Neutralität und Massenmord

Der niederländische UN-Einsatz in Srebrenica geriet zum Debakel. Bosnische Frauen, deren Angehörige getötet wurden, wollen nun die niederländische Regierung und die UN verklagen. von kerstin eschrich

Neutralität gilt als wichtige Voraussetzung, wenn UN-Truppen die Kriegsparteien trennen und den Frieden sichern sollen. Auch die niederländischen Blauhelme, die im Jahr 1994 in die bosnische Enklave Srebrenica verlegt wurden, sollten nicht Partei ergreifen. »Politisch kann ich das verstehen, aber strikte Neutralität zieht auch nach sich, dass die Soldaten während der UN-Mission von der stärkeren Seite abhängig sind«, sagt der Autor Chris Keulemans, der seit vielen Jahren zu den Kriegsverbrechen in Srebrenica arbeitet. »Das war beispielsweise in Sarajewo so, als die Serben den Zugang zur Stadt kontrollierten und damit auch die UN-Mission etwa bei Lebensmittellieferungen von deren gutem Willen abhängig war.«

Ähnliche Vorgänge hat Keulemans auch in Srebrenica beobachtet. Nach dem Fall der Enklave im Juli 1995 sollen dort serbische Soldaten etwa 7 000 unbewaffnete Männer ermordet haben. Die Angehörigen der Ermordeten werfen der niederländischen Regierung vor, die UN-Soldaten hätten tatenlos zugesehen, als Ratko Mladic und seine Armee die Männer von Srebrenica zur Massenexekution aus der Stadt trieben.

Keulemans war vor zwei Jahren in Srebrenica. Das Gebäude, in dem die Soldaten untergebracht waren, steht noch, gegenüber einem riesigen Friedhof. In der ehemaligen Unterkunft sah er üble Schmierereien, mit denen die Bewohner der Stadt verunglimpft und herabgesetzt wurden. »Sprüche wie: ›Keine Zähne? Schnurrbart? Stinkt nach Scheiße? – Bosnisches Mädchen!‹ fanden sich dort. Einheimische Frauen wurden von niederländischen Soldaten im Tausch gegen eine Schachtel Zigaretten vergewaltigt.« Keulemans konstatiert, dass die Empathie der niederländischen Soldaten für die Bewohner Srebrenicas sehr schnell umschlug in ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den »elenden, stinkenden Armutsgestalten«. Für diese heruntergekommenen Wesen auch noch niederländische Leben zu opfern, sei dann offenbar als nicht angemessen betrachtet worden.

Zur Zeit läuft in Den Haag vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal zu Ex-Jugoslawien der bisher größte Prozess wegen der Massaker in Srebrenica. In diesem Rahmen sollen auch niederländische Soldaten und Offiziere vernommen werden. Es ist aber nicht damit zu rechnen, dass sie ihre Vorgesetzten wegen unterlassener Hilfeleistungen belasten.

Den sieben Angeklagten, ehemals ranghohe Offiziere, wird unter anderem Völkermord vorgeworfen. Der ehemalige bosnisch-serbische General Mladic und der damalige bosnisch-serbische Präsident Radovan Karadzic sind weiterhin auf der Flucht.

Am siebten Verhandlungstag bleibt der Zuschauerraum fast leer. Prozesse, in denen es um Ereignisse geht, die viele Jahre zurückliegen, stellen an alle Beteiligten besondere Anforderungen. Die Anklage sieht sich genötigt unter Beweis zu stellen, dass ihr Zeuge Mevludin Oric, der den Tötungen nur knapp entkommen konnte, sich noch gut an die Ereignisse erinnert. Dem heute 36jährigen Mann aus Bosnien werden Zeichnungen vorgelegt, die er kurz nach dem Geschehen angefertigt hat. Er kann sich noch an Einzelheiten erinnern, weiß aber nicht, wer die englischen Bezeichnungen auf die Papiere geschrieben hat. Er versteht diese Sprache nicht. Zugleich schildert er detailliert, wie bosnische Männer von serbischen Einheiten abgefangen, in einer Turnhalle zusammengepfercht und ermordet wurden.

Nach seinen Angaben überlebte er, weil mehrere Getötete, darunter sein Cousin, auf ihn fielen. Als direkt neben ihm ein verletzter Mann mit einem Kopfschuss getötet wurde, sei er ohnmächtig geworden. Er und ein anderer Mann seien die einzigen Überlebenden gewesen. Er geht davon aus, dass während dieser Massenexekution 2 000 Männer getötet wurden. Die Rechtsanwälte der Angeklagten versuchen, ihn im Kreuzverhör als unglaubwürdigen Zeugen und zähen Militär, der zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme kein Zivilist gewesen sei, darzustellen.

Dieser Prozess ist, obwohl das Interesse der Öffentlichkeit stark nachgelassen hat, wichtig für die Angehörigen der Opfer, ebenso wie für die gesamte Region, insbesondere nach dem Tod von Slobodan Milosevic. »Die Verhandlung ist mehr als ein juristisches Verfahren über Kriegsverbrechen und Genozid. Es begann nicht vor einigen Tagen, sondern im Mai 1996 mit dem Schuldbekenntnis des einfachen Soldaten Drazen Erdemovic, Verbrechen gegen die Menschheit, insbesondere in Srebrenica, begangen zu haben«, sagt ein Mitglied des Büros der Anklagevertretung.

Derweil bereiten Anwälte einen weiteren Prozess vor einem niederländischen Gericht vor. Die Kanzlei von Marco Gerritsen hat nach reiflicher Überlegung das Mandat von 7 922 Frauen übernommen, die Klage wegen der Tötung ihrer Angehörigen erheben wollen. Sie wollen die niederländische Regierung und die UN verklagen, um deren Mitverantwortung für den Fall der Enklave gerichtlich feststellen zu lassen. Denn erst nach dem Zusammenbruch der Verteidigung von Srebrenica war die Gefangennahme der männlichen Bewohner möglich geworden.

Eigentlich wollten die Frauen auf eine juristische Auseinandersetzung verzichten. Aber die niederländische Regierung machte in den vergangenen Jahren klar, dass sie an einer außergerichtlichen Einigung, die auch das Eingeständnis einer Mitschuld beinhaltet hätte, nicht interessiert ist.

Frühestens im November sollen die Klagevorbereitungen abgeschlossen sein. »Wir werden etwa zehn Frauen auswählen, die selber klagen, und es gibt eine Stiftung, die im Namen der anderen Frauen vor Gericht geht. Uns ist wichtig, das Schicksal der Frauen der Anonymität zu entreißen«, argumentiert Gerritsen. »Die Frauen wollen, dass jemand sagt, ›wir haben einen Fehler gemacht‹.« Erst danach gehe es um materielle Schadensersatzleistungen, sofern der Verlust eines geliebten Menschen überhaupt damit »entschädigt« werden kann.

Die niederländische Regierung hat es bisher vermieden, direkt an die Angehörigen der Ermordeten Gelder zu zahlen. Und das nicht ohne Grund, denn solche Zahlungen implizieren ein Schuldeingeständnis.

Der angestrebte Prozess stellt einen einmaligen Vorgang in der Rechtsgeschichte der Niederlande und auch auf internationaler Ebene dar. Ein derartiger Prozess und vor allem ein Ausgang im Sinne der Klägerinnen kann natürlich nicht im Interesse der Uno sein, zumal es weitere Fälle gibt, bei denen anwesende UN-Truppen angesichts von Massakern Neutralität wahrten, wie etwa in Ruanda. Zudem würde das Bild der UN-Missionen als Friedenseinsätze nachhaltig erschüttert werden.

Mit dem Rücktritt der Regierung im Jahr 2002, nachdem der Untersuchungsbericht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation erschienen war, ist für viele Niederländer das Kapitel Sebrenica abgeschlossen. »Der Rücktritt war eine so große symbolische Geste, die einen definitiven Schlussstrich setzte, dass danach nichts mehr möglich war«, sagt Keulemans. In dem Bericht wurde die Schuld an dem Massaker Mladic und dessen Armee angelastet. Aber niederländischen Offizieren und Politikern wurden mangelnde Vorbereitung, schlechte Kommunikation und chaotisches Verhalten vorgeworfen. Premierminister Wim Kok erklärte daraufhin, die Niederlande trügen zwar nicht die Schuld an dem Verbrechen, aber er wolle mit seinem Rücktritt Verantwortung für das Zustandekommen einer Situation übernehmen, in der so etwas stattfinden konnte.

Für Keulemans ist das Debakel der niederländischen UN-Mission in Srebrenica auf das Gefühl moralischer Überlegenheit zurückzuführen, das die Truppe leitete. »Idealismus und die Überzeugung, Teil einer vorbildlichen Demokratie zu sein, ließ die Soldaten an der brutalen Realität des Krieges scheitern.«