Wenn Stalin sich entschlossen hat

Anarchist, skeptischer Kommunist, Trotzkist: Das Leben von Victor Serge (1890 bis 1947) war gekennzeichnet von Opposition, ­Verbannung, Flucht und Exil. Mit ihm im mexikanischen Exil waren zahlreiche andere linke Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Künstler und Intellektuelle, zunächst vom Stalinismus enttäuscht, später auf der Flucht vor dem National­sozialismus. Zu seinem 60. Todestag gibt Birgit Schmidt einen kleinen Einblick in das Leben des heute beinahe vergessenen ­Revolutionärs und Schriftstellers.

»Die Toten sind für mich den Lebenden sehr nahe. Ich sehe nicht recht die Grenze, die sie voneinander trennt.« Victor Serge

Die Taxifahrergewerkschaft sympathisierte mit den Stalinisten. Deshalb lag es nahe, den Herztod zu bezweifeln, den der Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge fast auf den Tag genau vor 60 Jahren, am 17. November 1947, in einem Taxi in Mexiko-Stadt erlitt. Sein Freund Julián Gorkin aber stellte klar, dass Serge ein Verurteilter war, ein Herzkranker, der unter dem mexikanischen Hochlandklima litt. Dennoch, ein Attentat wäre möglich gewesen, gemeinsam hatten sie sich viele Feinde gemacht in ihrem Exilland Mexiko, wohin sich beide nur knapp hatten retten können: Gorkin, Mitbegründer der revolutionären spanischen, als trotzkistisch angesehenen Partei Poum, und Victor Kibaltschitsch alias Victor Serge, der nicht nur rund zehn Jahre zuvor aus sowjetischen Kerkern entkommen war, sondern sich auch vor den heranrückenden nationalsozialistischen Truppen nach Übersee hatte flüchten können.

Im Frühjahr 1943, als bekannt wurde, dass Victor Alter und Henryk Ehrlich, beide Grün­dungs­mitglieder der polnisch-jüdischen Gewerkschaft Bund, die sich vor den Deutschen in die UdSSR geflüchtet hatten, dort ermordet worden waren, organisierten Victor Serge und Julián Gorkin eine Protestveranstaltung in Mexiko-Stadt. Sie wurden dort von organisierten Kommunisten angegriffen, und bis zu seinem Lebens­ende kennzeichnete eine Narbe das Gesicht Gorkins, der von insgesamt vier Anschlägen auf sein Leben spricht. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, denn organisierte Kommunisten hatten einen guten Stand in Mexiko. Der Stalin treu ergebene Gewerkschaftsführer Vicente Lombardo Toledano verfügte über großen Einfluss und sorgte dafür, dass zahlreiche Mitglieder insbesondere der deutschen und der italienischen Kommunistischen Partei einreisen konnten. Und viele mexikanische Künstler und Intellektuelle waren Mitglieder in der mexikanischen Kommunistischen Partei oder sympathisierten mit ihr. Ihnen standen ungefähr 20 000 spanische Republikaner gegenüber, die Lazaro Cardenas, der von 1934 bis 1940 Präsident Mexikos war, nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs ins Land hatte einreisen lassen. Viele von ihnen waren Anarchisten bzw. Anarchosyndikalisten, andere, wie Gorkin, sympathisierten mit dem Trotzkismus oder hatten dies Jahre zuvor getan, allerdings wesentlich verhaltener und sehr viel kritischer, als ihre politischen Gegner wahrhaben wollten.

Leo Trotzki selbst hatte sich seit 1937 in Mexiko aufgehalten, auch für ihn war dieses Land, nachdem Norwegen ihn des Landes verwiesen hatte, zur letzten Zuflucht geworden. Auf ihn, seine Familie, seinen Freundeskreis und seinen Stab, d.h. seine Leibwächter, Sekretäre und Unterstützer, hatten es – bis zu seiner Ermordung im August 1940 – die Kommunisten abgesehen. Im Mai 1940 bereits war Trotzkis Haus von einer Gruppe von Männern überfallen worden. Unter der Führung des Malers Alfaro Siqueiros hatten sie einen von Trotzkis Leibwächtern, den jungen US-Amerikaner Sheldon Harte, verschleppt und ermordet. Das brachte Siqueiros ins Gefängnis, aber der spätere Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda, damals chilenischer Botschafter in Mexiko, sorgte für seine Befreiung. In seinen Memoiren prahlt Neruda: »Mit einem von mir selbst in seinen Pass gestempelten Visum reiste er mit seiner Frau, Angélica Arenales, nach Chile.«

Leo Trotzki war bereits seit einem Jahr tot, als Serge und andere, die gerade noch aus dem nationalsozialistischen und faschistischen Europa hatten entkommen können, ins Land kamen, beispielsweise Babette Gross, die Lebensgefährtin des ehemaligen kommunistischen Abgeordneten Willi Münzenberg, der jedoch mit der Kommunistischen Internationale gebrochen hatte. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass die Leiche ihres Lebensgefährten in einem französischen Wald verweste und dass die Umstände seines Todes niemals aufgeklärt werden würden. Ob er sich selbst erhängte oder erhängt wurde, ist bis heute ungeklärt.

Auch dem deutschen Anarchisten Augustin Souchy und dem Schriftsteller und Spanien-Kämpfer Gustav Regler gelang die Flucht nach Mexiko. Regler brach unmittelbar vor seiner Abreise aus Frankreich endgültig mit dem Kommunismus, wurde dafür von seinen ehemaligen Genossen stark angefeindet und drohte, gemeinsam mit seiner Frau Marielouise in der Isolation zu verschwinden. Aber: »Es half ihr«, schreibt Regler über seine deprimierte Ehefrau, »dass neue Freunde auftauchten, ungerufene, die sich bald als ein unfasslich beglückendes Mehr in ihrem Leben herausstellten; ich meine die Gruppe der surrealistischen Maler und Dichter, die sich von Paris und London nach Mexiko zurückgezogen hatten: Wolfgang Paalen, Alice Rohan, Onslow-Fort, Leonora Carrington, Benjamin Péret, mit ihnen, in einer Distanz, die sich mit dem gemeinsamen Leiden der Isolation verminderte, der russische Revolutionär und Romancier Victor Serge, ein Überlebender der Moskauer Prozesse, der, in einem ersten Gespräch schon, mir alle verlorenen Freunde zu ersetzen schien.«

Aber auch die andere, die kommunistische Seite, und das hieß in diesen Zeiten die der Anhänger und Anhängerinnen Stalins, erhielt Zulauf. Mit Unterstützung Lombardo Toledanos konnten sich Kommunisten und Kommunistinnen wie Anna Seghers und ihr Ehemann Lász­ló Radványi nach Mexiko retten. Der Schriftsteller Egon Erwin Kisch kam, Otto Katz, der 1952 an einem Prager Galgen enden sollte, Funktionäre wie Alexander Abusch, Paul Merker und viele andere. Der Ton, den sie ihren Kritikern und Kritikerinnen gegenüber anschlugen, war mitunter der unverhüllter Drohung. Gustav Regler klagte: »Die Kommunistische Partei gab einen Geheimbefehl: ›Regler ist nicht mehr mit uns, also ist er gegen uns.‹ Bibelfeste Kommunisten! Sie hatten Erfolg. Am nächsten Tag war ich ein ›Himmler-Agent‹. Am folgenden Tag sah ich ein Plakat in einer Zeitung: Als Schlangenast, gesprenkelt mit Hakenkreuzen, schoss ich aus dem ›Baum des Verrats‹. Der aber schoss aus des toten Trotzki gespaltenem Schädel. Es war eine Aufforderung zur Lynchjustiz! Unser Haus wurde überwacht von fremden Burschen.«

Trotz aller Anfeindungen und Anwürfe auch gegen seine Person wurde Victor Serge nur zum mittelbaren Opfer, sein Tod war der Herzkrankheit geschuldet, eigenen Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen hatten, einem Leben, das 1890 in Belgien begonnen hatte: Es war ein armes Leben gewesen, das den Tod des jüngeren Bruders Raoul zur Folge hatte, der an Mangelerscheinungen zu Grunde ging, das Leben russischer, revolutionärer Emigranten. »In unseren kleinen Behelfswohnungen hingen immer Porträts von Erhängten an den Wänden.« Daran erinnert sich Serge in seiner berühmt gewordenen Autobiografie »Beruf: Revolutionär«, und er erinnert sich auch an die Atmosphäre, die ihn bereits als Kind umgab: »Die Gespräche der Erwachsenen handelten von Prozessen, Hinrichtungen, Flucht, von den Wegen Sibiriens, von großen Ideen, die immer wieder in Frage gestellt wurden, von den letzten Büchern über diese Gedanken … «

Der junge Serge war Anarchist. Er trieb sich in Belgien, in Frankreich, in Spanien herum, saß, wie es anarchistisches und sozialrevolutionäres Engagement mit sich brachte und noch immer bringt, lange im Gefängnis. Und dann vernahm er die Kunde.

Als Lenins »An alle! An alle! … « in den Äther drang, versetzte das Millionen von Menschen in ungeheure Erregung, in einen Taumel voller Hoffnung und Zuversicht. Revolution war also möglich! Die Russen hatten allen gezeigt, dass man die Welt ändern kann. Viele hielt es nicht länger an dem Ort, an dem sie sich befanden. Die russische Sozialistin Angelica Balabanoff eilte in ihr Herkunftsland zurück, um sich den Bolschewiki zur Verfügung zu stellen. Die Anarchistin Emma Goldman, die gemeinsam mit ihrem Freund und Genossen Alexander Berkman 1919 aus den USA in die UdSSR kam, wo sie gegen US-amerikanische Kriegsgefangene ausgetauscht wurde, notierte emphatisch und voller Pathos in ihrem Tagebuch: »Sowjetrussland! Geheiligter Boden, magisches Volk! Nun bist du zum Symbol der Hoffnungen der Menschheit geworden, du allein bist dazu bestimmt, die Welt zu erlösen. Ich bin hier, um dir zu dienen, geliebte ›Matuschka‹!« Und für den bisherigen Anarchisten Victor Serge stand fest: »Ich konnte mich auf keine andere Seite mehr schlagen als die der russischen Revolu­tion, mein Existenzgrund war der ihre.«

Von Goldman, Balabanoff und Serge stammen kritische Zeugnisse über die Nöte und Anstrengungen dieser Jahre, denn Angelica Balabanoff und Victor Serge lebten in dem angefeindeten neuen Staat Sowjetunion, in dem nichts anderes herrschen konnte als der Kriegskommunismus. Was er zu verteilen hatte, war allein der Mangel: Mangel an Lebensmitteln, Mangel an Brennstoffen, Mangel an Transportmöglichkeiten. Kinder, Alte und Schwache starben, und auch Revolutionäre verloren ihren Elan. In Balabanoffs Memoiren heißt es über diese Zeit: »An mir zehrte dieser Anblick, auf den ich überall stieß: In den Versammlungen, auf der Straße, in intimen kommunistischen Kreisen, immer und überall war die Rede vom Materiellen. Das Stück Brot und das Stückchen Zucker wurden zum alles absorbierenden Streben auch derjenigen, die ihr ganzes Leben in den Dienst eines Ideals gestellt, alle ihre Kräfte der Lösung ideeller Probleme gewidmet hatten … «

Emma Goldman und Alexander Berkman konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die schlechte Lage der Anarchisten, Goldman notierte angesichts eines Aufenthalts in Moskau: »In den Tagen des Oktober hatte Lenin die Anarchisten und linken Sozialrevolutionäre als Schachfiguren benutzt; sein Glaubenssystem und seine Politik verurteilten sie nun zum Untergang. Es war das System, das politische Flüchtlinge als Geiseln nahm und auch vor greisen Eltern und Kindern im zarten Alter nicht halt machte. Die nächtlichen ›Oblawas‹ (Straßen- und Hausrazzien) der Tscheka schreckten die Bevölkerung aus dem Schlaf. Für geringfügige Vergehen drohten viele Jahre Gefängnis, Verbannung in entfernte Teile des Landes und sogar Hinrichtung. Die Geschichten waren im wesentlichen dieselben, wie ich sie von den Petrograder Genossen gehört hatte. Nur war ich damals zu geblendet vom öffentlichen Glanz und Gloria des Bolschewismus gewesen, als dass ich die Vorwürfe hätte glauben können.«

Goldman und Berkman begannen, sich von den Bolschewiki zu distanzieren, doch Serge, der innerhalb ihrer Regierung zahlreiche Funktionen übernommen hatte, wollte nach wie vor alles tun, um die Revolution sowohl gegen die Bedrohung von außen als auch gegen die Bedrohung von innen, die Tscheka, den sich verselbständigenden Polizeiapparat, zu verteidigen. Er schrieb über diese Zeit: »Das Telefon wurde mein intimer Feind, und vielleicht ist das der Grund, dass es mir noch immer Abneigung einflößt. Es brachte mir stündlich Stimmen verstörter Frauen, die von Verhaftungen, bevorstehenden Hinrichtungen, von Ungerechtigkeit sprachen, die mich anflehten, sofort einzugreifen, um Gottes Willen!« Und über das Jahr 1920 stellte Serge fest: »Es wurde offenkundig – für mich und für andere –, dass die Beseitigung der Tscheka, die Wiedereinsetzung der ordentlichen Gerichte und der Rechte der Verteidigung von nun an eine Vorbedingung des inneren Gedeihens der Revolution waren. Aber wir konnten absolut nichts ausrichten. Das Politbüro, das damals aus Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Rykow und Bucharin bestand – wenn ich mich nicht irre –, stellte sich die Frage, wagte aber nicht, sie zu beantworten, weil es, darüber gibt es für mich keinen Zweifel, selbst die Beute einer gewissen Angstpsychose gegenüber der unerbittlichen Autorität war.«

Im Winter 1920/21 hatte die Zeit der Verfolgung der Anarchisten, die nun fast alle im Gefängnis saßen, ihren Höhepunkt erreicht. Im Februar 1921 erhielten einige von ihnen Ausgang, um an einer wichtigen Beerdigung teilzunehmen: Fürst Pjotr Kropotkin, der bekannteste russische Anarchist, der über 40 Jahre im Exil verbracht hatte, war gestorben. Seine Beerdigung gilt als die letzte oppositionelle Demonstration gegen die Bolschewiki. Die Anarchisten mussten sich am Folgetag wieder im Gefängnis einfinden.

Nicht nur die politische Situation war desas­trös, auch die Versorgung blieb weiterhin katastrophal. Insbesondere in den Fabriken Petrograds (später Leningrad, heute wieder St. Petersburg) kam es zu zahlreichen Streiks, die sich schnell ausbreiteten. Die Arbeiter forderten die Verbesserung ihrer Versorgung sowie das Recht, freie Diskussionsveranstaltungen durchzuführen. Vereinzelt forderte man gar die vollständige Änderung der Regierungspolitik. Daraufhin wurde das Kriegsrecht ausgerufen, woraufhin sich die Soldaten von Kronstadt mit den Streikenden solidarisierten. Lenin und Trotz­ki werteten dies als Aufstand gegen die Regierung und griffen die Kommune von Kronstadt an. Zehn Tage lang dauerte die Kanonade auf Kronstadt. Am 17. März 1921 verbreitete sich in Petrograd die Nachricht, dass Tausende junger Männer, die die Rückgabe der politischen Macht aus den Händen der Partei an die Räte, die Gedanken- und Redefreiheit sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert hatten, von den Bolschewiki ermordet worden waren.

Victor Serge hatte sich zunächst mit den Bolschewiki solidarisch erklärt. In seiner Autobiografie schreibt er: »Nach langem Zögern und mit unaussprechlicher Herzensangst erklärten wir, meine kommunistischen Freunde und ich, uns schließlich für die Partei. Hier die Gründe. Kronstadt war im Recht. Kronstadt begann eine neue befreiende Revolution, die der Volksdemokratie. (…) Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen.«

Lenin und Trotzki, der, wie wir von Emma Goldman wissen, den Matrosen von Kronstadt mit dem Satz gedroht hatte: »Ich knalle euch ab wie Enten!«, ließen das Feuer eröffnen. Serge berichtet: »Anfang März eröffnete die Rote Armee auf dem Eis den Angriff gegen Kronstadt und die Flotte. Die Artillerie der Schiffe und der Forts feuerte auf die Angreifer. Das Eis brach an verschiedenen Stellen unter der Infanterie ein, die weißgekleidet, in mehreren Wellen vorging. Riesige Schollen kenterten und stürzten ihre menschliche Last in die schwarzen Fluten. Das war der Anfang des schlimmsten Brudermordes.« Wie viele Menschen – vorwiegend junge Männer – in Kronstadt umgebracht wurden, ist nicht eindeutig zu sagen. Augustin Souchy sprach von 18 000 Toten.

Nach der Niederlage der Matrosen von Kronstadt verkündete Lenin die »Neue Ökonomische Politik« (NEP), also eine moderate Liberalisierung im Handel, in der Landwirtschaft und in der Industrie. Das war – neben den demokratisch-revolutionären – eine der Forderungen der Kommune von Kronstadt gewesen. Drei Jahre später starb er.

Im Folgejahr von Kronstadt, 1922, war im fernen Italien der faschistische Diktator Benito Mussolini an die Macht gekommen, in der UdSSR war am 2. April 1922 Josef Stalin Generalsekretär der KPdSU geworden, und für Menschen wie Emma Goldman, Alexander Berkman und Angelica Balabanoff wurde es immer ungemütlicher in der Welt. Goldman und Berkman flohen nach dem Massaker von Kronstadt erschrocken gen Westen. Über Schweden gelangten sie nach Berlin, wo der große alte Mann des Anarchosyndikalismus, Rudolf Rocker, sich um sie kümmerte und wo sie sich an die literarische Verarbeitung ihrer Erlebnisse in der Sowjet­union machten, die wiederum dazu führten, dass die deutschen Anarchisten und Anarchosyndikalisten die politische Zusammenarbeit mit den Bolschewiki für immer aufkündigten.

Auch Balabanoff war gegangen. Als ewige Exilantin lebte sie von nun an in Wien, Paris und New York. »Angelica Balabanowa, die erste Sekretärin des Exekutivkomitees der kommunistischen Internationale, deren moralische Einwände Lenin und Sinowjew oft geärgert hatten«, schrieb Victor Serge, »war soeben aus der III. Internationale ausgeschlossen worden. Sie wohnte bald in Wien, bald draußen in der Vorstadt und schleppte ihre paar Habseligkeiten von einem möblierten Zimmer ins andere, die Habseligkeiten einer armen ewigen Studentin, den Spirituskocher für den Tee, die kleine Pfanne für das Omelett, drei Tassen für die Gäste, und das große Porträt Filippo Turatis, das strahlende männliche Porträt Matteottis, Stöße von Exemplaren des Avanti, die Korrespondenz der maximalistischen Partei Italiens, Hefte mit Gedichten … Klein, braun, bald welk, führte Angelica nach wie vor das enthusiastische Leben einer Kämpferin, nur war sie mit ihrem romantischen Feuer um gut dreiviertel Jahrhunderte hinter ihrer Zeit zurück.«

Victor Serge hingegen hatte sich dazu entschlossen, in der UdSSR zu bleiben, obwohl seine Frau Liuoba, über die wir in seiner Autobiografie und in anderen Schriften genauso wenig erfahren wie über sein restliches Privatleben, psychisch krank wurde, weil der politische Druck zu anstrengend für sie war. 1937, die Familie lebte zu dieser Zeit schon in Frankreich, musste sie psychiatrisiert werden und ließ nicht nur ihren Mann und den gemeinsamen Sohn Wladimir zurück, der 1920 in Petrograd zur Welt gekommen war, sondern auch die zweijährige Tochter Jeannine.

In der Sowjetunion war die Familie Zeugin einer politischen Entwicklung geworden, in deren weiterem Verlauf, genauer: am 10. Januar 1939, Stalin ein Telegramm an alle Sekretäre der Gebiets- und Regionskomitees, an die Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien und an die Volkskommissare für Innere Angelegenheiten (NKWD) senden sollte, in dem er die Folter für legitim erklärte, und zwar rückwirkend für den Zeitraum ab 1937. Wir wissen davon, weil Stalins Nachfolger Nikita Sergejewitsch Chruschtschow diesen Umstand am 25. Februar 1956 in seiner Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« beklagt hat. Im Spätherbst 1939 wurde der so genannte Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland geschlossen. Von 1936 an waren fast alle bolschewistischen Führer der Oktoberrevolution in Schauprozessen vorgeführt und in ihrer großen Mehrheit getötet worden.

Als Vorwand hierfür dienten vermeintliche, behauptete oder auch tatsächliche Sympathien mit Trotzki, der sich seit 1927 in der Opposition befunden hatte. Zuerst aus dem Politbüro entfernt, dann aus der KPdSU, schließlich aus der UdSSR, gelangte er über Exilstationen in Kasachs­tan, in der Türkei, in Frankreich und in Norwegen nach Mexiko, wo er seinen Mörder traf. Viele andere hatten die Erfahrung von Verfolgung, Inhaftierung, Verbannung und Zwangsarbeit gleichermaßen machen müssen. Menschen aus dem Ausland, in der Regel überzeugte Kommunisten und Kommunistinnen, die mit großem Optimismus in die UdSSR gegangen waren, kamen niemals zurück. Dennoch forderten die kommunistischen Parteien in ihren jeweiligen Ländern die bedingungslose Unterstützung für die UdSSR.

Dazu gehörte auch, dass jede und jeder, der oder die die Sowjetunion öffentlich zu kritisieren wagte, heftig angegriffen wurde.

Kritikern wie dem französischen Schriftsteller André Gide, der 1936 in einem Reisebericht über die UdSSR Kritik übte, begegnete man – in der Wortwahl nicht eben fein – mit dem Vorwurf, sie würden, indem sie die moralische Vormachtstellung der UdSSR anzweifelten, dem Hitler­faschismus den Weg ebnen. Das war die Linie der sowjetischen KP und offenbar der Grund, der die Schriftstellerin Anna Seghers dazu bewog, Victor Serge öffentlich in den Rücken zu fallen. Auf dem Schriftstellerkongress »zur Verteidigung der Kultur«, der 1935 in Paris abgehalten wurde, weigerte sie sich, eine Diskussion über Serge zuzulassen. Als die Französin Magdalena Paz Solidarität mit Serge forderte, erklärte Seghers: »Der Fall Serge gehört nicht hierher. In einem Hause, in dem es brennt, kann man nicht einem Menschen helfen, der sich in den Finger geschnitten hat. Und wir befinden uns in den Ländern der bürgerlichen Ordnung in einem brennenden Haus.«

Tatsächlich war Victor Serge, der seit 1927 zur trotzkistischen Opposition zählte und 1928 zum ersten Mal verhaftet worden war, seit 1933 erneut inhaftiert und in ein Gefängnis in Orenburg verbracht worden. Im Gegensatz zu vielen anderen aber verfügte er über internationale Kontakte, dank derer eine Solidaritätskampagne für ihn ins Leben gerufen wurde, die sich mit illustren Namen wie George Duhamel und André Gide schmücken konnte und die im Jahr 1936 tatsächlich zu seiner Freilassung führte. Endlich konnte er mit seiner Familie die UdSSR verlassen. Doch kaum war er in seinem Asylland Belgien angekommen, brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Julián Gorkin besuchte ihn in Brüssel und wurde gewarnt. »Wenn Stalin sich dazu entschlossen hat«, erklärte ihm Serge, »in Spanien zu intervenieren, während in Russland gerade die Opposition liquidiert wird, kann er auch keine Opposition von außen wie die eure tolerieren.«

Diese Vorhersage wurde nur allzu schnell wahr: Im Juni 1937 wurden in Spanien zahlreiche Mitglieder der als trotzkistisch bezeichneten Poum verhaftet. Zu trauriger Berühmtheit brachte es der Fall eines anderen Mitbegründers der Partei, Andrés Nin, der nach wochenlanger Folter in einem kommunistischen Geheimversteck ermordet wurde.

Nach der Niederlage der spanischen Republik im Sommer 1939 blieb den Besiegten nichts anderes übrig als die Flucht über die Pyrenäen nach Frankreich, wo auch Serge sich wieder niedergelassen hatte. Und wo man bald seines Lebens nicht mehr sicher war, nachdem die Truppen Hitlers Frankreich angegriffen hatten: Am 16. Juni 1940 kapitulierte Frankreich vor den Deutschen, nationalsozialistische Truppen besetzten drei Fünftel des Landes. Die einzige Möglichkeit, die die von den Nationalsozialisten bzw. von Anhängern des kollaborierenden Vichy-Regimes Verfolgten noch hatten, war die Flucht nach Marseille, wo man versuchen konnte, mittels einer Schiffspassage nach Übersee zu flüchten.

Dass ihm das Überleben auch dieses Mal gelang, verdankte Serge den Aktivitäten des US-Amerikaners Varian Fry, der ihn in seinen Erinnerungen als magenkranken, scharfsinnigen Bolschewiken charakterisiert, als einen quasi Besessenen, der entweder über Trotzki, über Gefängnisse oder über Geheimdienste sprach und über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz verfügte. »Er wusste aus Erfahrung, was wir anderen nicht wussten – dass ›eine oder zwei Stunden‹ auf der Polizeiwache eines diktatorisch regierten Staates leicht zu Wochen, Monaten und sogar Jahren werden konnten.«

Varian Fry verfügte über ein Komitee und über Geld, um verfolgten und von Verhaftung und Ermordung bedrohten Europäern die Einreise in die USA zu ermöglichen. Er mietete in Marseille eine Villa an, in der zahlreiche, allerdings ausgewählte, Künstler und Künstlerinnen wie André Breton und seine damalige Frau, Max Ernst, Roger Péret sowie zahlreiche andere, wie eben Victor Serge, Unterschlupf fanden, bis sich ihre Überfahrt bewerkstelligen ließ.

Serge gelangte 1941 auf einem Schiff mit dem Namen »Paul Lemerle« nach Amerika. Auf demselben Schiff befand sich Anna Seghers. Serge reiste mit seinem Sohn, und ein Jahr später, im Frühjahr 1942, folgte die Archäologin Laurette Séjourné, seine Lebensgefährtin der letzten Jahre, und brachte die Tochter mit in ein Leben, das in erster Linie aus hektischem Schreiben bestand, denn die Welt sollte gewarnt sein. Doch die mexikanische Öffentlichkeit nahm diese Bestrebungen und die zahlreichen Auseinandersetzungen mit der stalinistischen Linken mit Befremden auf. Julián Gorkin beschreibt die Situation folgendermaßen: »Was wollten all diese Stalinisten, Trotzkisten, Bundisten, Rechtssozialisten, Linkssozialisten und Anarchisten«, schrieb er, »und warum kamen sie her, um hier ihre Streitereien auszutragen? Die Mexikaner verstanden uns nicht, für sie waren wir, wenn’s hoch kommt, ein interessantes Spektakel.«

Serge lebte abgeschieden, er schrieb fortwährend, aber nur ein Bruchteil dessen, was aus seiner Feder floss, wurde im Verlauf der vergangenen 60 Jahre veröffentlicht. Immerhin: Es gibt mehrere Romane, seine Autobiografie, eine Biografie Leo Trotzkis, die Serge gemeinsam mit der Witwe Trotzkis, Natalia Sedowa, erarbeitet hat, und zahlreiche Einzelbeiträge für Zeitschriften.

Und immer wieder mussten Freunde zu Grabe getragen werden, die sich ihrerseits nach Mexiko geflüchtet hatten. So starb im Juni 1943 der deutsche Rätekommunist und Reformpä­da­goge Otto Rühle an einem Herzinfarkt. Auf Einladung des mexikanischen Erziehungsministeriums hatte er sich bereits seit 1935 in Mexiko aufgehalten. Rühles Ehefrau, die Schriftstellerin und Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel, sprang nach seinem Tod aus dem Fenster. Ein Jahr später, im Juni 1944, starb Fritz Fraenkel, Arzt, Psychologe, Suchtmediziner und ehemaliges KPD-Mitglied, der sich seinerseits von den kommunistischen Parteien distanziert und sie kritisiert hatte.

Gustav Regler führte die Tatsache, dass seine Frau, Marielouise Vogeler erst an Depressionen und später an Krebs erkrankte, auf die zahlreichen Anfeindungen zurück, mit denen ehemals gute Freunde und Freundinnen auf die Renegaten, die »Verräter«, wie man sie nun nannte, reagiert hatten. Einige Freunde begleiteten Marielouise Vogeler auf ihre letzte Reise, Regler schreibt: »Ich bannte alle jene Bekannten, die so gern von Krankheiten redeten; ich zensierte die amerikanischen Zeitungen, die in ihrem Realismus oft ziemlich weit gingen; der kleine Kreis der Freunde spielte diese Eroica ergeben mit, Alice kochte erlesene französische Speisen, brachte jede Woche ein neues Bild, ihr Zimmer neu zu beleben, ihr Arzt sprach unentwegt von Wunderheilungen, sie sprach die Märchen gläubig nach. Ich habe nie herausgefunden, wie viel das nahe Ende ihr half zu diesem Glauben oder ob es Herzenshöflichkeit war, die sie uns gegenüber übte.«

Marielouise Vogeler starb im August des Jahres 1945, unmittelbar nach der Katastrophe von Hiroshima. Regler erinnert sich: »Serge saß am Fenster und betrachtete einen Zweig mit gelben Orchideen. Alice hatte den Zweig gebracht, aber Marielouise hatte ihn nicht mehr angesehen: ›C’est la preuve‹, hatte sie mir zugeflüstert im Garten. ›Elle est déjà partie.‹ Sie sagte es leise, aber es wurde noch endgültiger dadurch; sie war zum Kamin gegangen, sie wollte nicht, dass man auch nur ein Wort darüber verliere, jeder hatte das Recht auf seinen eigenen Tod. Sie sprach mit keinem der Besucher, die immer zahlreicher wurden; sie saß am Kamin und sah in die Asche, die hie und da leise rot aufatmete.«

Victor Serge ahnte nicht, wie es um ihn selbst stand, als er am Sterbebett der Freundin saß und einen Orchideenzweig betrachtete. Sein Herz war angegriffen, die Jahre des Mangels und des Hungers, die Zeit in französischen, spanischen und russischen Gefängnissen hatten ihre Spuren hinterlassen. Als ihm übel wurde an diesem 17. November des Jahres 1947, rief er ein Taxi, um sich weitere Anstrengung zu ersparen. Als der Fahrer sich nach ihm umwandte, um nach dem Ziel zu fragen, war Victor Serge bereits tot.

Er hinterließ seine letzte Lebensgefährtin, Laurette Séjourné, die später eine bekannte Alt­amerikanistin werden sollte und die ihn um mehr als ein halbes Jahrhundert überlebte, seine Tochter Jeannine und den Sohn Wladimir (»Vlady«), aus dem ein bekannter mexikanischer Maler wurde. In Cuernavaca, wo ihn am Trotzkismus orientierte Gruppen und Personen besuchten, ist er am 21. Juli 2005 verstorben.

Victor Serge wurde in Mexiko begraben, ein in Belgien geborener Russe, der keine Gelegenheit mehr hatte, in seine Wahlheimat Frankreich zurückzukehren. Seine nachgelassenen Papiere und Manuskripte befinden sich in den Archiven der Yale-Universität in den USA und warten darauf, zur Kenntnis genommen zu werden.

Literatur:

Victor Serge: Beruf: Revolutionär. Erinnerungen 1901–1917–1941. Frankfurt/Main 1967

Julián Gorkin: La muerte en México de Victor Serge (Nachruf auf Serge, Übersetzung aus dem Spanischen: Birgit Schmidt)

Christiane Zehl-Romero: Anna Seghers. Berlin 2000

Pablo Neruda: Ich bekenne, ich habe gelebt. München 2002

Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Köln 1998

Emma Goldman: Gelebtes Leben. 3 Bände, Berlin 1978 - 1980

Angelica Balabanoff: Erinnerungen und Erlebnisse. Berlin 1927

Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, München 1986

Susan Weissman: The course is set on Hope, London/New York 2001

Eine ausführliche Bibliographie von Serges Werken findet sich im Marxists’ Internet Archive.