Unser Opa war normal

Wie dietrich kuhlbrodt einmal eine kriminelle Vereinigung mit dem Rasierapparat zu bilden versuchte und dennoch schnurrend zum Hitler vorgelassen wurde

Wir sprechen vom Kino als Ort, als öffentlichem Raum, wenn’s hoch kommt. Wo man etwas wahrnehmen und erfahren kann; wo man sich orientieren kann, wenn man so drauf ist, wie ich es neuerdings immer häufiger höre: »Ich hatte Abitur gemacht. Ich war verwirrt. Ich bin da und da reingegangen. Einfach so«, und so weiter. Sprechen wir vom Kino, in dem man aktiv rezipieren kann, auch sich austauschen, sich manchmal auch zur nächsten Aktion ermuntern kann. Wohl nicht alles auf einmal. Aber etwas davon kann funktionieren. Selbstverständlich muss das Kino mehr als Abspielstätte sein. Gottseidank gibt es Kinos, die sich fragen, ob sie etwas bewirken und bei den Leuten, die kommen, etwas in Gang setzen.

Der Trick ist, glaube ich, aus der Wiederholbarkeit der Filmvorführung (»Abspiel«) eine Einmaligkeit zu machen (»Event«). Das geht ganz einfach. Man setzt diesen und jenen aufs Podium und lässt die Damen und Herren sich beharken. Ich saß vor einem halben Jahr im Hamburger Abaton-Kino oben und traute meinen Augen nicht. Der große Saal war voll. Das hätte ich von einem die Vergangenheit bewältigenden Dokumentarfilm wie »Der unbekannte Soldat« nie und nimmer erwartet. Aber da war die Riege auf der Bühne: Michael Verhoeven, der Regisseur; Hannes Heer (Wehrmachtsausstellung) und ein smarter Yuppietyp links neben mir, Redakteur des Spiegel. Klaus Wiegrefe fand kein Ende, Heer vorzuwerfen, vor zehn Jahren dies oder jenes Foto falsch zugeordnet zu haben; er sei extra drei Wochen im Archiv gewesen, um den Fehler zu belegen.

Die Suada war völlig daneben, wenn man gerade den neuen Film von Michael Verhoeven gesehen hatte. »Der unbekannte Soldat«: Das waren eigene Recherchen gewesen, Reisen in die Ukraine und nach Weißrussland, Augenzeugen von Babij Jar, Empathie mit den Opfern, ein Wehrmachtssoldat filmt einen Kameraden, der ein kleines Kind von der Mutter reißt; immer wieder dreht sie sich um und macht Schritte auf das Kind zu; immer wieder versucht der Dreijährige, der Mutter nach­zulaufen; ein Hieb mit dem Kolben treibt sie in die Gruppe, die jetzt ermordet werden soll.

Ich hatte diese Aufnahmen noch nie gesehen. Mir ging diese Szene, dieser Film nahe. Dem Publikum ging es eben­so, und ich fragte den forschen Redakteur, ob er nicht etwas für die Opfer empfinden könne und auch nicht etwas für die Zuschauer, die gerade dabei seien, eine Haltung gegenüber dem einzunehmen, was der Film zeigte. Es ginge doch jetzt um das, wie man den Film erfahre, wie man ihn wahrnehme und ihn rezipiere – und nicht darum, dass er, der Redakteur, sich zehn Jahre lang damit brüste, in nur drei Wochen eine Ausstellung zu Fall gebracht zu haben.

Mein Kontrahent fing auf dem Podium wieder damit an, dass irgendwelche Zahlen nicht gestimmt hätten. Ich formulierte etwas in der Richtung, dass der Kältestrom, der von ihm ausginge, bei mir Emotionen auslöste – was mir den Beifall der Zuschauer eintrug –, doch ermahnte ich mich nachdrücklich, nicht das Wort »Schreibtischtäter« zu benutzen, obwohl die bürokratische und rechthaberische Mentalität und das Unvermögen, Menschen und Opfer hinter den Zahlen zu sehen, mich ganz schön aufbrachten.

Hinterher, im Foyer des Kinos, was wollte der Typ noch von mir? Klaus Wiegrefe: »Das haben Sie ja geschafft, gegen mich Stimmung zu machen. Ganz schön unfair, das.« Ich war gerührt: Der Redakteur zeigte Emotionen – in eigenen Angelegenheiten. Auf der Bühne war er noch kalt und arrogant gewesen. Noch was? Ich sollte seine Verdienste würdigen. Er habe schließlich diesen Spiegel-Artikel zum Film »Der Untergang« geschrieben.

In der Tat, dort war es um Einfühlung und Empathie mit einem Menschen gegangen – mit Hitler. Ich stand dem Yuppietyp Nase an Nase gegen­über. Eins in die Fresse? Nä, ich war ja gerade als Oberstaatsanwalt a. D. vorgestellt worden und als Verfolger von Naziverbrechen in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren. Also korrigierte ich, akademisch gesittet, die Aussage meines leicht schwammigen Gegen­übers. »Artikel zum Film ›Der Untergang‹? Richtig ist: die Kampagne vor dem Film. Den gab’s noch gar nicht, als die Coverfotos vom Führer den Spiegel schmückten und als im Heft schon mal 20 Seiten auf Bruno Ganz und seinen Führerbunker draufgingen.«

»Stimmt nicht«, sein Einwand, »es war keine Kampagne. Dazu gehören mehrere.« Also gut, so entsorgt man über Definitionen die Argumentation. Davon abgesehen, waren es mehrere, die die einmalige und immense Medienkampagne vor dem Filmstart betrieben. Ich hatte sie in »Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser« beschrieben; das Buch war erst wenige Monate alt. Bild, FAZ, Welt (Ganz-Hitler: »Ein Antlitz, das vor Milde schimmert«), Springers Hamburger Abendblatt (»Vom ›Faust‹ zum Führer«), ZDF-Knopp auf seine eigene Art.

War das die neokonservative Wende? Eine deutschnationale Wende, die Hitler und die Altnazis zur Normalität machte? Die Welt hatte 2003 formuliert: »›Der Untergang‹ ordnet sich ein in einen allgemeinen Perspektivenwechsel, der (…) vielleicht einmal als die entscheidende politische und kulturelle Signatur des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden wird.«

Wir wohnen also einer Entscheidungs­schlacht bei – dann wären Ohrfeigen doch legitim. Rechtzeitig aber drang jetzt etwas an mein Ohr, was mich an meiner aufkommenden Paranoia zweifeln ließ. Mein Spiegelyuppie belehrte mich, dass seine Artikel (und die ganz allein, weil es ja keine Kampagne gewesen sei) dem »Untergang« weltweit zu 500 Millionen Zuschauern verholfen hätten.

Ja, stimmt, das macht dir keiner nach. Journalisten machen Quoten.

Nebenergebnis dieser Quantitäts­orgie ist es, dass Hitler und seine Altnazis weltweit Normalfall geworden sind. Eine neue Qualität: Das Mein-Opa-war-kein-Nazi formuliert sich positiv als »Mein-Opa-war-normal«. Damit haben wir 2006 zweierlei erreicht: erstens die Rückkehr der Adenauerzeit (wir waren Deutsche, keine Nazis) und zweitens den Boden für die Etablierung unserer Neonazis in der total normalen bürgerlichen Mitte. Warum sollten sie sich an der allgemeinen Vernormalisierung nicht erfreuen dürfen? In den neu gewonnenen Ostgebieten der Bundesrepublik Deutschland sind es die Rechtsextremen, die sich um Bürger, um die Jugend, um kommunale Belange kümmern, während die Altparteien sich längst abgesetzt haben. Dieses Fazit ist Konsens in denselben Medien, die Hitler nicht zum Untergang, sondern zur Wiederkehr verholfen hatten.

Großes Gefühl im Kino: nicht allein zu sein. Ich schrieb über meine Erfahrung im Kino Abaton im Buch »Rosen auf den Weg gestreut. Deutschland und seine Neonazis«, soeben erschienen. Das Sich-bestärkt-fühlen ist mehr als Argumentation und Verstandestätigkeit. Man sollte es ruhig zugeben, dass es, verlässt man seinen Platz vor dem Monitor, im öffentlichen Raum um mehr als Worte geht. Bloß mag man von den Sinnen und von Emotionen lieber nicht sprechen. Und warum war die »Koralle«, das Kino in Hamburgs Walddörfern, proppenvoll, als dort der Dokumentarfilm »Todesengel« gezeigt wurde? Es ging um das Massaker der Wehrmacht in Sant’Anna di Stazzema. Einer der Täter, der Herr Engel, lebte noch – unweit des Kinos und unbehelligt von der Justiz. Also behelligten Antifa-Leute von der Schanze und örtliche bürgerliche Initiativen den NS-Verbrecher. Die »Walddörfer Umweltzeitung WUZ« (»kost’ nix«) rief auf der Titelseite dazu auf, für Gerechtigkeit gegenüber Opfern und Hinterbliebenen zu sorgen. Das Gefühl, etwas tun zu müssen, brachte alt und jung zusammen – und auf dem Podium Joa­chim Perels aus Hannover (»Entsorgung der NS-Herrschaft«) mit Dr. Theo Sommer (Zeit).

Ist ein Kino erst einmal als »unser« Raum identifiziert, gibt es keine Schwelle – aber auch keinen Exklusivanspruch. Die Leipziger Antifa trifft sich im Kino NaTo, aber natürlich auch mobil auf der Straße. Was im Kino zusammenkommt, ist dann nicht das Kinopublikum, das was abgespielt haben will, sondern das, was selbst spielen will.

Mit meiner DVD (»nur für Sichtungszwecke!«) fuhr ich nach Bremen. Wieder war der Raum voll. Bloß hieß das nicht Kino, sondern Club, und rein kam jeder, der auf dem Verteiler gestanden und eine Mail bekommen hatte. Es gab einen Tresen. Es durfte geraucht werden. An der Eingangstür stand nichts. Die Behörden wissen von nichts. Aber es war voll. Der Raum verlangte, aktiv zu werden, und ich sagte dem vom andern Club, dem Krätzeclub, zu, über Piotr Uklanskis Fotoband »The Nazis« zu schreiben. Ich hab’s jetzt auch getan, aber nur, weil ich an diesem Ort gewesen war und das Gefühl bekommen habe, dass ich es nicht für mich allein tue (das Buch hatte ich ja schon seit Jahren bei mir stehen, aber prinzipiell bin ich faul), sondern für die, die etwas damit anfangen können, und wenn’s nur zum Spaß ist.

Jaja, ich weiß, es wird schlimm, wenn man die Argumentationsschiene verlässt. Gut also, ich bin neben der Spur. In Ordnung kommt es nur, wenn man für die guten Gefühle, die Vibrations, die Musik reklamiert. Gemeinsam hören, ja, auch sehen, funktioniert auch im Kino besser, als allein vorm Fernseher zu sitzen – wenn es denn um 50 Jahre Rock-Geschichte geht. Das Apollo-Kino Aachen zeigte am 12. Mai Oliver Schwabes Dreistundenfilm »My Generation«, eingeleitet von einem Manifest mit dem Titel »Spaß am Widerstand – Jugendkultur zwischen Punk, Pop, Politik und Protest«. Mit Wut im Bauch und dem ungestümen Wunsch nach eigener unverwechselbarer Identität steht die Rockmusik für Haltung und Lebendigkeit einer eigenen Szene – immer wieder, seit 50 Jahren.

Ich fand den Satz prima. Dann brauch’ ich für das Apollo in Aachen weiter keine Outfit- und Styling-Codes beachten, und wir sind jetzt eindeutig bei Gefühlen, gar Lustgefühlen – bei jugendlicher Kampfeslust und beim Sound der Revolte. Hoch das Kino!

Einen Tag später in Hannover. Im Kino am Raschplatz Diskussion mit Oskar Negt (»Wozu noch Gewerkschaften?«) und Detlef Hensche (Ex-IG Medien) über Gewerkschaft – Kultur – Film. Im Kino. Argumente. Man muss also ganz unten und von vorne anfangen: mit der Aufwertung der entwerteten Sinne, von der Kultur Jahrtausende lebte (Negt), und hierfür seien Gewerkschaftsfunktionäre ungeeignet. Mit Kunst und Kultur hätten die nichts am Hut.

Tja, hm, wer bin ich, wo bin ich, was mach’ ich hier im Kino? Hätte hier nicht Jürgen Kiontke sitzen müssen, mit seiner Zeitung für die Gewerkschaftsjugend, Soli aktuell, und seinem Wissen über und seiner Erfahrung mit Musik?

Was mich im Kino berauschte, war, dass ich neben demselben Negt saß, dessen dickes Buch »Geschichte und Eigensinn«, geschrieben zusammen mit Alexander Kluge, ich seit einem Vierteljahrhundert habe. Ein wundersames Labyrinth aus Worten und Bildern, in dem herumzuwandern und auf die eigene Erfahrung des Lesers abzustellen ist. Falsch macht es, wer da linear hindurch will.

Es ging nicht um einen Film, der abgespielt wird. Aber die Lokalität am Raschplatz. Ich weiß jetzt, warum das Kino, das öffentlicher Raum ist und sehr verschieden genutzt werden kann, je nach der eigenen Erfahrung dessen, der dahin kommt – ich weiß jetzt, warum mir diese Vorstellung längst vertraut war. Ein Spielplatz. Das lebendige Spiel aller menschlicher Kräfte ist es, wodurch Kunst, Kultur, Genuss untrennbar miteinander verwoben sind. Eine Voraussetzung für die Kampfbereitschaft der Menschen (Negt 2004).

Hab’ ich den Bogen hingekriegt? Und nur von meinen Erfahrungen gesprochen? Dann bin ich objektiv nicht angreifbar. Für die letzten zehn Jahre.

Auwei, das war eben wieder linkes Pathos. Interaktion und Kommunikation im dunklen Kino, dazu der Dreiklang Kunst-Kultur-Genuss (Negt) – wieso eigentlich kann diese Bereitschaft nicht ebenso gut unsere Neonazis motivieren, gegen Ausländer und sonstige Linke zu kämpfen? Theoretisch gesprochen. »Die dunkle Moralität des Kinos« untertitelte Professorin Heide Schlüpmann ihr neues Kino-Buch »Ungeheure Einbildungskraft«. Ich unterschreibe das aus vollem Herzen. Der Perspektivwechsel. Vom Film, der ins Dunkle des Kinos guckt, zu den Leuten, die auf was gucken, das hell ist und sich nicht verstecken kann. Nicht Objekte des Abspiels, sondern Subjekte sitzen im Saal. Ich auch, und seitdem ich das weiß, schreibe ich subjektiv. Das macht manches leichter dank Heide Schlüpmann.

Zurück zu meiner Kinoerfahrung. 2004 war ich in der Pressevorstellung vom »Untergang« nicht Herr der Dinge, also kuckendes Subjekt, sondern im Visier der Eichinger-Gang und somit Observations-Objekt und potenzieller Krimineller. An den Eingängen Sicherheitsschleusen und Pulks von der Sicherheit. Im Nu war mein Handy weg. Keine Chance, meinen Anwalt anzurufen. Die Tasche wollten sie auch haben. Meinen Gürtel? Die Schuhbänder? Vorerst nicht, aber her mit der Tasche. Mit einem Ruck half mir einer, sie von der Schulter zu reißen. Und dann passiertes es. Es schnurrte. In meiner Tasche? Nein, sagte ich. – Ich soll sie aufmachen. Nein, sagte ich. – Es schnurrte. »Es ist darin.« – Ich, tapfer: »Was? Aja, das Aufnahmegerät ist losgegangen.« Das sollte ein Witz sein. Der kam aber nicht an. Die Typen kuckten so wie die von der Kameradschaft, bevor sie zuschlagen. Ich war eingekreist. Der Einlass blockiert. Flucht zwecklos. Na gut, ich machte die Tasche auf. Und da schnurrte er, der Rasierapparat. Im Hinterzimmer wurde ich fertiggemacht, bevor ich dann doch zu Hitler ’reingelassen wurde.

Gut, ich weiß, das ist die Strafe für den, der vom öffentlichen Raum schwärmt, vom Motivationsschub und jugendlicher bzw. seniorialer Kampfeslust. Seitdem ich verdächtig bin, als Journalist eine kriminelle Vereinigung zu bilden, die mit dem Handy die Filmwirtschaft und ihre Nazifilme terrorisieren will, ist es mir leicht gemacht, zur Tat zu schreiten, ganz ohne Handy, aber mit einem Printwerk. Ganz vergessen habe ich, merke ich gerade, in »Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser« reinzuschreiben, dass ich über vieles, das ich in den letzten zehn Jahren im Kino gesehen habe, schon in der Jungle World geschrieben hatte. Eine sträfliche Unterlassung. Ich nehme das Jubiläum gern wahr, mich bei Heike Runge für den Schubs ins Kino zu bedanken.

Der Jungle-World- und Kinoerfahrung schulde ich es auch, dass mein Schreiben anale Qualitäten hat. »Weil das Buch im Saft seiner Wut auf Volltouren brennt, eines der wichtigsten Themen unserer Medienlandschaft am Schopf packt und exorziert und dem neuen deutschen Filmwunder mit all seinen hübschen Fascho-Boys quadratisch praktisch ins Gesicht scheißt.« (Paul Poet in Skug, der österreichischen Spex).

D. Kuhlbrodt wurde am 15. Oktober 1932 in Hamburg geboren, ist Oberstaatsanwalt a.D., Autor und Schauspieler, schreibt Film- und auch Theaterkritiken seit 1957, gehört zum Schlingensief-Clan und schrieb das Buch »Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser«.