der Krieg dagegen war und ist teuer. Das militärische Engagement im Irak hat die USA nach offiziellen Zahlen bis heute über 108 Milliarden Dollar gekostet. Jeden Monat kommen rund 5,5 Milliarden Dollar dazu. Nicht enthalten sind die 87 Milliarden, die im Zuge eines Nachtragshaushalts zur Kriegsfinanzierung bewilligt worden sind. Dazu addieren müsste man noch die Zinsen, die für diese Schuld anfallen; das könnten im laufenden Jahr rund 1,5 Milliarden Dollar pro Monat sein. Außerdem noch die konjunkturdämpfende Wirkung des anhaltend hohen Ölpreises (unverändert um die 30 US-Dollar pro Barrel) und die Verluste durch die anhaltend niedrigen Börsennotierungen der wichtigsten US-amerikanischen Ölkonzerne. Und das in einer Zeit, in der das Haushaltsdefizit ohnehin 520 Milliarden Dollar erreichen wird. Für Bruchteile dieser Summen hätten sich wohl beliebig viele irakische Ölbürokraten kaufen lassen.

Ökonomischen Profit aus dem irakischen Öl zu schlagen, hätte für die USA zudem einen Widerspruch. Denn mit den Öleinnahmen muss der Irak wieder teuer aufgebaut werden, zumindest in Teilen. Das muss sein, wenn das Kriegsziel – eine halbwegs stabile, US-freundliche Erweiterung des Weltmarkts und ein verlässlicher amerikanischer Stützpunkt in Nahost – erreicht werden soll. Absurd ist in diesem Zusammenhang die öfter geäußerte Vorstellung, die Erträge des Wiederaufbaus könnten die vorhergegangene Zerstörung des Irak zu einem rentablen Geschäft für die USA machen.

Andererseits – um aufs Öl zurückzukommen – war der Rohstoffreichtum natürlich ein Grund, warum der Irak ganz oben auf der inzwischen ziemlich langen Abschussliste stand. Erdöl ist für die kapitalistischen Weltmächte tatsächlich eine »strategische Ressource«. Und das im doppelten Sinn: Erstens ist sie nahezu unersetzlich für eine kostengünstige Produktion in den Industrieländern. Andererseits sammeln die »Ölländer« durch den Ölverkauf einen gewissen Reichtum an, den sie dafür nutzen können, weltpolitisch tätig zu werden und auf diesem Wege den US-Plänen in die Quere zu kommen. Aus Sicht der USA ist die Nahost-Region daher voller Staaten mit eigenen Interessen und nationalen Selbstbehauptungs- und Machtansprüchen. Der Irak griff zwar niemanden mehr an, verweigerte sich aber der totalen Unterwerfung. Im Iran herrscht eine »Clique von Klerikern« (Rumsfeld), die die amerikanischen Werte nicht achtet. Syrien unterstützt die Hizbollah. Saudi-Arabien beteuert zwar ständig seine Unterwürfigkeit. Doch die meisten Attentäter des 11. September waren saudische Staatsbürger, und Ussama bin Laden operiert auf der Basis des Ölreichtums seiner saudischen Familie. Die Militärmacht der arabischen Staaten soll auf die Fähigkeit zur regionalen Bekämpfung von »Terrorismus« (also Marktgegnerschaft) zurückgekürzt werden, nicht mehr und nicht weniger.

Die gegenwärtige Unzufriedenheit der US-Regierung mit ihrem Weltölmarkt speist sich nicht aus einer Kriegserklärung der Lieferländer oder aus einer drohenden Ölknappheit, sondern aus ihrer Definition von »Stabilität«. Gemäß ihrer neuen Sicherheitsdoktrin will sie nicht mehr erst jeden Angriff auf ihr Regime überlegen zurückschlagen können, sondern schon jedes mögliche Entstehen eventueller Gefahren präventiv verhindern. Die Sicherheit vor Bedrohung soll endlich der Sicherheit vor dem Risiko einer Bedrohung weichen. Diese neue Sicherheitsdoktrin wenden die USA nicht nur auf den Nahen Osten an, sondern auf die ganze Welt. Die Freiheit, die sich die USA damit schaffen (wollen), übersetzt sich dann mittelbar durchaus in ökonomische Vorteile. Denn Erfolg auf dem Weltmarkt hat, wer die dort geltenden Regeln setzen kann. Gewalt und Geschäft sind nicht zu trennen.

Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Öls für den Irakkrieg lässt sich so zusammenfassen: Es ging den USA im Irak nicht nur ums Öl, sondern ums Ganze: Um »Weltfrieden«, wie sie ihn definieren; um »Stabilität« von Verhältnissen, auf die sie sich für ihre Geschäfte verlassen müssen; um »Sicherheit« für die amerikanischen Interessen, gegen die zu verstoßen neuerdings unter »Terror« fällt; und um die Sicherung des Öls gemäß den neuen, anspruchsvolleren Maßstäben amerikanischer Sicherheit. Daher war der Krieg auch regierungsoffiziell nach wenigen Wochen beendet. Seitdem läuft er allerdings in kaum verminderter, auf und ab brandender Intensität unter dem Label der »Terrorbekämpfung« weiter. Der untrennbare Zusammenhang von Politik und Ökonomie führt auch mehr als ein Jahr nach dem Angriff auf den Irak noch immer täglich dazu, dass jede Menge Blut für Geld vergossen wird.

Beim weltweiten »Krieg gegen den Terror« geht es den Vereinigten Staaten also keineswegs in erster Linie um Öl-Exploration. Das irakische Öl wird zwar von den USA durchaus als eine Art Entschädigung für die Kriegskosten quasi annektiert, jedenfalls solange die amerikanische Zivilverwaltung auch das Ölministerium leitet. Es war und ist aber nicht der Grund für den Krieg. Aber das war ja auch nicht mehr der mediale Tenor zum Jahrestag des Angriffes auf den Irak. Über den amerikanischen Imperialismus macht man dem Publikum also gar nichts mehr vor. Nur über den deutschen, dem es nach landläufiger Meinung immer noch und überall mit allen Mitteln um »Frieden« geht.