Souveränität statt Freiheit

Die kurdischen Parteien im Irak wehren sich gegen die Stärkung der alten Staatsbürokratie und des schiitischen Klerus. von thomas uwer und thomas von der osten-sacken

Die New York Times berichtet: »Die Haltung gegenüber den amerikanischen Truppen ist umgeschlagen von Apathie zu aktiver Ablehnung. Einem Vertreter der Besatzungsverwaltung zufolge findet dies seinen Ausdruck in der Gründung zahlreicher antiamerikanischer Organisationen und einer rapiden Zunahme der Angriffe auf amerikanische Soldaten. ›Jetzt ist der Ärger da, und wir begegnen ihm damit, dass wir uns überall dort, wo wir auf Feindseligkeit stoßen, aus der kommunalen Verwaltung zurückziehen‹.«

Das klingt vertraut, nur ist der Widerstand, von dem berichtet wird, nicht der im sunnitischen Dreieck zwischen Falluja, Ramadi und Tikrit, sondern der in der amerikanischen Besatzungszone zwischen Passau, Heidelberg und Frankfurt am Main. Der Bericht erschien bereits am 31. Oktober 1945.

Wenn am viel strapazierten Vergleich zwischen der Befreiung Deutschlands und der des Irak also etwas dran ist, dann vor allem, dass die USA unter vollkommen verschiedenen Voraussetzungen dieselbe Erfahrung gemacht haben. Nicht die Verbrechen des gestürzten Regimes und deren langwierige Folgen, sondern die Tatsache der Besatzung steht im Zentrum der Nachkriegspolitik. In beiden Fällen folgte daraus die Erkenntnis, dass um der Stabilisierung willen jene Kräfte einzubinden seien, die eine demokratisch verfasste und nach Möglichkeit proamerikanische Regierung ablehnen.

Mit der avisierten Übergabe der Amtsgeschäfte an eine irakische Interimsregierung am 30. Juni ist nun ein Kompromiss geschlossen worden, der nicht nur dem schiitischen Klerus entgegenkommt, sondern auch Teile der staatsbürokratischen Elite vor allem aus dem sunnitischen Zentrum einbindet. Ausgerechnet die Kurden, die sich als engste Bündnispartner der USA im Irak verstehen, fürchten nunmehr, zu Verlierern zu werden.

Erst jüngst drohten die kurdischen Parteien Puk und KDP, aus der Regierung auszutreten, sollten kurdische Interessen nicht stärker berücksichtigt werden. Die Kurden sehen sich nicht nur bei der Vergabe der Regierungsämter benachteiligt, sie befürchten auch, ihre in der Übergangsverfassung festgeschriebenen Rechte könnten von einer souveränen Interimsregierung schnell wieder einkassiert werden.

Bestärkt wurden diese Ängste bereits wenige Tage nach der Ernennung der Regierung vom künftigen Justizminister Malik Dohan al-Hassan, der ankündigte, die Todesstrafe bei Delikten wie der »Plünderung nationaler Ölquellen« wieder einzuführen und die per Dekret der Koalitionsverwaltung geregelte Deba’athisierung abzuschaffen. Dies weckt nicht nur die Ängste der Kurden.

Denn die irakische Interimsregierung ist nicht an die Übergangsverfassung gebunden. Mit der Wiedererlangung der Souveränität könnten auch Bestandteile des alten Autoritarismus wieder eingeführt werden. Gegen eine bindende Verpflichtung der Interimsregierung zur Einhaltung der Übergangsverfassung bis zur Abhaltung von Wahlen votierte neben Frankreich vor allem der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Lakhdar Brahimi.

Mit der Durchsetzung von Brahimis Konzept drohen die in anderen Ländern meist erfolglos praktizierten Konzepte der UN-Konfliktverwaltung auch auf den Irak angewandt zu werden. Im Zentrum stehen dabei die Herstellung nationaler Souveränität und schnelle Wahlen, während der Überwindung diktatorischer Herrschaft und ihrer Folgen sowie der Eindämmung terroristischer Gewalt kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Brahimi, ein sunnitischer Araber, ist familiär eng mit dem jordanischen Königshaus verbunden. Sein Plan zielt einzig auf die Wiederherstellung nationaler Souveränität ab. Nicht jedoch in der Besatzung sehen die Kurden eine Gefahr, sondern im Wiedererstarken einer autoritären zentralstaatlichen Bürokratie, die zwar souverän, aber dennoch unfrei ist.

Diese Befürchtungen teilen die Kurden mit allen, die sich von der US-amerikanischen Intervention eine spürbare Veränderung der Strukturen im Irak erhofft hatten. Dazu gehört auch Israel, das offiziell nicht Teil jener »Koalition der Willigen« war, die Saddam Hussein stürzte.

Auf den Oppositionskonferenzen, die vor dem Krieg stattfanden, stand auch eine »Entarabisierung« des Irak auf der Tagesordnung. Avisiert war ein Ende jener panarabischen Herrschaftslogik, die nicht nur den Irak, sondern die ganze Region paralysiert hat. Nicht ganz zu Unrecht wurde die Idee von Islamisten und Panarabisten als »zionistisch« gebrandmarkt, nährte sie doch die berechtigte Hoffnung in Israel, jener »Neue Nahe Osten«, den Yitzhak Rabin einst angesichts des Abkommens von Oslo ankündigte, könne auf anderem Weg erreicht werden. Erstmals hatte die irakische Opposition die offensichtliche Tatsache anerkannt, dass der Nahe Osten eben nicht »arabisch« und »islamisch« ist, sondern aus einer Fülle unterschiedlicher Nationalitäten und Konfessionen besteht.

Große Sympathien werden in Israel vor allem den Kurden entgegengebracht, die als Opfer panarabischen Größenwahns als eine Art natürliche Alliierte angesehen werden. Mit entsprechendem Interesse verfolgte man in Israel die Entwicklungen im Irak, nicht nur weil mit Saddam Hussein eine der größten Bedrohungen des Landes verschwunden ist, sondern weil erstmals seit Jahrzehnten in der arabischen Welt über Veränderungen diskutiert wurde, die nicht die Zerstörung des jüdischen Staates zur Voraussetzung hatten.

Erstmals auch hatte sich das Zentrum des Nahostkonflikts von Israel weg verschoben. Die Möglichkeit, dass sich in einem der arabischen Staaten eine substanzielle Veränderung vollziehen könnte, war zugleich immer auch von der Sorge begleitet, dass mit einem Scheitern des Versuchs auch der Konflikt um Israel sich zuspitzen könnte. Daher fürchtet man auch in Israel, dass es ohne die Anerkennung pluraler Nationalitätenrechte und einer Festschreibung der Verfassungsziele zu einem demokratisch legitimierten arabischen oder gar islamistischen Staat kommen könnte.

Für dieses Konzept steht Ayatollah Ali al-Sistani, der einflussreichste schiitische Geistliche im Irak. Setzt man ein europäisches Demokratieverständnis voraus, das Souveränität und Herrschaft der Mehrheit als Ausdruck des Volkswillens in den Vordergrund stellt, so verhält sich Sistani bislang vorbildlich. Als anfangs die USA und Großbritannien die Souveränität des Irak möglichst lange hinauszögerten, waren es vor allem seine Interventionen, die zur Entscheidung führten, die Macht am 30. Juni zu übertragen. Sistani geht es jedoch um eine Souveränität, die auf Kosten der Demokratisierung des Landes gehen wird.

Angesichts beider Gefahren, dem erneuten Erstarken einer arabisch-nationalistischen Staatsbürokratie und dem Weg in die »islamische Demokratie«, hat sich Israels ehemaliger Außenminister Shlomo Avineri bereits vor geraumer Zeit für eine Aufteilung des Irak ausgesprochen. Er hofft auf die Entstehung eines freundlich gesinnten kurdischen Nordens, der Panarabisten und Islamisten so schwächen würde, dass sie keine Gefahr mehr darstellen.

Die kurdischen Parteien sind hingegen gedämpft optimistich und hoffen auf das Gesetz der Trägheit. Erfahrungsgemäß haben sich die Regierungen im Nahen Osten immer schwer damit getan, das Rechtssystem ihrer Vorgänger völlig aufzuheben. Zum Glück für die Iraker heißt dieser Vorgänger nicht mehr Saddam Hussein, sondern Paul Bremer. Und dieser, so schätzt der Think Tank Carnegie Endowment for International Peace, hat innerhalb eines Jahres ein »derart umfangreiches Regelwerk« hinterlassen, dass es der neuen Regierung praktisch unmöglich sein wird, die bereits vollzogene Liberalisierung gänzlich rückgängig zu machen.