Work hard, stay poor!

Weil die Tariflöhne in manchen Branchen erbärmlich sind oder gar nicht erst gezahlt werden, fordern die Gewerkschaften einen Mindestlohn. Die Unternehmer lehnen ihn ab. von alexander wriedt

Hans-Olaf Henkel ist empört: »Kompletter Unsinn« sei der Plan, einen einheitlichen Mindestlohn einzuführen, diktierte der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie einem Reporter der Berliner Boulevardzeitung B.Z. in den Block. Ein solcher Lohn werde nicht am Markt festgelegt, »sondern irgendwie am Kabinettstisch oder durch irgendwelche Gremien. Das ist so verrückt«, erläuterte Henkel sein Urteil in einem Radiointerview.

Geht es nach ihm, ist Deutschland von Verrückten umzingelt. 18 Staaten Europas, darunter marktliberale Länder wie Großbritannien und Irland, haben den gesetzlichen Mindestlohn. In Westeuropa müssen die Unternehmen fast überall zwischen sieben und acht Euro zahlen. Lediglich Luxemburg und Spanien fallen mit 8,69 Euro beziehungsweise 3,78 Euro aus dem Rahmen.

Spätestens mit der von den Gewerkschaften Verdi und Nahrung-Genuss-Gaststätten ins Leben gerufenen »Initiative Mindestlohn« ist die Diskussion auch in Deutschland angekommen. 7,50 Euro, für weniger soll niemand in Deutschland arbeiten müssen. Weniger als 7,50 Euro? Gibt es das überhaupt? Ungläubig blieben viele Passanten stehen, als kürzlich unter großem Medienaufgebot das erste Plakat der Kampagne vor dem Reichstag in Berlin enthüllt wurde. Andere erinnerten sich vielleicht an die Reportage der Journalistin und Schriftstellerin Barbara Ehrenreich, die sich in einem Selbstversuch mit einer Reihe schlecht bezahlter Jobs, etwa als Kellnerin, in den Vereinigten Staaten durchschlug, um festzustellen, dass man bettelarm sein kann trotz einer siebentägigen Arbeitswoche.

Solche Zustände haben auch in Deutschland Einzug gehalten. Stundenlöhne von vier bis sechs Euro sind bereits keine Seltenheit mehr, insbesondere in den hoffnungslosen Regionen im Osten, etwa in Nordvorpommern. Besonders schlimm ist die Bezahlung, wie Ehrenreich auch in den USA beobachtete, in den Dienstleistungsbranchen.

Eine wachsende Gruppe von Geringverdienern sind zum Beispiel die Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen. Im Schichtbetrieb bewachen sie Bahnhöfe, sitzen in den Foyers von Bürogebäuden, transportieren Bargeld oder passen in Fußballstadien und Konzerthallen auf – für rund sechs Euro Stundenlohn. »Die Löhne gehen teilweise auf 3,42 Euro pro Stunde runter«, sagt Günter Isemeyer von Verdi. Zum niedrigsten Tarif rackern sich Kellner, Zimmermädchen, Hotelpagen und Köche für 900 Euro (5,20 Euro pro Stunde) im Osten und für 1 100 Euro (6,35 Euro pro Stunde) im Westen ab. Werden unbezahlte Überstunden fällig, sinkt der Lohn noch weiter. Das betrifft jedoch nur die »Glücklichen«, die überhaupt nach Tarifvertrag bezahlt werden. Denn von 18 regionalen Tarifverträgen im Hotel- und Gaststättengewerbe sind zwölf zurzeit gekündigt.

Das Beispiel der Hotel- und Gaststättenbranche ist symptomatisch: Sind einem Unternehmerverband die ausgehandelten Löhne zu hoch, dann kündigen sie eben den Tarifvertrag. Der Mitgliederschwund der Gewerkschaf­ten und der weit verbreitete Irrtum, deut­sche Unternehmen seien wegen zu hoher Löhne nicht wettbewerbsfähig, schwächen die Vertre­ter der Lohnabhängigen in den Verhandlungen. Im Bäckergewerbe haben die Unternehmer im Jahr 2005 in drei Bundesländern die zwi­schen den Bäckerinnungen und der zuständigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gast­stätten geschlossen Manteltarifverträge ge­kündigt. Die Folge ist: Nach einer dreijährigen Bä­cke­rei­fachaus­bil­dung müssen viele Angestellte für fünf Euro pro Stunde arbeiten.

Der immer wieder geforderte Niedriglohnsektor besteht also bereits, und zwar vielerorts außerhalb jedes Tarifvertrags. Kein Wunder, dass die Unternehmer wenig Lust verspüren, sich auf einen gesetzlichen Mindestlohn einzulassen. »Ein gesetzlicher Mindestlohn ist grund­sätz­lich der falsche Weg«, sagte ein Sprecher des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) kurz und bündig. Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, weiß die Ängste in der Bevölkerung zu schüren: »Mindestlöhne würden mindestens einen Teil dieser Arbeitsplätze, die vorrangig von gering Qualifizierten und in Ostdeutschland besetzt werden, vernichten.« Zudem fördere ein gesetzlicher Mindestlohn die Schwarzarbeit.

Tatsächlich sind in den neunziger Jahren »arbeitsintensive«, d.h. anstrengende und gleichzeitig leicht erlernbare Tätigkeiten ins Ausland verlagert und somit »deutsche Arbeitsplätze vernichtet« worden. Doch diese Entwicklung wäre ohne eine weitgehende Abschottung der europäischen Märkte sowieso nicht aufzuhalten gewesen. Denn gegen Länder wie China, Vietnam und Indien mit Stundenlöhnen um 50 Cent sind sogar die osteuropäischen Staaten Hochlohnländer. Dabei liegt der Mindestlohn in Polen gerade einmal bei 1,35 Euro.

Die Unternehmer verschweigen jedoch, dass sich die meisten der miserabel bezahlten Dienstleistungen nicht ins Ausland verlagern lassen. Friseure können schlecht von China aus in München oder Hamburg Haare schneiden, und Hotelbetten lassen sich nicht zum Wäschewechseln mal kurz nach Indien schicken. In diesen Bereichen konkurrieren die inländischen gar nicht mit ausländischen Löhnen. Auch die Behauptung, hohe Löhne trieben die Rationalisierung voran, ist zweifelhaft. Denn viele Tech­no­logien, insbesondere die com­putergestütz­ten, sind über die Jahre so billig und effizient geworden, dass nur absolute Hungerlöh­ne ihre Einführung unterbunden hätten. Und Länder wie Großbritan­nien zeigen, dass trotz eines Mindestlohns von 7,36 Euro pro Stunde (ab Oktober 7,71 Euro) annähernd Vollbeschäftigung herrschen kann.

Dass eine Förderung des Nie­drig­lohn­sek­tors, also die gezielte Schaffung eines Arbeitsmarktes, wo die Mitarbeiter deutlich weniger als die bereits derzeit vielfach gezahlten vier bis fünf Euro pro Stunde verdienen, tat­sächlich die Unternehmer dazu bewegt, mehr Menschen einzustellen, ist zweifelhaft. Davon geht beispielsweise Hans-Werner Sinn, der Präsident des Ifo-Instituts, aus. Er verweist dabei auf die Erfahrung in anderen Ländern, namentlich den USA. Ihn beeindruckten dort die Heerscharen von Tütenpackern im Supermarkt, Straßenfegern und Kofferträgern, die er in Deutschland vermisst. Als Hauptursache für das Fehlen dieser Jobs macht er die Höhe des Arbeitslosen­geldes II verantwortlich, das letztlich eine Art Mindestlohn darstelle. Niemand suche sich eine Arbeit, für die der Lohn niedriger sei als diese Hilfe. Da mag etwas dran sein. Doch wenn man in Betracht zieht, dass der Regelsatz für einen Alleinstehenden gerade einmal 345 Euro beträgt und sich mit dem gewährten Mietzuschuss von ungefähr 300 Euro auf rund 650 Euro summiert, kann man sich ausrechnen, wie niedrig die Löhne nach seiner Meinung ausfallen müssten.

Für wie wenig Geld soll ein Mensch in Deutschland arbeiten müssen? Egal. Hauptsache, sein Stolz bleibt gewahrt. Dafür sorgen diverse Kampagnen, die von der Industrie großzügig unterstützt wurden und werden. Auch du, lieber Schuhputzer, bist Deutschland!