Es ist messbar

Lange Zeit einander feindlich gesinnt, bewegen sich Psychoanalyse und Neurowissenschaften aufeinander zu. Doch Freuds Psychoanalyse ist auch ein Instrument der Gesellschaftskritik, von der die Neurobiologie allerdings nichts wissen will. von ferdinand muggenthaler

Religionen bezeichnete Sigmund Freud als eine Form von »Massenwahn«. Wenn er von der Seele sprach, war für ihn klar, dass es sich dabei um eine Funktion des Gehirns handelte. Der Begründer der Psychoanalyse war Materialist. Bevor er seine Theorie der Psyche entwickelte, suchte er selbst mit Seziermesser und Mikroskop im Gehirn verstorbener Patienten nach organischen Ursachen für psychische Krankheiten. Bald musste er aber erkennen, dass er auf diese Weise kaum eine Chance hatte, erhellende Einsichten zu gewinnen. Trotzdem glaubte er, schlussendlich werde »ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen.«

Umgekehrt schien es lange so, als wollten diejenigen, die technisch immer tiefer in die Hirnstruktur eindrangen, nichts von Freud wissen. Zum Beispiel behaupteten bis vor kurzem die meisten Hirn­forscher, Träume seien nichts als bedeutungsloses Rauschen im Stammhirn. Da aber das Stammhirn nicht an höheren Funktionen des Gehirns beteiligt sei, sei auch die Traumdeutung à la Freud bedeutungslos.

Allerdings war die Datenbasis, mit der die Hirnforscher die Freudschen Hypothesen über die Arbeitsweise der Psyche wegwischen wollten, recht klein. Noch heute können die Neurologen mit ihren Methoden mit einem Thema wie den Inhalten von Träumen kaum etwas anfangen. Und das, obwohl die Verfahren, mit denen Hirnforscher versuchen, unter die Schädeldecke zu schauen, in den vergangenen Jahren immer ausgefeilter geworden sind. Insbesondere moderne bildgebende Verfahren wie Positronen-Emissions- und funktionelle Magnetresonanztomografie lassen die Hirnforscher selbstbewusster werden.

Diese Verfahren zeigen bis auf den Millimeter genau, welcher Bereich des Hirns bei einer be­stimmten Tätigkeit besonders aktiv ist. Dazu legen die Forscher beispielsweise Probanden in einen speziellen Kernspintomografen, wie man sie inzwischen aus dem Krankenhaus kennt, und lesen ihnen Worte vor. Bei besonders emotionsbehafteten Begriffen zeigen die bunten Bilder, die der Apparat liefert, dass besonders viel Sauerstoff in einem bestimmten Hirnbereich, der Amygdala, verbraucht wird. Aus solchen Experimenten schließen die Forscher, dass in der Amygdala der emotionale Gehalt von Erinnerungen erzeugt wird. Mit der gleichen Methode versucht inzwischen das so genannte Neuro-Marketing herauszufinden, welche Werbebotschaft die Kundschaft besonders anspricht.

Von ihren Erfolgen beflügelt, meldeten im Jahr 2004 führende Hirnforscher mit einem Manifest ihren Führungsanspruch in den Humanwissenschaften an. Sie prophezeiten, dass ihre Erkenntnisse schon bald zu einer »Veränderung unseres Menschenbilds« führen würden. In kurzer Zeit wollten sie das »kleine Einmaleins des Gehirns« entschlüsselt haben und daraus »strenge Hypothesen zum Studium über­geordneter Hirnfunktionen« ableiten. In 20 oder 30 Jahren schließlich werde sich widerspruchsfrei zeigen lassen, dass Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit auf biologischen Prozessen beruhten.

Obwohl sie damit nichts anderes als die von Freud erhoffte »organische Begründung des Seelischen« vorhersagten, klang alles danach, als seien Freuds oft in mythologischer Sprache abgefasste Spe­ku­la­tio­nen über die Funktionsweise der Psyche hinfällig – zumindest für überzeugte Neurobiologen. Doch inzwischen entdecken einige aus der Zunft, dass ihnen Freud dabei helfen kann, ihren bunten Bildern Sinn einzuhauchen. Und einige Psychoanalytiker erkennen ihrerseits Anknüpfungspunkte an die populäre Hirnforschung.

Beispielsweise scheint die Traumdeutung aus neurobiologischer Sicht nicht mehr so abwegig. So hat man entdeckt, dass für Träume auch eine Hirnregion nötig ist, die das »Belohnungs- und Such­system« genannt wird. Ist bei Menschen dieser Bereich zerstört, träumen sie nicht mehr und sind im Wachzustand seltsam antriebslos. Das passt ganz wunderbar zur Freudschen Vorstellung, geheime Wünsche spielten die zentrale Rol­le in unseren Träumen.

Andere Experimente gelten als Bestätigung des überwältigenden Einflusses des Unbewussten. Den klassischen Versuch zu dem Thema führte Benjamin Libet bereits in den siebziger Jahren durch. Er forderte seine Probanden dazu auf, zu einem frei gewählten Zeitpunkt den Finger zu krümmen, und maß die Gehirnaktivität. Das Ergebnis war folgendes: Schon eine halbe Sekunde bevor die Versuchsperson glaubte, sich zu entscheiden, bereitete das Gehirn die Bewegung vor. Verfeinerte Methoden bestätigten inzwischen das Prinzip und legen den Schluss nahe: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun. Allerdings kann offenbar eine bewusste Ent­scheidung den unbewussten Impuls noch stoppen. Frei nach Freud: Das dem Realitätsprinzip verpflichtete »Ich« kann dem triebhaften »Es« noch in den Arm fallen.

Auch die von Freud beobachtete tiefgreifende Prägung in der frühen Kindheit kann die Hirnforschung bestätigen. Inzwischen können Hirnforscher »sehen«, dass frühkindliche Traumata die Funktionsweise des Gehirns verändern.

Ein Forschungsansatz dürfte Psychoanalytiker, die in Zeiten klammer Krankenkassen ihre kostspielige »Redekur« rechtfertigen müssen, besonders hoffnungsvoll stimmen. Die Wirkung der Psychoanalyse scheint mit Hirnscans nachweisbar. Bei Depressiven beispielsweise zeigen Tomografiestudien einen inaktiven cingulären Cortex, ein Areal, das normalerweise an­springt, wenn ein Mensch in Schwierigkeiten gerät. Nach einer erfolgreichen Therapie zeigt das Hirn wieder die gewöhnlichen Aktivitätsmuster.

Zwar sind die Verbindungen zwischen Freud und der modernen Hirnforschung schwach und oberflächlich, und manche Hirnstudie lässt sich genauso gut gegen Freud verwenden. Trotzdem sind die Zeiten vorbei, in denen sich Psychoanalyse und Hirnforschung feindlich gegenüberstanden. In den vergangenen Jahren hat sich sogar ein Forschungszweig etabliert, der sich Neuro-Psychoanalyse nennt. Sein prominentester Vertreter ist der Neuropsychologe und Psychoanalytiker Mark Solms. Für ihn ist die Freudsche Psychoanalyse »ein wunderbares Instrument, eine Art Heuristik, die es erlaubt, Hypothesen zu entwickeln«. Zur Überprüfung dieser Hypothesen bedürfe es aber der Methoden der Hirnforschung.

Es wird interessant sein zu beobachten, welche Experimente sich die Neuropsychologen noch ausdenken, um Freuds Seelenmodell zu überprüfen. Einen wichtigen Teil seines Werks aber berührt diese Suche nach den Grundlagen der Psyche in Synapsenaktivitäten, Hormonausschüttungen und konkurrierenden Gehirnarealen gar nicht: die Psychoanalyse als Gesellschaftskritik. Freud suchte nach den Sedimenten gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in der Psyche des Individuums. Er untersuchte »die Regression der seelischen Tätigkeit auf eine frühere Stufe« in der Kirche und der Armee, und er glaubte an die Selbst­aufklärung als Mittel gegen ein solches Aufgehen in der »Massenseele«. Dazu haben die Hirn­forscher bisher nichts beizutragen. Ein Kernspintomograf, der die Aktivitäten des Über-Ichs visualisiert, ist noch nicht erfunden.