White Trash im NS

Götz Aly, die Flicks, die Elite und die Auftragsforschung. von peter kessen

In Zeiten der deutschen Opferkultur der Ausgebombten und Vertriebenen lässt sich Götz Alys Dokumentation der raubenden Volksgemeinschaft als antideutsche Aufklärung missverstehen. Aber antinationale Intentionen liegen dem selbst ernannten Tabubrecher fern. Im Juni 2003 erklärte Aly, warum die deutsche Schuld unbezahlbar sei. In der Berliner Zeitung finden sich seine Bemerkungen zur Entschädigung für ein SS-Massaker: »Ein geschichtsferner Antifaschismus – namentlich in der einstigen DDR – trompetet, das Urteil des BGH sei ein Skandal, und nennt die 115 Millionen D-Mark, die die Bundesrepublik 1960 an Griechenland zahlte, lächerlich.« Der Polemik folgte das Argument des kleinen Mannes: »Sollten die heutigen Deutschen für das Unrecht von damals zahlen, müssten sie sofort die Staatsbürgerschaft wechseln.« Im Januar 2005 folgt die Rede vom »notwendigen deutschen Desinteresse« gegenüber Reparationen, ansonsten »müssten wir sämtliche Einkommen und Renten in Deutschland halbieren«. Und das liege jenseits des nationalen Interesses: »Auch die heutige Regierung vertritt das Volkswohl.«

Im September 2004 konstatierte Aly in der SZ die Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und bundesdeutschem Wohlfahrtsstaat und forderte Bundeskanzler Gerhard Schröder auf, die Segnungen der Volksgemeinschaft zu beenden. Die BRD gilt als Sozialnachfolger des Dritten Reiches, beide Systeme erscheinen als finanzpolitische Irrläufer: »Die Massenzustimmung wurde mit Mitteln der Umverteilungspolitik erreicht: mit sozialer Wärme. Die belohnen die Deutschen, wie wir wissen, gerne. Damals ging sie zu Lasten anderer Völker. Heute geht sie über die Verschuldung zu Lasten der nächsten Generationen.« Historie verwandelt sich per Analogie in eine aktuelle Order: Wenn die heutige Elite die so genannten Unterschichten verarmen lässt, fusionieren Antifaschismus und ökonomischer Weitblick. Diese Volten zeigen einen nationalen Staatsidealisten und Elitenratgeber, der seine NS-Forschung aus der Perspektive des berüchtigten Pragmatikers jenseits der Kapitalismuskritik betreibt.

So erscheint der Nationalsozialismus als nationaler Sozialismus, der »rassen- und klassenbewusst« ein Bündnis aus gierigen Kleinbürgermassen und Elite schmiedete, um eine »Jugenddiktatur« gegen das höhere Bürgertum zu errichten. Im Personenregister von »Hitlers Volksstaat« findet sich kein Wehrwirtschaftsführer: Die Volksgemeinschaft erscheint als antibürgerliche Mobilisierung der so genannten Massen ohne stärkere Beteiligung der Besserverdienenden. Als Argument dient tatsächlich die Reflektion über formale Steuersätze und prozentual heruntergerechnete Industriegewinne aus der Zwangsarbeit. Ignoriert wird Thomas Kuczynskis Rechung, dass die Industrie lediglich rund ein Zwanzigstel jener unbezahlten Zwangsarbeit »entschädigte«, die erst den modernisierten Kapitalstock des Wirtschaftswunders schuf.

Bizarr erscheinen seine Thesen vor dem Hintergrund des aktuellen Streits um die »Flick Collection« in Berlin. Hier havariert Aly in einem Geflecht aus millionenschwerer Holocaust-Staatsforschung und kunstpolitischer Regierungsorder. Involviert ist ein Forscher-Netzwerk um Horst Möller, Ulrich Herbert und Götz Aly. Seit dem 1. Januar 2005 arbeiten die Historiker an einem achtjährigen Projekt, einer 16bändigen Quellenedition über die »Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1933 bis 1945«. Das vier Millionen Euro teure Vorhaben finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die fast vollständig vom Bund und von den Ländern getragen wird.

Bundeskanzler Schröder und Kulturstaatsministerin Christina Weiss haben die Flick-Collection in Berlin initiiert und offensiv unterstützt. Götz Aly hat sich mehrmals prononciert zum Thema geäußert, zuletzt im Januar 2005 in der taz: »Wenn man die Gründe für Auschwitz wirklich verstehen will, soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie Flick, Krupp oder Deutsche Bank zu operieren.«

Friedrich Flick war der größte Profiteur unterm Hakenkreuz: 1931 drohte dem Börsianer noch der Bankrott, dann machten ihn die Aufrüstung und rund 50 000 Zwangsarbeiter 1942 zum reichsten Mann Deutschlands. Die Kunstsammlung des Enkels basiert auf einem Erbe von 200 Millionen Mark direkt vom Großvater. Wie sein Ahne weigert sich der Enkel bis heute, die Zwangsarbeiter zu entschädigen.

Das staatlich geförderte Historiker-Netzwerk um Aly, Möller und Herbert unterstützt auch das Bundesprojekt Flick-Collection mit offensivem Geleitschutz. In ihren Diskussionsbeiträgen zur Flick-Sammlung ersparten sich die Forscher zunächst jeden Blick in die Akten des Nürnberger Prozesses. Dort erscheint der alte Flick als größter Spender für den SS-Freundeskreis Himmler, und zwar seit 1931. Seit dem Jahr 1935 trug er das Parteiabzeichen und besuchte jährlich Görings Geburtstagfeiern, um dem Kunstfreund alte Meister zu überreichen. Der Wehrwirtschaftsführer besuchte mit Himmler das KZ Dachau, noch 1947 berichtete er von einem »anständigen Eindruck«, den er damals gehabt habe. Seine Firmen hatten die höchsten Anteile von Zwangsarbeitern in der Eisen verarbeitenden Industrie. Im Werk Gröditz entstand sogar ein KZ-Außenlager mit rund 1 000 Häftlingen. Flick besuchte sein Werk zweimal, zuerst im Sommer 1941 und dann im Oktober 1944. Die Nürnberger Akten dokumentieren Fleckfieberepedemien, mangelhafte Ernährung und Unterbringung. Am 17. April 1945 erschoss die SS 186 kranke KZ-Zwangsarbeiter in der Nähe des Werkes. Friedrich Flick antwortete im Nürnberger Prozess auf die Frage, ob es rechtlich gerechtfertigt sei, KZ-Häftlinge zur Arbeit zu zwingen: »Ja, ich dachte, dass es erlaubt ist, weil ich dachte, es sei normal, dass Häftlinge arbeiten sollten. Und ich denke, dass sie in unserem Unternehmen bessere Bedingungen hatten als in den Lagern.«

Ohne diese Tatsachen genauer zu registrieren, beauftragten nunmehr der Enkel Friedrich Christian Flick und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz eben jenen Horst Möller, die Firmengeschichte bis 1945 zu erforschen. Am 12. November 2004 fand als Begleitprogramm zur Collection eine Podiumsdiskussion mit Historikern statt. Dort klagte der Auftragsforscher, »dass es so selbstgerecht zugeht, dass heutige Generationen wissen, wir sind prima, die vorherige war kriminell«. Der Famillienforscher hatte sich zuvor bereits als Chefkritiker der Wehrmachtsausstellung empfohlen. Für Horst Möller vernachlässigte die alte, später veränderte Ausstellung den »entscheidenden Anteil«, den »die fanatischen Ideologien von Nationalsozialismus und Bolschewismus und die Dialektik beider an dieser Entfesselung, Entgrenzung und scheinbaren Legitimierung brutaler Gewalt hatten«. Beim Ostfeldzug seien nur »bis zu fünf Prozent« der Landser in Verbrechen verwickelt gewesen.

Zum Verhalten von Friedrich Flick im Nationalsozialismus sagte Möller: »Für Flick war das ein Schachspiel. Er pflegte ein lockeres Verhältnis zur Politik und versuchte, sie für seine unternehmerischen Interessen zu instrumentalisieren.« Möllers Fragestellung lautet: »Inwieweit war Flick überhaupt Nationalsozialist?« Kim C. Priemel, der am Freiburger Lehrstuhl von Ulrich Herbert die Geschichte Flicks erforscht, machte darauf aufmerksam, dass der Industriemagnat immer streng nach »betriebswirtschaftlichem Kalkül« gehandelt habe.

Nach der Eröffnung der Collection am 22. September 2004 begann eine aggressive Umschreibung der Familiengeschichte. Der Enkel fragte auf der achten Seite des Begleitheftes, ob »unabhängig vom unzweifelhaft grausamen Schicksal der Zwangsarbeiter Tausende in den Betrieben meines Großvaters durch Misshandlungen und Folter ums Leben gekommen sind«. Des weiteren möchte der Enkel erfahren, »wer im Einzelnen dafür verantwortlich war«, und insinuiert, dass seinem Vorfahren die »menschliche Behandlung« der Gesamtbelegschaft wichtig gewesen sei.

In der Berliner Zeitung vom 19. September 2004 porträtierte Götz Aly die ehemalige Zwangsarbeiterin Eva Fahidi. Sie hat in Stadtallendorf in einer Munitionsfabrik von Dynamit-Nobel gearbeitet, der alte Flick saß im Aufsichtsrat. Nach dem Krieg kaufte er die Firma und verweigerte bis zu seinem Tod eine Entschädigung der 1 000 jüdischen Ungarinnen aus dem KZ Auschwitz. Die Sklavenarbeiterinnen litten nach dem Granatenschleppen im giftigen TNT-Staub an Vergiftungen und Rheuma, viele Frauen wurden unfruchtbar oder brachten behinderte Kinder zur Welt. Die Zwangsarbeiterin Eva Fahidi wog im Mai 1945 zehn Kilo weniger als die Fünfzigkilogranaten, die sie transportieren musste. Über diese Zwangsarbeit schreibt Aly: »Auch wenn sie dort ohne jeden Schutz mit Giften in der Munitionsfertigung arbeiten mussten, bedeutete der Ortswechsel einen wichtigen Schritt zur Rettung.« Dann folgen Zahlen zu der geringen Sterberate im Werk. Die Finesse Alys erreicht hier ihren Höhepunkt: Die rationelle Zwangsarbeit erscheint als Lebenshilfe eines Industriellen, dessen Arbeitssklaven Waffen produzierten, die garantierten, dass die Grenzen des Holocaust sich mit den Eroberungen der Wehrmacht deckten.

Götz Aly hat mit einer Pseudokritik der »Volksgemeinschaft« einen neuen Diskurs des Nationalen geschaffen. Sein Vulgärmaterialismus lässt den tödlichen Antisemitismus der Deutschen verschwinden, streicht die Elite der Bourgeoisie aus der Volksgemeinschaft, um mit dem beliebten Topos von der »Banalität des Bösen« eine sanft verständige und aktuelle Kritik der Unterschichtsmentalität in die Geschichte zu projizieren: »Die Menschen in Deutschland waren während des Zweiten Weltkrieges weithin passiv. Sie jagten dem kleinen Vorteil hinterher, frei nach dem Motto: Geld ist geil.«

Übrig bleiben nur noch die abstraktesten Motive der Tatlosigkeit, Beschränktheit, Unmoral und Geldgier, quasi als Motive eines White Trash vieler Länder, der bei Gelegenheit ebenso gen Stalingrad gezogen wäre. In diesem Sinne hat Götz Alys »Volksstaat« den Holocaust internationalisiert und entgermanisiert. Die deutschen Buchhandlungen meldeten nach einer Woche den Ausverkauf.

Peter Kessen ist der Autor des Buches »Von der Kunst des Erbens. Die Flick-Collection und die Berliner Republik«, Philo Verlag, Berlin 2004