Moral total

Die Billigproduktion »Muxmäuschenstill« entpuppt sich als Kassenknüller. von dietrich kuhlbrodt

Wer Haltung zeigt, stößt auf Anerkennung. Respekt! Auf einem Symposion im Landesfilmzentrum Wismar ging’s mir ebenso. Das war im Juni. Man war sich einig. Die Macher des Films, der gerade projiziert worden war, hatten eine feste Position bezogen. Allseitiges Nicken des Kopfes. Haltung, Haltung, Haltung. Immer wieder fiel das Wort. Mir schien, dass damit etwas umschrieben wurde, was noch aus DDR-Zeiten stammt, und gleichzeitig war das die haltungsgerechte Opposition zu dem, was der (west-)deutsche Film zurzeit bietet, nämlich haltlose Beziehungskomödien, individuelle Befindlichkeit, depressive Verstimmung. Wir kamen gar nicht darauf zu fragen, ob die Haltung des gelobten Films die falsche sei oder verwerflich oder gefährlich. Zur DDR-Zeit gab’s sicherlich nur die richtige. Aber jetzt in der Sächsischen Schweiz wäre mindestens für ein Drittel der Zuschauer die Haltung der NPD diejenige, die mutig und aufrecht und sonstwas ist. Wenn 25 Prozent die NPD wählen und noch ein paar Prozente mehr gerade dabei sind, das zu tun – wie sollte das anders sein? Der allseits respektierte Fahrlehrer schwenkte von einer Bürgerinitiative in diesem Jahr zur NPD über. Das hat Vorbildcharakter. Einer zeigt Haltung.

Das Modewort greift momentan um sich, schon weil andere Qualifikationen, gar politische, nicht gehandelt werden, schon gar nicht an Stammtischen. Also besetzt Herr Mux das Feld, der Held des reüssierenden Spielfilms »Muxmäuschenstill«. Geradezu vorbildlich baut er ökonomisch erfolgreich seine Ich-AG auf, die bürgernah das Zeigen von Haltung und die Übernahme von Selbstverantwortung als Serviceleistungen anbietet. Im schneidigen Polizistenton stellt er Schwarzfahrer, Verkehrssünder, Exhibitionisten, Päderasten und Ladendiebe auf frischer Tat, auch bestraft er sie an Ort und Stelle, demütigt sie auf seine pädagogische Art und kassiert Gebühren, die einerseits die dringend benötigten Einnahmen seines Unternehmens verbessern, andererseits ein willkommenes Schutzgeld für die Gesellschaft im Ganzen sind.

In der Schule stellt er Zwölfjährige, die den Lehrer mit Papierkugeln bewerfen, in die Ecke und bewirft sie zur Strafe und hilfreichen Abschreckung seinerseits mit dem Zeug. Das ist harmlos und komisch, und im Kino darf gelacht werden. Man lacht. Von den anderen, die schon mal blutig draufgehen, sehen wir kurz ab. Gewalt in der Familie? Unser Haltungsheld wird das beenden. Langzeitarbeitlose? Der Jungunternehmer stellt aus purer Güte einen ein. Das Arbeitsamt wird nicht gebraucht. Allseitiges Nicken des Kopfes. Mux tut das, wovon Regierung und Opposition träumen.

Aber wir können von nichts absehen, »Muxmäuschenstill« ist kein Märchen. Zu hoch ist der Wiedererkennungswert. Der Film hat dokumentarischen Charakter. Gedreht mit einer Billigkamera und mit 80 Prozent Laiendarstellern, ist er überall da zuhaus, wo auch wir sind, auf der Straße, im Supermarkt, in der Kneipe, auf dem Volksfest, im Büro. Alles stimmt, bloß mit Mux stimmt es nach einem Weilchen nicht mehr. Seine Sprüche werden hohl, seine Aktionen zweifelhaft, sein Unternehmen nennt sich inzwischen »Gesellschaft für Gemeinsinnpflege«, es zieht in eine moderne Bürohausetage ein, fähige Yuppiemanager führen Marketingstrategien ein, das Lachen im Kino wird dünner, den einen bleibt es im Hals stecken, andere schämen sich, weil sie eben noch gelacht haben. Was jetzt wiedererkannt wird, sind die Medien, die sich der publikumswirksamen Mux-AG bemächtigt haben. Talk mit Mux beim Kerner, Zuschaltung zum Wickert in den Tagesthemen. Die Mux-Expansion wird quotengünstig vermarktet. Das ist schon mehr als eine Satire, denn der, der dem Film zuschaut, wird selbst verantwortlich für das, was er wahrnimmt. Kein Mux mehr, der die Haltung vorgibt. Der Zuschauer muss sich notgedrungen auf das besinnen, was er vom Muxmurks halten soll. Der Rezipient muss leider oder gottseidank selbst verantworten, was er an Bildern wahrnimmt. Seine Position wird sich im Lauf des Films ändern. So nahm ich es jedenfalls in dem Kino wahr, in welchem ich den Film sah.

Wir können beiseite lassen, ob das Filmwerk gut oder schlecht ist, ob die Dramaturgie hinhaut oder eigentlich doch nicht. Egal. Das Fazit ist jedenfalls klasse. Es geht nicht um die Haltung des Filmprotagonisten, sondern um die des Rezipienten. Damit sind wir schon ein ganzes Stück weiter, wenn auch nicht ein sicheres Stück. Denn vorauszusagen, wie zuverlässig und wie genau das mit der Haltungsänderung passiert, ist unmöglich. Wenn man zähneknirschend dem Zuschauer überlässt, was er mit dem Muxismus anfängt, dann geht man sicherlich das Risiko ein, dass den Schweinen alles Schwein ist und den populistisch Anfälligen alles populär. Irgendwann hat man im Bildermedium die Rezeption nicht mehr unter Kontrolle.

Ob dies die Fördergremien im Sinn haben, wenn sie sich an garantiert keimfreie, aber haltlose Filme halten, weiß ich nicht. Jedenfalls haben die Muxmacher sich gar nicht erst um Subventionen bemüht, sondern den Film ohne fremde Hilfe, aber mit ganzen 40 000 Euro produziert. Das ist für einen Spielfilm eine lächerliche Summe.

Ironie der Geschichte ist, dass unsere Filmemacher im Moment dasselbe Schicksal erleben wie ihre Herren von der »Gesellschaft für Gemeinsinnpflege«. Der Film wurde überhäuft mit Auszeichnungen bis zum Bundesfilmpreis. Die Branche jubelt. Die Kinokassen klingeln. Die Medien vereinnahmen die Macher, die in ihrem Film vereinnahmende Medien böse und satirisch gezeigt hatten. Jetzt sind sie es selbst, die live beim Wickert zugeschaltet sein werden oder doch beim Kerner talken, falls das inzwischen nicht längst der Fall war. Die 40 000-Euro-Ich-AGler wurden Wunderkinder. Der Aufschwung ist da. So haben es alle erhofft. Es ist erreicht.

Wie geht’s weiter? Die euphorische Medienpublizität wird ihren Preis haben. Ich meine nicht die 40 000 Euro auf der Kostenseite der Muxproduktion. Auf der Habenseite wird eine Null dahinter zu schreiben sein. Ich meine die Nebenwirkungen für den, der im Kino sitzt. Haltungsschäden sind zu befürchten. Denn mittlerweile ist der Zuschauer die Last der Selbstverantwortlichkeit los, und ehrfürchtig zu bestaunen sind Neowunderkinder, die ihre Ich-AG nach oben in die Charts gebracht haben. Mit einem Besucherschnitt von über 800 Zuschauern pro Kino startete »Muxmäuschenstill« im Juli. Damit erzielten die Neokids den drittbesten Kopienschnitt – direkt nach den US-Blockbustern »Spiderman 2« und »Shrek 2«. Was in der Filmfiktion als bitterböse Persiflage auf die Ich-AG konzipiert war, ist überwältigende Realsatire geworden: Beweis dafür, dass Ich-Debütanten einen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten produziert haben und am ersten Kinowochenende glatt das Sechseinhalbfache der Herstellungskosten einspielen konnten.

Damit sind wir wieder wer und zurück am Anfang. In der Filmsatire werden die Muxgesellschafter vom Firmenchef gerügt, weil sie sich als Internetportal »denunziant.com« ausgedacht haben. Verständnislos hören sich die Jungmanager an, dass der Begriff irgendwie belastet sei, in Deutschland jedenfalls; »informant.com« sei besser. Wer nun nach dem Muxkino nach Hause geht und diese Website aufsucht, findet sich in Sacramento, Kalifornien wieder. Nach dem Stand von Monday, July 12, 2004 landet er bei einer communications group, klickt den Link »contact us« an, geht ins Department »Customer Service« und braucht nur 75 Dollar zu zahlen, dann ist er Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft, die Einnahmen braucht, um noch eine Null dranzuhängen.

»Muxmäuschenstill« (D 2004), R: Marcus Mittermeier. B: Jan Henrik Stahlberg. Mit Jan Henrik Stahlberg, Fritz Roth, Martin Lehwald