Alle Viren sind schon da

Mike Davis untersucht die ökonomischen Bedingungen, die für das Entstehen und die Ausbreitung der Vogelgrippe verantwortlich sind. von ferdinand muggenthalter

Man möchte das Buch gleich wieder weglegen. Es beginnt mit einem Bibelzitat und trägt den Titel: »The monster at our door«. Wird hier evangelikaler Endzeitglaube verbreitet? Der deutsche Verlag hat den Titel denn auch dem Geschmack seiner Leserschaft angepasst und Mike Davis’ Buch nüchtern mit »Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien« überschrieben.

Man möchte abschalten, wenn gezeigt wird, wie die Bundeswehr tote Schwäne auf Rügen einsammelt. Die Angst vor einem Virus, der vielleicht ein gefährliches Virus werden könnte, wirkt grotesk. Doch die erste Aufregung ist vorbei, und es lohnt sich, Davis’ Buch zu Ende zu lesen. Es liefert genug Fakten, um nicht bei der Betrachtung der Medienoberfläche stehen bleiben zu müssen.

Nach einem Crash-Kurs in Virologie beschreibt der Stadtsoziologe die bisherige Geschichte »des Monsters vor unserer Tür«, der Virusfamilie H5N1, in zwei parallelen Strängen: auf der einen Seite das wachsende Wissen über das Virus; auf der anderen Seite die politisch-wirtschaftlichen Bedingungen, die die Verbreitung des Virus gedeihen lassen.

Schon bei der alljährlichen Grippewelle sterben in Deutschland jedes Jahr zwischen 8 000 und 20 000 Menschen. Da Influenza-A-Viren ständig mutieren, ist die Immunabwehr ins­besondere bei Kleinkindern und älteren Menschen den stetig veränderten Viren nicht gewachsen. Ganz andere Ausmaße aber kann eine Grippewelle annehmen, wenn eine völlig neue Variante des Grippevirus von Tieren auf den Menschen überspringt. Dann wäre nicht mal mehr ein teilweiser Immunschutz gegeben, und das Virus könnte sich ungehindert in der Weltbevölkerung ausbreiten. Welches Virus eine solche Pandemie auslösen wird, ist Spekula­tion. Aber der seit 1997 bei Vögeln grassierende Virentyp H5N1 ist ein aussichtsreicher Kandidat. Und ein gefährlicher: Zwar breitet es sich bislang nicht von Mensch zu Mensch aus, aber für die meisten Menschen, die sich bisher bei Tieren angesteckt haben, war das Virus tödlich. Die WHO rechnet deshalb im Pandemiefall mit 50 Millionen Toten.

Panikmache? Nein, sagt Davis, unter den der­zeitigen globalen Bedingungen ein erschreckend realistisches Szenario. Die im letzten Jahrzehnt rasant gewachsene Geflügelindustrie in Südostasien bietet den Viren ideale Mutationsbedingungen. Gleichzeitig leben in der Nachbarschaft der Hühnerfabriken mit 50 000 Tieren weiterhin viele Menschen in engem Kontakt mit den Tieren, was eine Übertragung auf den Menschen begünstigt. Von diesen exportorientierten Regionen aus hätte ein Pandemievirus gute Chancen, sich schnell auszubreiten. Die meisten Opfer würde das Virus in den Slums von Megastädten wie Mumbai oder Nairobi fordern.

Dabei müsste eine verheerende Grip­pewelle heute kein unentrinnbares Schicksal mehr sein, wie Davis dar­zulegen versucht. Um eine Pandemie einzudämmen, sind im Wesentlichen drei ­international ­koordinierte Maßnahmen nötig. Erstens muss die Entwicklung der Viren genau beobach­tet werden, um rechtzeitig reagieren zu können. Zweitens müssen genügend Produktionskapazitäten vorhanden sein, um in kurzer Zeit große Mengen Impfstoffe zu produzieren. Und drittens müssen genügend wirksame Antivirenmittel vorrätig sein, um Leben zu retten, so lange noch kein Impfstoff vorhanden ist.

In allen drei Punkten sieht es, glaubt man Davis, derzeit schlecht aus. Erstens wurde das Auftauchen der Vogelgrippe immer wieder vertuscht, um die Exporte der Geflügelindustrie nicht zu gefährden. Davis’ Lieblingsrepräsentant für den »globalen Agrokapitalismus«, der eine menschenfreundliche Gesundheitsvorsorge verhindert, ist Charoen Pok­phand (CP), ein Konzern mit Sitz in Bangkok. CP betreibt riesige Hüh­ner­farmen nicht nur am Stammsitz Thai­land, sondern z.B. auch in China. Als im Oktober 2003 in Thailand und Chi­na die Vogelgrippe ausbrach, machte CP noch schnell gute Geschäfte. Die Regierungen verheimlichten den Ausbruch, während in den Verarbeitungsanlagen von CP Überstunden geleistet wurden. Thailändische Gewerkschafter machten den Skandal schließlich öffentlich. »Unser Job ist es, die Vögel zu zerlegen. Es war offensichtlich, dass sie krank waren: Ihre Or­gane waren geschwollen. Wir wussten nicht, was das für eine Krank­heit war, aber uns war klar, dass das Management die Verarbeitung der Hühner beschleunigte, bevor eine tierärztliche Kontrolle ins Haus stand. Im Oktober hörten wir auf, Hühner zu essen.«

Die Hühner starben längst auch in China, Japan und Vietnam. Während die Behörden den Ausbruch noch leugneten, schlug eine Hanoier Ärztin Alarm, weil Kinder an Symp­tomen einer seltsamen Virus-Lungenentzündung starben. Nach weiteren Todesfällen baten endlich am 5. Januar 2004 vietnamesische Gesundheitsbeamte die WHO um Hilfe. Zumindest Vietnam schien aus dem Vorfall gelernt zu haben und kooperier­te mit der WHO. Als das Land allerdings um finanzielle Unterstützung für den Aufbau eines Frühwarnsystems bat, stieß es bei der EU und den USA auf taube Ohren.

Die zweite Säule der Pandemievorsorge, die Impfstoffforschung und -produktion, leidet unter der zunehmenden Privatisierung des Gesundheitssystems. Die Vorsorge gegen Infektionskrankheiten lohnt sich nicht. Produktionskapazitäten für Impfstoffe auf Verdacht zu schaffen, hat wirtschaftlich nur einen Sinn, wenn der Staat die Abnahme garantiert. Doch solche staat­lichen Aufträge lassen die Firmen auf Zeit spielen, sie werden auch ihre veralteten Impfstoffe los und müssen nicht in verbesserte Produk­tionsmethoden investieren. Genüsslich zitiert Davis die New York Times: »In einem An­flug nahezu marxis­tischer Einsicht« spreche die Zeitung von der »chronischen Unverein­barkeit von Bedürfnissen im öffentlichen Gesundheitswesen und der privaten Kontrolle bei der Produktion von Impfstoffen und Medi­kamenten«.

Im dritten Punkt steht der Schweizer Pharmakonzern Roche einer globalen Grippevorsorge im Weg. Die Firma hält die Lizenz für Tamiflu – derzeit vermutlich das beste Medikament, um die Vermehrung eines Grippevirus zu verlangsamen. Ihre Produktionskapazitäten sind aber sehr begrenzt. Während die WHO eine weltweite Bevorratung mit dem Medikament für 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung empfiehlt, was 1,6 Mil­liarden Packungen bedeuten würde, konnte die Firma 2004 nur acht Millionen Einheiten herstellen. Lange weiger­te sich Roche, Lizenzen an andere Hersteller zu vergeben.

Davis’ Bilanz lautet: Es gibt eine tödliche Gefahr. Sie geht weniger von den Schwänen auf Rügen aus als von einer Kombination aus Massentierhaltung und Armut, globalem Pharmabusiness und bornierten Nationalstaatsinteressen.

Bisher scheinen wir einfach Glück gehabt zu haben. Erst jetzt beginnen die Regierungen langsam, auf die Appelle der WHO und der Mahner wie Mike Davis zu reagieren. Viele euro­päische Länder haben inzwischen Tami­flu-Vorräte angelegt. Selbst in die Impf­stoff­produktion soll wieder mehr Geld gesteckt werden. Und vorige Woche kündigte Roche einen Kurswechsel an. Mit Hilfe von Partnern und der Lizenzvergabe an chinesische und indische Firmen will man die Produktionskapazitäten für Tamiflu von 55 Millionen auf 400 Millionen erhöhen. Vielleicht beruhigend für die Menschen in London, Paris und Tokio. Die Opferzahlen in Mumbai, Kairo oder Nairobi wird diese Art der Vorbereitung im Ernstfall kaum senken.

Der Ausbruch einer Grippepandemie, da ist sich Davis mit der WHO und den meisten Influenzaforschern einig, ist nur eine Frage der Zeit. Wie viele Opfer er fordern wird, ist eine Frage der Politik.