Wir baggern den ganzen Tag

Wer Container lieber mag als Menschen, ist im Hafen von Rotterdam genau richtig. von regina stötzel, heiko von schrenk und deniz yücel

Minco van Heezen hat gern den Überblick. Zwar kann man aus dem Panoramafenster in der 17. Etage des World Port Center, dessen obere Stockwerke mehr als subtil der Kommandobrücke eines Schiffes nachempfunden sind, nur einen kleinen Teil des Hafens sehen. Dafür hängt an einer Wand eine riesige Luftaufnahme, die erahnen lässt, wie weitläufig das Gelände ist, das sich entlang der Maas erstreckt. Der Rotterdamer Hafen ist der drittgrößte der Welt, 40 Kilometer sind es von der Erasmus-Brücke im Stadtzen­trum bis zur Nordsee, für holländische Verhältnisse eine beachtliche Entfernung.

Mit dem Finger des Pressesprechers machen wir eine Rund­fahrt auf dem Luftbild. Wir verfolgen den Weg eines Schiffes vom offenen Meer durch die Fahrrinne zum Europort und von dort Richtung Rhein, fahren aus der Stadt hinaus zum Containerterminal an der Maas­vlakte und bauen den Hafen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in rasantem Tempo aus. Wir graben Hafenbecken um Hafenbecken und ringen dem Meer eine neue Landfläche nach der anderen ab. Wir konzipieren drei neue Ölterminals, bauen nach der Ölkrise von 1973 aber nur eines, das immer noch das größte der Welt ist. Auf die bestehende Infrastruktur können wir keine Rück­sicht nehmen. Unser Industriekomplex umschließt die Dörfer Pernis und Rozenburg am Süd­ufer der Maas. Neben unserer Werft bauen wir für unsere Arbeiter die Siedlung Heijplaat.

»Ich komme nicht oft aufs Schiff, nur zwei,- dreimal im Jahr«, sagt van Heezen. Aber er freut sich schon auf den 13. September. Dann wird das größte Containerschiff der Welt aus Dänemark erwartet, das 13 000 Stück laden kann. Um die kom­plette Ladung auf einen Schlag fortzu­schaf­fen, wären 6 500 LKW nötig, sagt er, und man merkt ihm die Begeisterung an.

Die Hafengesellschaft, die der Stadt Rotterdam und dem niederländischen Staat gehört, vermietet das Gelände an andere Unternehmen und sorgt für die Infrastruktur. Sie entwickele mit ihren Partnern »den europäischen Weltklassehafen schlechthin«, heißt es im Werbematerial. Van Heezen drückt das tägliche Geschäft prosaischer aus: »Wir baggern rund um die Uhr.« Schließlich müssen die Fahrrinnen frei gehalten werden, damit Schiffe mit einem Tiefgang von 20 Metern oder mehr passieren können. 23 Millionen Kubikmeter Sand und Schlacke würden jährlich ausgehoben, drei Millionen davon seien verseucht und müssten in der Deponie, dem »Slufter«, für die Ewigkeit bewahrt werden. Inzwischen arbeite die chemische Industrie in Deutschland und der Schweiz sauberer, früher sei der vergiftete Anteil höher gewesen, sagt van Heezen, und wir fühlen uns plötzlich irgendwie verantwortlich.

»Wir haben es nicht so mit den Zahlen wie die Hamburger«, sagt van Heezen. An der Information, dass in Rotterdam auf 10 500 Hektar im vorigen Jahr etwa 370 Millionen Tonnen Ware umgeschlagen wurden, kommt man dennoch nicht vorbei. Gern und ganz beiläufig weist van Heezen darauf hin, wie viel kleiner die anderen europäischen Häfen sind. Und dass es sich bei Hamburg nicht um einen »Universalhafen«, sondern bloß um einen Containerhafen handle, klingt ein wenig abschätzig.

In der Koordinationszentrale des World Port Center, wo erst recht der Überblick bewahrt wird, wirkt die Stimmung gelöst. Herren in weißen Seemannsuniformen trinken Kaffee und sitzen im Halbkreis um eine elektronische Anzeigetafel, auf der eine Grafik des Hafengeländes zu sehen ist. Im Sekun­dentakt wandern blaue, grüne, gelbe und rote Kreuzchen über das Bild, je nach Größe des Schiffes und Gefährlichkeit der Fracht. Wir werfen einen ersten Blick auf die »Ever Bridge«, die »Hanjin London«, die »Rotterdam Bridge« und die »Qingdao« aus Hongkong, das mit einer Kapazität von 9 600 Containern größte Schiff, das an diesem Tag im Hafen liegt. Was »Qingdao« wohl bedeutet? »Der Kahn, der den armseligen Langnasen den Plunder bringt«, vermuten wir.

Eine Spur von Wehmut klingt aus van Heezens Stimme, wenn er über die Zeit vor der Ölkrise spricht, als man glaubte, der Hafen werde auf ewig mit großem Tempo weiter wachsen. Zwar sind die aufgeschütteten Landflächen noch immer nicht »voll«. Doch der Seeweg ist nach wie vor günstig, und seit der Erfindung des genormten Containers, der direkt auf einen LKW geladen werden kann, verzeichnen die Hafenbetreiber höhere Wachstumsraten als die Länder, in die die Ware über Straßen, Schienen oder Binnengewässer transportiert wird.

Mit der »Maas­vlakte 2« ist ein weiterer Ausbau des Rotterdamer Hafens in Planung. »Dass der Markt dem Bau entgegen fiebert, ist heute schon klar«, heißt es in der Broschüre der Rotterdamer Hafengesellschaft. Auch van Heezen würde den Sand aus den Fahrrinnen am liebsten gleich am Rand der künstlichen Halbinsel aufschütten, statt ihn weit draußen ins Meer zu kippen. »Das ist guter Sand«, sagt er. Doch die Genehmigung für den Ausbau wird frühestens im nächsten Jahr erwartet. Bereits 2012, vier Jahre nach dem geplanten Baubeginn, sollen die ersten Con­tainer­schiffe anlegen können. Die Menschwerdung des Menschen durch den ewigen Kampf mit der Natur ist hier anschaulicher als im Seminar.

Heijplaat, ein Dörfchen mit ein paar hundert, überwiegend farbigen Einwohnern und drei Kirchen, hat schon bessere Tage gesehen, damals, als hier noch Schiffe gebaut wurden. Neben dem Supermarkt und dem Frisör am Zeven Provinciënplein, der Dorfmitte, stehen die Läden leer. Der Platz hat den Charme eines kleinen Einkaufszentrums aus den siebziger Jahren. Auf der Liste mit den sehenswerten Orten des Hafengeländes wird nur das Wirtshaus von Heijplaat erwähnt, ein »Treffpunkt« für Leute, die im Hafen arbeiten. »White collar« steht in Klammern dahinter.

Von dort nehmen wir die Autobahn, um auf dem schnellsten Weg zur Maasvlakte zu gelangen. Es geht vorbei an Industrieanlagen, Öltanks, Kohlebergen, Raffinerien, Lagerhallen. Hat man anfangs noch das Gefühl, auf einer belebten Stadtautobahn zu fahren, nimmt der Verkehr ab, je weiter man kommt. Der Blick schweift über eine schier endlose, menschenleere Industrielandschaft, ein Paradies für Misanthropen. Im Gegensatz zu jedem Geschäft, jedem Wartezimmer und jeder anderen touristischen Sehenswürdigkeit kann man hier den Mitmenschen ohne Probleme aus dem Weg gehen. Doch der Eindruck täuscht. Obwohl die Fracht mit einem voll automatisierten Verfahren gelöscht wird, arbeiten 55 000 Menschen in dem Industriekomplex, über 300 000 sind es, wenn man die Zulieferer hinzurechnet. Aber es werden von Jahr zu Jahr weniger.

Mit stoischer Langsamkeit fährt die »Claudel« aus Monrovia ins Hafenbecken ein, von vergleichsweise winzigen Schleppern auf Kurs gehalten, die van Heezen schlicht »Hilfsschiffe« nennt. Wie von Geisterhand gesteuerte Riesenkräne laden gemächlich einen Container nach dem anderen ab. Die Ladung sieht aus wie ein Haufen von willkürlich übereinander gestapelten Legosteinen.

Neben der mehrspurigen Schnellstraße sind kleinere Straßen, Gleise, Hochspannungsleitungen und Windräder. Rostige Rohre und tote Möwen, an denen Elstern herumpicken, liegen am Straßenrand. Der schwere Geruch von Rohöl liegt in der Luft, hinter dem Deich fischt ein Angler in Sichtweite der einlaufenden Öltanker. Ob er hier auch etwas anderes fange als Ölsardinen, wollen wir wissen. »Viele verschiedene Sorten«, sagt er. Das Wasser sei keineswegs verschmutzt, schließlich liege vor uns die weite, blaue Nordsee. Merkwürdig, ist doch anderswo zu erfahren, dass Rotterdam auf Jahre hinaus ein »ökologisches Katastrophengebiet« bleiben werde.

Die Zeit des in unzähligen Liedern besungenen Hafenlebens ist lange vorbei. Kein Rotterdamer Mädchen wartet am Kai, wenn die fremden Schiffe aus Hongkong, aus Java, aus Chile und Shanghai ankommen. Der Kai, an dem die Containerschiffe anlegen, ist zu Fuß oder per Fiets nicht zu erreichen. Die Seeleute werden bestenfalls von der Hafenmission abgeholt und in Aufenthaltsräume gebracht, wo sie Karten und Tischtennis spielen können, bevor es, kaum 24 Stunden nach der Ankunft, wieder zur See geht. Meist bleiben sie auf ihren Schiffen.

Dass die Matrosen ausbleiben und die Hafenarbeiter alter Schule ver­schwun­den sind, merkt man in der letzten Knei­pe vor »Land’s End«. Das »Routiers Maasvlakte« ist an Bedarf und Geschmack von Fernfahrern ausgerichtet. Der »Universal Truckertable« etwa, den man hier kaufen kann, passt auf das Armaturenbrett jedes LKW und bietet Platz für eine Dose Bier, eine Flasche Schnaps, ein Schnitzel und Pommes mit Ketchup. Und über das »Verkehrsschild« zum Aufkleben mit der Aufschrift »De mijne is 4 Meter« würde ein Seemann von der »Qingdao« nur müde lächeln.