Mein Block

Ein besetztes Haus in Kreuzberg hat Karriere gemacht als Ökoprojekt. Das Gutachten für das Energiekonzept stammt von der Firma des Rüstungsmagnaten Ludwig Bölkow. von peter kessen

Das Zentrum von Kreuzberg liegt zwischen Heinrichplatz und dem Görlitzer Park. Hier rauchten die Barrikaden, flogen die Mollis, brannte 1987 der Bolle-Supermarkt, hier kündet das so genann­te Besetzereck von gelungenen Eroberungen. Im Kiez entstand das zentrale Projekt der Haus­besetzerszene, das als Modell der ökologischen Stadterneuerung weltweit für Furore sorgte. Der Architekt Peter Beck entwickelte ab 1982 im Auftrag der Stadterneuerungsgesellschaft (Stern) den Block 103. 30 ehemals besetzte Häuser verwandelten sich vor allem durch die Mitarbeit der ehemaligen Besetzer in ein avantgardistisches Experiment der behutsamen Stadterneuerung. Zukunftstechnologien durchliefen hier ihre Testphase. Dazu gehörte zum Beispiel Grauwasserrecycling, Dachwiesen, Wärmedämmung, Solar­energie, ein Bioreaktor und Blockheizkraftwerke.

Das Projekt des Block 103 wanderte als Ausstellung um den Globus, diente der Altstadt­erneuerung in Genua als Vorbild, ließ Besucherdelegationen von Kalifornien bis Peking staunen. Im Jahr 1990 wurde der Architekt Peter Beck auf einer Konferenz in Berkeley von einem Mitarbeiter der Nasa auf das Kreuzberger Öko-Wunder angesprochen: »Was ihr da macht, ist eigentlich ein Modell für ein Space Shuttle. Auch im Weltraum müssen wir versuchen, geschlossene Kreisläufe zu schaffen.« Die Komplexität und Dichte der Öko-Technologie sei weltweit einzigartig gewesen, meint Architekt Beck. Die »Eigenstromerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung« sei genauso »revolutionär« wie die CO2-Reduzierung von rund 25 Prozent und die damals »größte innerstädtische Sonnenenergie-Anlage der Bundesrepublik«. Im Block 103 bestand die Ökologie ihren Praxistest. Wie der Drei-Liter-Spülbehälter mit Stopp-Taste, der am Tag rund 60 Liter einspart. Oder die Mülltrennung, die Abfälle pro Haushalt wöchentlich um 50 Liter schrumpfen lässt.

Die Hausbesetzer sanierten große Teile des Blocks selbst. Die Fördersumme für den Block 103 betrug rund 60 Millionen Mark, für Öko-Modelle und Freiflächen sind 8,5 Millionen, für die restlichen Baukosten 51 Millionen Mark geflossen. Als das Pilotprojekt zwischen 1987 und 1990 vollendet wurde, kämpfte eine linksradikale Gruppe »Klasse gegen Klasse« gegen die so genannte Verbürgerlichung von Kreuzberg. Die Gewalt gegen teure Restaurants, Bars, Sanierungsträger und Einzelpersonen eskalierte.

Ein Thema jedoch scheint keine zentrale Rolle gespielt zu haben: Als Energie-Gutachter für den Öko-Block im Herzen des Kiezes fungiert offiziell die Ludwig-Bölkow-Stiftung. Der Ingenieur Ludwig Bölkow entwickelte mit Willy Messerschmitt für Reichsmarschall Hermann Göring das erste Düsenjagdflugzeug, die Me 262, und perfektionierte ein zentrales Luftwerkzeug der deutschen Angriffskriege, den Jagdbomber Me 109, produziert in einer Stückzahl von über 33 000. Die Me 262 war das erste Düsenjagdflugzeug der Welt. Hitler befahl die Massenproduktion unter der Bedingung, dass das Flugzeug hauptsächlich als »Blitzbomber« angreifen sollte.

Rund 20 000 Häftlinge aus den KZ Dachau, Mauthausen und Flossenbürg und Zwangsarbeiter arbeiteten unter katastrophalen Arbeitsbedingungen an diesen beiden Bombern. Bölkow beschrieb seine Tätigkeit im Rückblick als patriotische Tat: »Es waren eigentlich alle bei uns bestrebt, etwas Besseres zu machen als die Engländer und später die Amerikaner.« 1999, vier Jahre vor seinem Tod, rekapitulierte Bölkow gegenüber dem Fernsehsender Arte: »Wir fühlten uns in die Pflicht genommen, und das war der Zustand. Das wurde eben gemacht, was notwendig war.« Von den Zwangs­arbeitern will Bölkow in seinem Büro in der Wiener Neustadt nichts mitbekommen haben: »Also wir haben das ja eigentlich erst so richtig auf den Tisch gelegt bekommen durch die Verhörzeit. Die Fotos (…) über die KZ und all so was. Und wir haben ja bloß gearbeitet, das war ja der Blödsinn.«

1965 gründete Ludwig Bölkow die Bölkow GmbH, die 1968 mit der Messer­schmitt AG und 1969 mit dem Hamburger Flugzeugbau zur Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB) fusionierte. MBB wurde zum Synonym für Rüstung und Raumfahrt: Die Waffenschmiede entwickelt unter anderem den Tornado und Trägerraketen. In den frühen achtziger Jahren entwickelte sich der Rüstungsmagnat mit einer Stiftung zum ökologischen Technosophen. Bölkow förderte eine Magnetschwebebahn, Solarfabriken in der Wüste und zuletzt Wasserstoff als Energieträger. Die Kampagne gegen Erdöl und Kernkraft führt den einstigen Intimus von Franz-Josef Strauß ins lobbyistische Abseits jenseits der Großindustrie: »Ich habe dann ganz schnell, Mitte der achtziger Jahre, für Wasserstoff gekämpft, und dabei sind dann die letzten Freunde abgefallen.«

Der Architekt Peter Beck gewann Mitte der achtziger Jahre den konservativen Umweltpionier Bölkow als Gutachter für das ökologische Musterprojekt der Hausbesetzer. Heute spricht Peter Beck in einem Interview zum ersten Mal von dieser entscheidenden Unterstützung: »Ludwig Bölkow hat als Chef seiner Stiftung plötzlich Interesse entwickelt (…) Und ich bin dann nach München geflogen und hab’ ihm das dort vorgestellt. Und hab’ ihm auch gleichzeitig die enormen Probleme vorgestellt, die wir hier bei der Durchsetzung des Projektes haben. Und dann sagte er: ›Na ja, das regeln wir schon.‹ Und er hat dann tatsächlich mit Franz-Josef Strauß telefoniert, mit dem er engen Kontakt hatte, es ging ja um Rüstungsgeschäfte und wie man die parlamentarisch unterbringen kann. Und Strauß hat sich dann hier hinter die Berliner CDU geklemmt und hat gesagt: ›Hier gibt es ein interessantes Modell bei euch, tut doch mal was dafür! Ich hab’ das gehört von Bölkow!‹« Das Berliner Energieunternehmen Bewag sperrte sich Beck zufolge noch gegen das Konzept einer eigenständigen Energiequelle im Block 103.

Ludwig Bölkow hielt in Berlin einen Vortrag vor den Konzernherren. Beck sagt dazu: »Und er hat dann in seinem Vortrag dieses Modellvorhaben sehr elegant eingeflochten. Und hat es sehr gelobt als eine der Optionen, wie man in der Zukunft Energieversorgung betreiben soll. Und es gab sogar richtig Unruhe in den Sitzreihen der Bewag, dass Bölkow offensichtlich von diesem Projekt wusste und das so stark gelobt hat. Er hat also rhetorisch die Sache entschieden, in diesem Moment. Und das hat uns sehr geholfen, später das durchzusetzen.« Zusätzlich unterstützt »eine der innovativsten Organisationen damals in der Bundesrepublik«, eben die Ludwig-Bölkow-Stiftung in München, als offizieller Gutachter das Energiekonzept.

Beck will zwischen Vergangenheit und Gegenwart trennen, zwischen dem Bölkow, der »natürlich bei den Hausbesetzern und bis in SPD-Kreise hinein« als »rechter, konservativer Kriegstechnologe« verschrien gewesen sei, und dem »innovativen Geist«, dem »hochangesehenen Visionär« der achtziger Jahre. Natürlich, die Vergangenheit, der Blitzbomber, das sei »Kriegstechnologie« gewesen.

Diese Darstellung verkennt, dass Bölkow in der Öffentlich ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Tätigkeit während des Nationalsozialismus pflegte. Im August 1976 erklärte der Rüstungsmagnat der Welt die »Fehler der deutschen Luftrüstung«: »Schon nach Frankreich hätte man sich auf die Produktion von Jägern konzentrieren sollen. Bei gelenkter Nachtjagd holten wir bis zu 20 Prozent der Bomber herunter.« John Siegfried Mehnert recherchierte 1972 eine Titelgeschichte über das »Geschäft mit der Rüstung«. Der Spiegel-Autor lauscht den Sentenzen des Rüstungsschmieds: »Unsere Moral? Wir lösen die Probleme der Militärs«, »Waffenexporte verhindern Kriege«, »Ich vergesse nicht, dass wir vor den Russen davongelaufen sind«, »Jede meiner Waffen ist bislang besser als die der Amerikaner«. Im Juli 1976 verkündete Bölkow, dass der Anteil der Wehrtechnik am Gesamtumsatz bis 1980 von 300 Millionen auf eine Milliarde Mark gesteigert werden solle.

Tatsächlich spaltet sich dieser Lebenslauf nicht in zwei Abschnitte. Während Bölkow in den achtziger Jahren seine Öko-Stiftung pflegte, hielt er weiter Anteile an MBB. Während das Kreuzberger Ökowunder aufblühte, von den Hausbesetzungen 1981 bis zur Fertigstellung 1990/91, machte der Konzern permanent Schlagzeilen: durch Rüstungsgeschäfte mit dem Apartheid-Regime in Südafrika, mit der argentinischen und türkischen Militärjunta, der indonesischen Diktatur und Saddam Husseins Regime. Das Munzinger-Archiv berichtete schon damals von lebendigen Beziehungen des scheinbaren Pensionärs zur Rüstungsschmiede MBB: »Allerdings blieb B. dem Unternehmen durch einen Beratervertrag verbunden.«

Am 1. Mai 1989 berichtete der Spiegel über den Raketentechniker Karl Adolf Hammer: »Bei MBB gilt er als ›Ziehkind des alten Bölkow‹. Konzernvater Ludwig Bölkow, 76, hatte Hammer Mitte der sechziger Jahre für zwei Jahre nach Kairo ausgeliehen. Dort herrschte Bedarf an tüchtigen Raketentechnikern, seit der israelische Geheimdienst 1963 mit Attentaten die Arbeit von deutschen Spezialisten aus Hitlers Fernwaffen-Forschung in Ägypten beendet hatte.« Mehrere hundert deutsche Raketentechniker arbeiteten damals im Dienste Nassers an Trägerwaffen, die gegen Israel eingesetzt werden sollten. Dazu gehörten auch V2-Experten. In ihrem Gefolge war eine ganze Reihe von Ex-Nazis an den Nil gekommen, u.a. der KZ-Arzt Hans Eisele als medizinischer Betreuer.

Im Jahr 1994 veröffentlichte Ludwig Bölkow seine Erinnerungen, »Der Zukunft verpflichtet«. Die Verbrechen des NS, die KZ haben ihn einerseits erschüttert. Damals betrachtete der junge Ingenieur die Zwangsarbeiter, die seine Kriegsmaschinen fertigten, als »Sträflinge«, die unter »geordneten Arbeitsverhältnissen« scheinbar »einigermaßen« überleben konnten. Trotzdem galt ihm die Tätigkeit in Hitlers Rüstungsschmiede Messerschmitt als nationale Pflicht. Sein Gewissen ist und war rein: »Aus meiner heutigen Sicht erscheint mir meine damalige Sorglosigkeit verständlich.«

Als Energiegutachter steht die Bölkow-Stiftung 1987 in der offiziellen Dokumentationsbroschüre des Musterprojektes. Gertrud Trisolini, damals als Geschäftsführerin der Luisenstadt-Genossenschaft am Ökowunder beteiligt, wertet Bölkows Hilfe, initiiert von Peter Beck, als notwendig, um Fördergelder zu erhalten. Trisolini besetzte in den achtziger Jahren ein Haus in der Manteuffelstraße. Franziska Eichstädt-Bohlig, heute bei den Berliner Grünen, damals beim Entwicklungsträger Stattbau mit dem Block beschäftigt, kann sich an keine aktive Rolle Bölkows erinnern: »Auf jeden Fall nicht, solange ich damit befasst war.«

So gilt der Block 103 fortan als Musterprojekt der Besetzer. Der reformistische Flügel der Hausbesetzer schien Bölkows Engagement stillschweigend akzeptiert zu haben. Von 1987 bis 1990 attackierte die Gruppe »Klasse gegen Klasse« im Kiez auch feinere Restaurants und Bars. »Bestraft 1, 2, 3, 4 viele Denunziantenschweine«, hieß es in einem Flugblatt. »Das Kapital und seine sozialdemokratischen und alternativen HandlangerInnen«, so ist in einem Aufruf zu einer autonomen Demonstration zu lesen, »versuchen, die existierenden sozialen und politischen Strukturen zu zerstören.« Als Subversion radikaler Politik ließe sich auch die Rolle Bölkows begreifen, Debatten dazu finden sich nicht in der Kreuzberger Geschichtsschreibung.