Genealogie der Philosophie

Happy Family XII

Ob aus dem Kind, das besonders lange an der Brust der Mutter saugt, ein besserer Mensch oder wenigstens ein guter Esser wird, hängt wohl von der Süße der Milch ab. Die Frau, der Mann, die sich ihrer Vergangenheit mit Entzücken erinnern, denken doch anders über Gegenwart und Zukunft als diejenigen, die die Striemen des väterlichen Gürtels noch auf ihrem Rücken spüren.

Immanuel Kant diktierte seinem Biographen in die Feder: »Nie, auch nicht ein einziges Mal, hab’ ich von meinen Eltern etwas Unanständiges anhören dürfen, nie etwas Unwürdiges gesehen.« So hielt er es dann in seinen Mannesjahren selbst. Er mied das Unanständige und Unwürdige und blieb Familie und Königsberg treu. Hegel war ein Musterschüler, was seiner eigenen Schulmeisterei wohl nicht im Wege stand. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Ernst Bloch bewahrten ihre behütete Kinder- und Jugendzeit im Gedächtnis. Dass diese auf ihr Denken keine Auswirkung gehabt hätte, wird wohl niemand ernsthaft behaupten. Ja, mir scheint, dass nicht nur die Frankfurter Utopie, sondern auch die Frankfurter Kritik von dem bitter-süßen Gefühl getragen ist, es gebe keine Hausmusik mehr.

Nun stelle man sich einen Leser vor, der nicht Hausmusik genossen, sie aber auch keine Sekunde vermisst hat, der sich zur Schule wie zu einem Schafott schleppte, dessen Vater und Mutter ihm zwar herzensgut erschienen, der es aber als unanständig empfunden hat, dass sie seine Eltern waren, und als unwürdig, dass er ein Sohn sein musste, ja, der die ganze goldene Kinderzeit allzu gerne in das Blei der Gegenwart umschmölze. Wird ein solcher Benjamins Verse: »O braungebackne Siegessäule/mit Winterzucker aus den Kindertagen« auf den Lippen tragen? Vielleicht schon, aber begreifen wird er sie nicht.

So unbegreiflich waren mir lange Zeit die Philosophen mit der schönen Kindheit und aus den guten Familien. Aber noch in meines Vaters Haus las ich mit Zustimmung auf den ersten Seiten von Max Stirners Kampfschrift, für den Vernünftigen sei die Familie keine Naturgewalt, es zeige sich bei ihm bald eine »Absagung von Eltern, Geschwistern usw.« Später vertiefte ich mich in Ludwig Wittgenstein, der Erziehung stets »Abrichtung« nennt und selbst der schlechteste Erzieher nördlich der Alpen war. Und so ging es weiter, Louis Althusser, Thomas Hobbes, auch Sigmund Freud … Ich fühlte mich bei Philosophen wohl, die an ihre Kindheit mit Unbehagen denken und wohl auch deshalb von Utopie nichts halten.

Die Philosophen, die sich ihrer Kurze-Hosen-Zeit mit Rührung erinnern, von solchen zu unterscheiden, die lieber lange Hosen tragen, mag ebenso müßig sein wie in kurzsichtige und weitsichtige einzuteilen. Es kommt ja gerade darauf an, auch solche lesen zu lernen, die etwas ganz anderes erlebt haben. Aber manche Wege sind eben kürzer, und Alt­husser musste mir gar nicht erst erläutern, weshalb es ein Glück ist, nicht mehr unter dem »schrecklichen, entsetzlichen und dem fürchterlichsten aller ideologischen Staatsapparate« leben zu müssen, welcher in »einer Nation, in der der Staat existiert, die Familie ist«.

stefan ripplinger