Angst vor der Konsequenz

Antideutsche Kritik an der Linken ist notwendig, als Weltbild oder politische Handlungsanleitung taugt sie nicht. von tobias rapp

Man kann es sich einfach machen, und sagen, dass die Antideutschen zu keiner der wichtigen Fragen der Gegenwart etwas zu sagen haben. Nicht dass da draußen nichts los wäre. Im Gegenteil, es ist so viel los wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die militärische und ökonomische Weltordnung ändert sich rapide, neue Machtzentren beginnen sich zu bilden, es geht um den Zugang zu Rohstoffvorkommen am absehbaren Ende des Ölzeitalters, Arbeitsmärkte ändern sich, auf nationalem wie auf internationalem Level. Sozialstaaten werden privatisiert mit einem riesigen Rattenschwanz an Verteilungskämpfen, die da dran hängen, vom Zugriff auf die Wasserversorgung bis zur Gestaltung der Gesundheitssysteme. An der Patentierung von Wissen wird gearbeitet, der Zugang zu Medikamenten geregelt – mit unabsehbaren Folgen für viele Millionen von Menschen. Hat man zu diesen Fragen schon mal von einer antideutschen Position gehört? Lässt sich überhaupt eine denken?

Zugegeben, es ist ein billiger Vorwurf. All diese Fragen erwischen große Teile der radikalen Linken meist auf dem falschen Fuß. Und das hat auch sein Gutes, muss doch die ernsthafte Beschäftigung mit diesen Themen immer von der Prämisse ausgehen, dass man bereit ist, tatsächlich etwas ändern zu wollen. Und dass sich Teile der radikalen Linke dazu entschlossen haben, sich, so wie die Dinge stehen, auf Kritik zu beschränken, dürfte jeden beruhigen, der sich einmal mit Anti-Imps unterhalten hat. Und abgesehen davon könnte man mit diesem Argument auch noch ganz andere Dinge delegitimieren – jede Beschäftigung mit Kunst und Kultur etwa. Nur weil da draußen Menschen sterben, möchte man sich ja trotzdem stundenlang über Filme und Bücher und Platten unterhalten können. Warum also nicht lange Listen darüber verfassen, für welche Weltübel Deutschland verantwortlich ist?

Das bedeutet aber, den Rahmen relativ eng abzustecken. Wenn man von den Antideutschen sprechen möchte, spricht man über die deutsche Linke. Und hier haben die Antideutschen, bei aller Nerverei, äußerst segensreich gewirkt. Denn im Unterschied zu der radikalen Linken anderer westlicher Länder gibt es in Deutschland mittlerweile, trotz aller Widerstände, ein ziemlich deutliches Gefühl für die fließenden Übergänge zwischen Antisemitismus, Antizionismus, Kritik am Staat Israel und Kritik an der Politik der israelischen Regierungen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, in der US-amerikanischen Linken etwa ist das keineswegs ausgemacht.

Diese Erkenntnis ist allerdings teuer erkauft, mit jenen Nervereien nämlich, die sie begleiten, der notwendige Krach, wenn man so will, um einem Thema auch die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mit der schönen Frage »Fatwa oder Fanta?« hat die Jungle World dieses Dilemma nach den Anschlägen vom 11. September zusammengefasst. Islamischer Fundamentalismus und der ganze Dreck auf der einen Seite, die (auch körperlich spürbaren) Wohltaten der westlichen Welt auf der anderen. Das war in seiner Zuspitzung zu diesem Zeitpunkt die richtige Fragestellung, und es war auch für die notwendige Debatte über den Zusammenhang zwischen islamischem Fundamentalismus und europäischen Faschismen die richtige Zuspitzung. Die erschreckende Erfahrung, von Freunden im vertraulichen Gespräch ­hören zu müssen, dass man es ja nicht sagen dürfe, aber die USA ein bisschen ja auch selbst Schuld am Terror seien, dürfte wohl ­jeder gemacht haben.

In diesem Augenblick war Ideologiekritik nötig. Und so ähnlich stellte es sich auch während der Vorbereitung des Kriegs gegen den Irak dar. Denn wie auch immer man zu diesem Krieg stehen mochte – dass sich die Antikriegs­bewegung wenig Gedanken über die Iraker selbst und deren Recht auf ein Leben ohne das Regime Saddam Husseins machte, war so offensichtlich wie unangenehm. (Als jemand, der sich in dieser Zeit vor allem in den USA aufhielt, muss ich allerdings hinzufügen, dort war die Antikriegslinke noch um einiges schlimmer.)

Nun könnte man gegen die oben angeführte Liste von ungelösten Weltproblemen des 21. Jahrhunderts, zu denen es keine antideutschen Positionen gibt, natürlich einwenden: Warum fehlt der islamische Fundamentalismus? Gehört der etwa nicht dazu? Und gibt es dazu nicht antideutsche Positionen, die an Klarheit kaum zu überbieten sind?

Dazu wäre zu sagen: So lange antideutsche Positionen gegen den islamischen Fundamentalismus ihre Legitimation vor allem aus dem Umstand beziehen, dass sie anti-deutsch sind, sich also gegen die deutsche Regierung, Zustände und Geschichte richten, mögen sie innerhalb eines linken Diskussionszusammenhangs Sinn machen. Allerdings spielt sich der islamische Fundamentalismus außerhalb der Linken ab, und außerhalb dieser Zirkel sind die meisten Argumente wertlos. Anders gesagt, sobald strategisches Antideutschtum in essenzialistisches Antideutschtum umkippt, wird es unbrauchbar und meistens auch ärgerlich. Ideologiekritik ist gut, solange sie Ideologiekritik ist. Wenn sie anfängt, sich selbst für Ideologie zu halten, kommt Unfug dabei heraus.

Und Unfug kommt bei den Antideutschen oft heraus. Vor allem dann, wenn andere bürgerliche Nationalstaaten als leuchtendes Vorbild gegen deutsche Umtriebe ins Feld geführt werden. Lange war das bevorzugte Objekt dieser Begierden Frankreich. Seit dort beinahe Le Pen zum Präsident gewählt worden wäre, und sich die französische Regierung dann auch noch mit der deutschen zusammentat, um gegen den Irakkrieg zu opponieren, hat es einiges an Beliebtheit eingebüßt. Nun sind es meist Großbritannien und die USA, die herhalten müssen.

Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Wenn man, wie Justus Wertmüller neulich auf einer Veranstaltung, das Projekt des britischen Kolonialismus als eines würdigt, das noch in die entlegendsten Winkel der Erde die Segnungen des Fortschritts und der Zivilisation getragen habe, im Unterschied zum deutschen Kolonialismus, der vor allem vom Vernichtungswillen getragen gewesen sei, dann macht man sich bestenfalls lächerlich. Schlimmstenfalls untergräbt man aber seine ganze Position. Es ist ja ein lobenswertes Unternehmen, den deutschen Kolonialismus zu kritisieren, so wenig beleuchtet wie diese historische Epoche noch immer ist. Zumal es einen auch anschlussfähig für die große internationale Debatte über die postkoloniale conditio humana macht. In dieser Debatte ist aber bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Kolonialsystemen mit einem Lob des britischen Empires kein Blumentopf zu gewinnen. Möchte man dies partout machen, kann man sich mit Kulturkonservativen wie V. S. Naipaul zusammentun. Dann hat man sich aus der an Emanzipation des Menschen orientierten Debatte über den postkolonialen Stand der Dinge zurückgezogen. Entweder postcolonial studies oder Kolonialnostalgie. Beides zusammen geht nicht. Es sei denn man möchte einen deutschen Sonderweg beschreiten, was man von einem Antideutschen nicht annehmen sollte.

Um auf den islamischen Fundamentalismus zurückzukommen: Natürlich ist es verdienstvoll, den Einfluss der deutschen Geistesgeschichte auf seine Entstehung herauszuarbeiten. Gewonnen hat man damit politisch für die Gegenwart aber genauso viel, wie wenn man den Einfluss von Nietzsche auf die zionistische Bewegung untersucht. Nichts nämlich.

Dass es auch anders geht, wird gerade am Vergleich mit den USA deutlich: Tatsächlich gibt es dort eine Gruppe von ehemaligen Linken, die so genannten liberal hawks, die zu ganz ähnlichen Schlüssen gekommen sind, wie sie in antideutschen Kreisen auch gezogen worden sind. Dass der Islamismus eine Variante des Totalitarismus sei, und deshalb ähnlich entschlossen bekämpft gehöre wie Nationalsozialismus oder Faschismus (und die verschiedenen Spielarten des Kommunismus übrigens auch, das geht wohl nicht anders, wenn man mit dem Begriff des Totalitarismus hantiert).

Der große Unterschied liegt in den Konsequenzen, die Intellektuelle wie Paul Berman am Ende dieser Argumentation zogen: nämlich für einen Krieg zu sein, der von einer Regierung geführt wird, der sie ansonsten nicht viel abgewinnen können. Der Vorwurf der liberal hawks an die Europäer war nicht der, mit ihrer Geistesgeschichte diese Spielart des Totalitarismus mit ermöglicht zu haben. Die Lektion aus dem 20. Jahrhundert nicht gelernt zu haben, und keine Soldaten in den Irak zu schicken, das war ihre Kritik.

Nun ist es wahrscheinlich etwas zu viel verlangt, von antideutschen Linken zu erwarten, sie mögen doch die Bundesregierung dazu auffordern, Truppen in den Irak zu entsenden, um dort die westliche Zivilisation zu verteidigen. Am Ende sind sie glücklicherweise eben doch vor allem Linke. Es wäre für sie aber die einzige Möglichkeit, sich aus ihren Gedankengebäuden heraus in die Sphäre der Politik zu begeben und der Ideologie gewordenen Ideologiekritik Konsequenzen folgen zu lassen. Aus der Ferne der amerikanischen Regierung zu applaudieren und ab und zu den ehemaligen Genossen mit Israelfahnen auf die Nerven zu gehen, reicht dafür nicht aus.