»Der Hass ist noch da«

Viele Thirtysomethings nutzten die Proteste gegen den G8-Gipfel für eine kurze Pause von ihrem Arbeitsalltag. deniz yücel über politische Radikalität jenseits der 30

Wenn der Winston Churchill zugeschriebene Spruch über die Herzlosigkeit 20 jähriger Nichtkommunisten und die Hirnlosigkeit 40 jähriger Nochkommunisten zumindest insoweit einen Wahr­heitsgehalt beanspruchen kann, als dass die Zahl der Kommunisten (meinethalben: der Linksradikalen) zwischen 20 und 40 deutlich abnimmt, verdient die Phase, in der sich diese Wandlung vollzieht, eine besondere Beachtung. Nicht nur die Arithmetik, auch die Empirie spricht dafür, dass dies irgendwo auf halber Strecke geschieht. Man beendet das Studium, zieht aus der WG aus und mit der Freundin oder dem Freund zusammen, beginnt, über Kinder zu reden (selbst wenn man sie nicht immer zeugt), tritt den ersten Job an, der als »Beruf« gilt. Sofern man in einem »linken« Betrieb eine schlecht bezahlte Zwischenstation eingelegt hat, verschiebt sich das Ganze entsprechend.

Hegel, der in seinen jungen Jahren kein Kommunist, aber immerhin ein radikaler Anhänger der Französischen Revolution gewesen war, hat im Alter ein paar Sätze über den Wandel des Rebellen zum Bürger geschrieben; ein halb zynisches, halb larmoyantes Minimanifest des Renegaten: »Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, dass es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt (…). Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern (…). Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, dass sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch.«

Hätten sich die Demonstranten in Rostock nicht gemäß ihrer politischen Präferenzen, sondern nach ihren soziologischen Zugehörigkeiten formiert, wären wohl folgende, ungefähr gleich große Blöcke herausgekommen: dem Block der ganz Jungen, die dort ihre ersten politischen Erfahrungen gemacht haben, und der Jungen, welche deshalb mit vollem Ernst bei der Sache waren, weil ihnen der Ernst des Lebens noch bevorsteht. Dem Block der Alten, die die kritische Phase überstanden haben, dabei geblieben sind, und nicht selten als Lehrer, Sozialarbeiter oder Betriebsräte mehr oder minder einsam im Kleinen kämpfen, wenn sie nicht gar dieselben Polit­aktivisten geblieben sind, die sie schon ehedem waren. Schließlich dem Block der Mittleren; jenen, für die dieser Tag eine Pause von ihrem Arbeits­alltag darstellte. (Schon in Heiligendamm dürfte dieser Block deutlich kleiner ausgefallen sein. Denn wer nicht studiert, erwerbs­los oder in einer NGO untergekommen ist, die es erlaubt, die Teilnahme an einer Blockade als Arbeitszeit abzurechnen, muss schon sehr überzeugt von der Sache sein, um dafür einen Teil seines Urlaubs herzugeben.)

Einer derer, für die die Demonstration die erste seit einigen Jahren war, ist Thomas*. Er ist 35, arbeitet als Kameramann und hat seine Zeit in politischen Gruppen hinter sich. Kürzlich kaufte er sich einen gebrauchten Volvo, kurz darauf wurde seine Freundin schwanger, Ende des Jahres wird es soweit sein. »Ich hatte angenommen, wir würden nach Rostock fahren, um uns dort wie Statler und Waldorf, die beiden Alten in der Muppet Show, zu benehmen«, sagt er. »Es hat mich es angenehm überrascht, dass meine Freunde und ich uns trotz aller wohlbegründeten Distanz plötzlich mitten drin fanden.« Bloße Nostalgie sei das nicht. »Das Grundgefühl ist ja noch da, der Hass auf die Verhältnisse ist noch da, und man ist weiterhin Teil der radikalen Linken.«

Dabei hat Thomas manch anderem in seiner Situation etwas voraus. Denn er arbeitet in einem Betrieb, in dem, wie er sagt, »ein paar andere Genossen sind«, so dass sie den oder anderen erfolgreichen Interessenkampf geführt haben. Dass er in Ros­tock war, würde er nicht jedem auf die Nase binden, aber mit einigen Kollegen habe er darüber geredet. Dort habe er auch eine merkwürdige Begegnung gemacht, als er unerwartet eine jüngere Kollegin getroffen habe. »Wir haben uns gegenseitig ein wenig gemustert, um zu sehen, wo der andere mitgelaufen ist. Eigentlich hätten wir uns etwas zu sagen, aber ich habe den Eindruck, dass es ihr unangenehm ist und sie nicht will, dass sich etwas über ihr privates politisches Engagement herumspricht.«

Für Marc ist eine solche Begegnung unvorstellbar. In der recht großen Werbeagentur, in der arbeitet, gibt es weder einen Betriebs­rat noch ein Gewerkschaftsmitglied. (Der 31 jährige ist selbst kein Mitglied von Verdi, will es aber werden.) Keiner seiner Kollegen könne sich vorstellen, dass man etwas grundsätzlich gegen den Kapitalismus haben könne. »Wenn ich mich outen würde, würde es nur dazu führen, dass man mich nicht mehr ernst nimmt.« Über die Fragen, die sich für ihn nach den G8-Protesten stellten, könne er mit seinen Kollegen nicht diskutieren, und darüber zu reden, ob die G8 genug für Afrika tue, interessiere ihn nicht.

Nach Rostock ist Marc vor allem deshalb gefahren, weil er dieses politische Großereignis nicht verpassen wollte. Und weil er wieder das Gefühl erleben wollte, mit vielen Leuten zusammen zu sein, mit denen er sich zumindest im Grundsatz, nämlich in der Ablehnung des Bestehenden, einig sei. »Es hat mich zwar gefreut, dass es einen Block gab, dem ich mich ohne Fremdschämen anschließen konnte, unter anderen Umständen aber wäre ich irgendwo am Rand mitgelaufen.« Das wichtigste sei, dass viele Freunde mitgefahren seien, die er früher auf politischen Veranstaltungen oder Demonstrationen gesehen habe. »Das waren ja immer auch soziale Events.«

In seiner Branche hält er es für aussichtslos, sich für Interessenwahrung zu organisieren, und nach der Arbeit sei er viel zu erschöpft, als dass er die Zeit habe, sich nebenher an Gruppen oder Lesezirkeln zu beteiligen. »Ich wüsste auch gar nicht, wo ich mich engagieren sollte«, sagt er. Perspektivisch wolle er zu einer NGO wechseln, um die Erwerbsarbeit mit »halbwegs befriedigender Politik« zu verbinden.

Genau das hält Jonas für bedenklich. »Ich glaube nicht, dass man auf die Dauer im ideologischen Sektor arbeiten kann, ohne intellektuell und moralisch aufgefressen zu werden.« Er ist 33 und hat bis vor kurzem in einem linken Betrieb gearbeitet, inzwischen hat er eine Stelle in einem mittelgroßen Buchverlag. »Es mag eine Illusion sein, aber ich glaube, dass manche Dinge einfacher wären, wenn Linksradikale etwas Bodenständiges lernen würden, ein Ingenieursfach oder Medizin. Zumindest bilde ich mir ein, dass jemand, der Maschinen baut oder Kranke behandelt, sich nicht ganz so leicht der Gehirnwäsche unterzieht wie Leute, die in einer Redaktion, einer NGO oder in einem politischen Apparat Tag für Tag selbst Ideo­ogie produzieren.« Wer aber nur »Politologie-Soziologie-Philosophie« studiert und dies auch nur in »kritischer Absicht« getan habe, verfalle nach dem Studium oft in Panik.

Für die Anpassung brauche es nicht einmal Befehle der Vorgesetzten, diese vollziehe sich vielmehr in »Akten der freiwilligen und vorauseilenden Unterwerfung«. Dabei will er folgende Etappen beobachtet haben: »Zunächst kommt die Distanzierung von den Illusionen, der Naivität und der Einfältigkeit, die man selbst einst gehegt hat. Darauf folgt das Missfallen am Habitus der Szene; durch Ironie und Abgrenzung vom Lifestyle, den Gepflogenheiten und dem Jargon verschafft man sich Distinktionsgewinn. Zumindest in Großstädten kommen dann oft Party und Drogen statt Protest und Debatte, bis man auch diese Phase hinter sich bringt.«

Ob sich solche Erfahrungen einer insbesondere studentisch geprägten radikalen Linke wie der westdeutschen in jeder Generation auf dieselbe Weise wiederholen? »Die Umstände sind schwieriger geworden«, sagt Isabelle. Die 30 jährige promoviert gerade, weil dies im Museumsbereich, wo sie arbeitet, gefragt sei.

»Früher war es einfacher, in Nischen unterzukommen oder sich anderswie durchzuschlagen. Die Verhältnisse sind unsicherer geworden, die Existenzangst ist größer«, glaubt sie. Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Vielleicht ist das nicht entscheidend, vielleicht reden wir uns das nur ein, um Zweifel zu unterdrücken.« Schließlich gebe es auch Leute, die eine solche Verbürgerlichung nicht mitmachten. »Aber ich muss sagen: Früher war mir Geld nicht so wichtig, und heute geht es mir zwar auch nicht darum, reich zu werden, aber etwas mehr als 1 000 Euro hätte ich schon gern. Und es ist besser, das mit 30 festzustellen als mit 40 oder 50.«

Als sie nach dem Studium keinen Job fand und aufs Amt musste, rief sie eine Mailing-List für erwerbslose Geisteswissenschaftler ins Leben. »Die Idee war es, sich nicht nur gegenseitig über ausgeschriebene Stellen zu informieren, sondern auch Erfahrungen auszutauschen und sich zu helfen«, erzählt sie. In diesem Sinn aber habe die Liste nie funktioniert, die Leute hätten das Ganze von Anfang an eher als Dienstleistung und Jobbörse gesehen.

Zumindest an zwei Punkten dürften sich fast alle Teilnehmer der Proteste einig gewesen sein: dass es nicht genügt, alle Jahre gegen irgendeinen Gipfel zu protestieren, sondern es darauf ankommt, den Widerstand im Alltag zu organisieren. Und dass man, wenn man ehrlich ist, keinen blassen Schimmer hat, wie das gehen soll. Jedenfalls im wirklichen Leben.

* Alle Namen von der Redaktion geändert.