Toleranz und Ignoranz

Haben sich die Niederlande vom Modell einer liberalen Gesellschaft verabschiedet? Eine Bestandsaufnahme von wessel keuper

Das Jahr 2002: Der populistische Politiker Pim Fortuyn wird ermordet. 2004: Der Filmemacher Theo van Gogh, der sich abwertend über den Islam geäußert hat, wird von einem islamischen Fundamentalisten erstochen. Und schließlich 2006: Die Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali, eine Freundin von van Gogh, wird ausgebürgert. Was haben diese drei Fälle miteinander gemein? Es geht um unkonventionelle Ansichten über die niederländische Immigrations- und Integrationspolitik, und alle drei Protagonisten haben mit ihren Äußerungen großes Aufsehen erregt.

Im Ausland fragte man sich mit einem Mal: Sind die braven Holländer verrückt geworden? Droht an der Nordsee die Entstehung einer xenophoben Republik – ausgerechnet dort, wo man seit jeher so großen Wert auf Toleranz gelegt hatte? Was ist schief gegangen und warum? Hat es nur mit dem Islam zu tun, oder gibt es auch andere Ursachen? Ist die niederländische Bevölkerung fremdenfeindlicher geworden?

Es ist tatsächlich allerhand schief gegangen in den Niederlanden, aber wohl nicht in dem Ausmaß, wie es zumeist dargestellt wurde. Die meisten Holländer beziehen sich noch immer positiv auf das Bild, das sie von ihrem Land haben: die historische Handelsnation, die nie den Kontakt mit fremden Kulturen gescheut hat. Holländer sind noch immer reiselustig und offen und – in der Mehrheit – gastfreundlich. Man beherrscht eine oder sogar zwei Fremdsprachen überdurchschnittlich gut. In Holland wohnen viele Deutsche, Engländer und Amerikaner. Sie arbeiten hier, heiraten und sind zufrieden. Von einer allgemeinen Fremdenfeindlichkeit kann kaum die Rede sein.

Und dennoch gab es immer Probleme in den verschiedenen Phasen der Einwanderung. Etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kolonien unabhängig wurden und viele Menschen von dort in die Niederlande kamen: aus Indonesien, das 1949 unabhängig wurde, aus Surinam, das dies 1975 erreichte. Diese Zuwanderer aber beherrschten die niederländische Sprache und konnten sich meist schnell integrieren. Ab Mitte der sechziger Jahre erlebte Holland eine ähnliche Arbeitsmigration aus Süd­europa wie die Bundesrepublik Deutschland. Dazu kamen seit jeher politische Flüchtlinge aus aller Welt. Im Allgemeinen war man sich in den Niederlanden sicher, dass sich die Einwanderer integriert und ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatten.

Die Asylgesetzgebung in den Niederlanden jedoch war immer widersprüchlich. Viele Tausende von Flüchtlingen lebten jahrelang mit einem unsicheren Status im Land, und in einigen Fällen wurden Menschen nach fast zehnjährigem Aufenthalt ausgewiesen. 2001 wurde das Asylgesetz verschärft, was dazu führte, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Anträge auf Asyl dramatisch gesunken ist.

Außerdem gab es politischen Streit darüber, ob die rund 26 000 Asylsuchenden, die bereits jahrelang ohne sicheren Status im Land leben und deren Anerkennungsverfahren bereits vor dem Jahr 2001 eröffnet wurden, grundsätzlich anerkannt werden sollen. Diese Diskussion ist vergleichbar mit der Auseinandersetzung über eine »Altfallregelung« in Deutschland. Die seit dem Jahr 2002 regierende christdemokratisch-liberale Regierung unter Jan Peter Balkenende hat solch eine Regelung immer abgelehnt. Abgesehen von der Frage, wie mit den 26 000 »Altfällen« verfahren werden soll, ist die Asylgesetzgebung in der niederländischen Bevölkerung jedoch kaum umstritten.

Eine andere Schwierigkeit ergab sich mit der Arbeitsmigration seit den siebziger Jahren. Ein großer Teil der Arbeitsmigranten, die seit dieser Zeit nach Holland kamen, stammt aus dem Rif-Gebirge in Marokko. Sie sind bis heute am wenigsten integriert. Vor allem die ältere Generation bleibt zurück. Sie spricht, liest oder versteht kaum Niederländisch; das gilt vor allem für die Frauen.

Die größten Probleme haben derzeit aber wohl die jugendlichen Marokkaner der zweiten Generation. Zuhause meist traditionell erzogen, leben sie vor allem in der eigenen Community. Frühe Schulabbrüche, Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind unter diesen jungen Leuten weit verbreitet. Oft haben sie das Gefühl, kaum an der Gesellschaft teilzuhaben. In einem solchen Klima konnte nach dem 11. September 2001 zumindest Sympathie für den militanten Islamismus entstehen.

Die niederländische Regierung ist diese Probleme immer mit einem gewissen »Integrationsoptimismus« angegangen, hat sie manchmal ignoriert oder sich mit nicht gerade integrationsfördernden Kompromissen mit der marokkanischen Community zufriedengestellt. Erst langsam, etwa nach der Gründung mehrerer muslimischer Grundschulen, entsteht in Holland eine Diskussion über das einst schwer erkämpfte und im niederländischen Grundgesetz gesicherte Recht einer jeden politischen oder religiösen Strömung, eigene Grundschulen zu gründen.

Kritik an dieser Politik der Kompromisse gab es schon immer, sie kam aber meist von der extremen Rechten und war rassistisch motiviert. Der erste salonfähige Politiker, der sich an das Thema wagte, war Pim Fortuyn. Er kandidierte bei den Parlaments­wahlen im Jahr 2002 mit einer neugegründeten Partei, deren Programm sehr kritische Äußerungen über die Einbürgerungspolitik enthielt. Fortuyn warnte vor einem größer werdenden Einfluss des, wie er ihn nannte, »rückständigen« Islam auf die niederländische Gesellschaft.

Soll man aus all dem schließen, dass die niederländische Bevölkerung im Jahr 2006 in Angst lebt und sich dem Fremdenhass ergeben hat? Keineswegs. Am Arbeitsplatz, in der Schule und in der Nachbarschaft hat sich kaum etwas geändert. Von der Partei Fortuyns ist nicht mehr viel zu hören. Man gedenkt Theo van Goghs in Amsterdam, und Hirsi Ali ist nach Washington umgezogen. Die traditionellen Parteien aber haben sich die Standpunkte Fortuyns zum Teil übernommen. Nun entstehen neue Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums, keine davon kann jedoch derzeit mit einem »charismatischen« Politiker wie Pim Fortuyn aufwarten.

Wessel Keuper war Dozent für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule für Wirtschaft in Amsterdam und ist jetzt in der biologischen Landwirtschaft tätig. Er lebt im Beemster Polder.