First in the nation

Schlechte Schauspieler, gute Sandwiches und jede Menge Spaß. Unser Wahl­be­obach­ter hat die Primaries in New Hampshire verfolgt. von david reed (text und fotos)

4. Januar, New London, New Hampshire

Als ich noch in Kalifornien lebte, war ich mit ­einem Freund darin einig, dass das System der Primaries bei der Präsidentschaftswahl unfair ist. »Warum«, fragten wir uns, »soll New Hamp­shire alle Aufmerksamkeit erhalten?« Aber eine Ortsveränderung ermöglicht wirklich eine neue Perspektive, zumindest war es bei mir so. Jetzt sage ich den Leuten, sie sollen entweder nach New Hamp­shire ziehen oder aufhören, sich zu beschweren.

Ah, New Hampshire. Gestern hat mein Sohn Ethan auf dem Weg zum Kindergarten geweint, die Temperatur lag weit unter null, und ein heulender Wind fuhr ihm ins Gesicht. Ich erzählte ihm, dass mongolische Krieger unter ähnlichen Bedingungen zur Schule gehen mussten, und so un­terbrachen wir gestern abend meine Suche nach den Ergebnissen des Caucus in Iowa, um nach Bildern von altertümlichen Krie­gern zu suchen.

Heute ist es nicht mehr so windig, und Ethan weint nicht. Das Wetter ist klar und frisch, ein großartiger Tag.

Als ob das nicht genügte, sind ganze Flugzeugladungen von Politikern und Journalisten über den Staat gekommen, wegen der Primary, der ersten im ganzen Land. Der Gewinner des Caucus in Iowa, Mike Huckabee, kommt ins New Eng­land College. Also, packe die Kameratasche; mache mich auf den Weg. Huckabee hat eine ansehn­liche Menschenmenge angelockt, und die Bridges-Turnhalle (Heimstadion der Pilgrims, Basketballmannschaft aus der 3. Division der NCAA) ist voll, auch wenn viele der Besucher Journalisten sind. Aber er reist mit dem Hollywood-Star und ehemaligen Kampfsportmeister Chuck Norris, und es ist nicht völlig klar, an wem das Publikum mehr interessiert ist.

Nachdem einige Leute vorgestellt worden sind, tritt Huckabee vor und erklärt, was für ihn die beste Art sei, nach einer durchgemachten Wahlkampfnacht wach zu bleiben: Gitarre zu spielen. Er nimmt sich einen Bass und schließt sich für überraschend viele Songs der Aufwärm-Band an. Er schafft es, zwischen den Sets eine ­aufrüttelnde Rede einzuschieben, in der er wiederholt auf die Tatsache hinweist, dass er es für völlig in Ordnung hält, Spaß zu haben. Tatsächlich macht er einen ganz guten Eindruck, und abgesehen von der Tatsache, dass er nicht an die Evolution glaubt, könnte ich mir fast vorstellen, für ihn zu stimmen.

Seine anderen potenziellen Wähler scheinen von all dem Spaß weniger beeindruckt zu sein, viele verlassen die Turnhalle, bevor Huckabee seine Zugabe beendet, und verpassen damit die Gelegenheit, ihre Babies mit einem führenden Präsidentschaftskandidaten fotografieren zu lassen.

5. Januar

Heute ist der Tag der Debatten der Republikaner und der Demokraten im St. Anselm College, und dessen Homepage zitiert stolz den Politikstudenten Dan Scholfield aus Albuquerque, New Mexico: Die Vorwahlen seien eine »SPASSIGE ZEIT« in New Hampshire. Die groß geschriebenen Großbuchstaben werden nur von denen des College-Namenszugs übertroffen.

In Vorbereitung auf die Debatten legen fast alle Kandidaten eine Wahlkampfpause ein, aber ich schaffe es zu einer Veranstaltung von John Edwards in einem Freimaurergebäude in Concord. Edwards scheint über mehr Geld zu verfügen als Huckabee, oder vielleicht braucht er bloß dringender eine positive Berichterstattung – den Journalisten werden großzügig Sandwiches und Getränke zur Verfügung gestellt. Er hat seine Wahlrede etwas verschärft, seit meine Frau Vika und ich ihn diesen Sommer gesehen haben, und er spricht immerhin auch ein seltsam verdächtiges Element seines Wahlkampfs an, nämlich dass er sich Sorgen mache. Er sei so besorgt, weil der Wahl­kampf für ihn etwas Persönliches sei. Okay. Das andere Problem ist, dass sein Gerede gegen die multinationalen Konzerne gut klingt, aber wie soll ihn irgendjemand ernst nehmen, wenn er keine Spenden von Konzernen nimmt?

Edwards hat sich auf den Weg zur nächsten Station seines Wahlkampfs gemacht, und ich fotografiere die Nachwirkungen seines Besuchs (# 6), fahre dann nach Nashua, um Filme entwickeln zu lassen. Ich fotografiere Wahlkampfhelfer auf der Main Street, fahre dann zurück nach Manchester.

Aufgrund irgendeines Kommunikationsfehlers hat mich ABC nicht auf die Akkreditierungsliste für die heutigen Debatten gesetzt. Ich sage, ich sei für die Jungle World hier, aber irgendwie macht das nicht ganz den Eindruck, den ich mir erhofft hatte, und ich gehe wieder auf die Straße.

Auch draußen gibt es jede Menge Action: Kucinich ist nicht eingeladen worden (noch ein Kandidat, der versucht, es ohne Unterstützung der Konzerne durchzuziehen), hat sich aber entschlossen, trotzdem zu erscheinen, in der vagen Hoffnung, die Veranstalter würden ihre Meinung ändern und ihn einlassen. Kein Glück. Er musste außerdem seinen Wahlkampfbus im Parkverbot im St.Anselm’s Drive parken, und so kann ich ihn und sein Gefolge auf einem improvisierten Demonstrationszug zurück zum Bus fotografieren, gefolgt von zwei überdimensionalen, übermäßig rosigen Schweinen in einem Cabrio, die Schilder tragen, auf denen »Stop Global Warming: Tax Meat« steht.

Ich weiß, man soll auf Fleisch verzichten, um die globale Erwärmung aufzuhalten, aber ich muss zugeben, dass ich doch ein Sandwich auf Edwards’ Versammlung gegessen habe. Notiz für den erwachsenen Ethan, falls ich ihm einen zerstörten Planeten hinterlasse: Entschuldigung.

Ich gehe zum »Demobereich«, der sich praktischerweise auf einem Parkplatz am Rand des Campus befindet, weit weg von den Debatten. Die Abgelegenheit des Ortes scheint die Demonstranten nicht zu stören, die mit diversen Schildern winken und sich die Lungen aus dem Hals schreien (# 3 und # 9) oder – im Fall der Unterstützer Kucinichs – stumm und mit zugeklebten Mündern dastehen.

Es ist viel wärmer geworden – die Höchsttemperatur lag heute über null, aber trotzdem ist mir kalt. Frage nach dem Weg zum Pressezen­trum.

Ich schleiche hinein, greife mir ein Sandwich. (Nochmals: Entschuldigung. Auch ihr anderen Kinder.) Es ist großartig, drin zu sein, aber ohne richtige Akkreditierung sitze ich hier fest. Warte auf das Ende der Debatten; schließe mich dem Rennen hinüber zum Expertenraum an, aber bei all den VIPs da drin sind die Sicherheitsvorkehrungen ziemlich streng.

Glücklicherweise sind sie im Debattiercenter nicht auf der Hut, und ich setze mein bestes »Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram und weiß, wo ich hingehe«-Gesicht auf. Ich warte, bis ein Journalist den Raum verlässt, schlüpfe dann hinein und bewege mich entschlossen den Korridor hinunter. Aber es dauert nicht lange, bis ich feststelle, dass ich gar nicht weiß, wo ich hingehe. Zum Glück scheint es niemanden zu interessieren. Finde einen Weg hinter die Bühne, bis an einen Ort, an dem vor kurzem zwei baldige Parteikandidaten und (mindestens) ein zukünftiger Präsident in das gleißende Licht der Fernsehscheinwerfer getreten sind.

6. Januar

Das Telefon hört nicht auf zu klingeln, alles Anrufe, die mit den Vorwahlen in Verbindung stehen, und meine Begeisterung lässt schnell nach. Aber gegen 18 Uhr kommt der eine Anruf, für den es sich wirklich gelohnt hat, heute zuhause zu bleiben. Es ist Emily von der University of New Hamp­shire, die im Auftrag von CNN anruft. Sie möchte unter anderem wissen, wen ich wählen werde. Wow! Zwei Nächte vor der Abstimmung kann ich an einer Umfrage teilnehmen! Bedenkt man, dass Umfragen die Primary beeinflussen, und die Primary die landesweite Wahl beeinflusst … Ich bin kein Mathematiker, aber ich rechne es mir so aus: Wenn eine halbe Million Wähler aus New Hampshire die Wahl für 100 Millionen Amerikaner entscheidet, hat man schon 200 Stimmen für den Preis von einer. Aber wenn 1 000 Wähler aus New Hampshire kurz vor der Wahl in einer Umfrage befragt werden, liege ich bei einem Vielfachen von 500, nämlich bei 100 000 Stimmen – wegen dieses einen Telefonanrufs. Und berücksichtigt man, dass nur ein Drittel der Bevölkerung wählen geht, dann habe ich gerade für 300 000 Leute die Stimme abgegeben! Unnötig, noch an der Wahl teilzunehmen. Ich habe mein Zeichen schon gesetzt. Rufe Freunde in Kalifornien an. Prahle. Wie sich herausstellt, muss man gar nicht nach New Hampshire ziehen, um etwas zu bewirken.

7. Januar

Ich finde es schade, wenn Ethan den Kindergarten versäumt, aber Obama wird heute in Claremont und Lebanon sein, und wenn man den Umfragen glaubt (ich tue es!), ist er der Favorit für das Präsidentenamt. Wie kann ich es zulassen, dass mein Sohn eine solche Gelegenheit verpasst? Fahre mit ihm zur Steven’s High School. Nach der Rede drängeln wir uns zum Absperrseil durch. Noch bevor wir die erste Reihe erreichen, bleiben wir stecken, aber Obama hat lange Arme, und Ethan, der auf meiner Schulter sitzt, schafft es gerade so, ihm die Hand zu schütteln. Obama fragt Ethan, wie es ihm geht. Wow! Und der Tag hat erst angefangen.

Es ist nur eine halbe Stunde oder so nach Lebanon, aber nachdem wir in der High School nach Souvenirs gesucht und eine Toiletten- und eine Übelkeitspause eingelegt haben, sind wir spät dran für das nächste Ereignis. Die Leute, die nicht mehr eingelassen wurden, drängeln sich vor dem Opernhaus. Obama kommt heraus, hält eine kurze Rede und schüttelt Hände, während Neugierige das Gedränge beobachten (# 2). Ein Freiwilliger sieht unseren Presseausweis von der letzten Veranstaltung, verschwindet im Gebäude, um zu sehen, ob genug Platz für noch zwei Körper ist, kommt dann zurück, um uns einzulassen, und sagt zum Brandschutzbeauftragten: »Die beiden sind die Letzten. Sonst niemand mehr.«

Diesmal schaffe ich es in die erste Reihe und finde mich direkt gegenüber dem neuen Kandidaten der Stunde wieder. Plötzlich bin ich verlegen. Ich schüttle seine Hand und wünsche ihm Glück. Er wirft mir einen kurzen, skeptischen Blick zu und geht weiter.

Draußen treffen wir Angelina, die Ethan schon bei Chris Dodds Besuch in New Hampshire kennengelernt hat. Sie spielen im schmelzenden Schnee, bis sie kalt und durchnässt sind. Auf der Fahrt nach Hause sehen wir Obamas Bus, der gerade auf den Highway 11 einbiegt und New London verlässt. Ohhhh. Wir stellen fest, dass Barack Obama wohl bei »Jack’s« war, einem Restaurant nur eine halbe Meile von unserem Haus. Und wir haben es verpasst.

Aber Obama ist nicht der einzige Kandidat. Die Clinton-Familie wird das Executive Health and Sports Center in Manchester besuchen. Ich setze mich wieder ins Auto.

Es gibt Essen und Getränke für die Presse, aber es ist nicht so schick wie bei Edwards, und es wird zu einem ziemlich satten Preis verkauft. Was denken die sich? Man will doch keine ärgerlichen Journalisten mit knurrenden Mägen auf der letzten Versammlung vor der Wahl, oder? Es sind viele berühmte Journalisten anwesend, aber das Wahlkampfteam geht das Risiko ein, und niemand scheint es zu stören.

Hillary wirkt ruhiger als sonst. Vielleicht ist sie müde, oder vielleicht ist das die neue, menschlichere Hillary. Hinterher werfe ich mich in den Kampf (# 5) und komme ihr nahe genug, um ein Autogramm zu ergattern. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Auf dem Weg zum Ausgang finde ich ein letztes Fotomotiv (# 11). Laufe dann zum Auto.

8. Januar

Verschlafe. Wähle spät, und nur einmal. In New London, Bevölkerung 4 500 oder so, haben sich Demonstranten aus mindestens drei anderen Staaten vor dem Rathaus versammelt (# 4).

Es wird spät, und die Feiern werden bald beginnen. Fahre nach Nashua. Auf dem Weg höre ich im Radio eine Sendung mit Ratschlägen, wie man eine Wahlniederlage eingesteht: Man sollte sich bedanken, aber nicht bei zu vielen Leuten. Man sollte außerdem die Leute daran erinnern, warum man angetreten ist. Wenn man es nicht in ein paar Minuten schafft, weiß man wahrscheinlich selbst nicht, warum man angetreten ist. War das ein Rat für Hillary?

Als ich zum Crown Plaza komme, hat McCains Feier bereits begonnen. Die Menge wedelt mit kleinen Flaggen und unterbricht McCains Sieges­ansprache immer wieder mit dem Ruf »Mac is back«.

Irgendwo vorne im Konferenzraum sonnt sich McCain im Glanz seines Überraschungssieges. Dummerweise habe ich den Teil der Radiosendung verpasst, in dem erläutert wurde, wie man Siegesreden beurteilt. Er fasst sich kurz und lässt die Leute ohne ihn weiterfeiern (# 8 und # 10) und mich das leckerste Essen der ganzen bisherigen Wahlkampfsaison genießen. Mache Fotos von den Resten (# 7), dann geht es weiter zur nächsten Party.

Als ich bei Hillarys Feier ankomme, hat sie schon alle Hände geschüttelt.

Bei anderen Veranstaltungen waren die Abbaukräfte bisher immer sehr effizient, aber heute haben sie alles stehen und liegen lassen und ich befinde mich in einer großen, leeren Kulisse. Ein paar versprengte Journalisten packen zusammen und verlassen den Raum. Fotografiere die letzten Gäste (# 1), warte bis alle gehen. Auf einmal habe ich die ganze Halle für mich allein. Genieße die Ruhe für eine Weile, dann fahre ich durch den Nebel nach Hause.

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster