Der Spiegel der Natur – Eine Kritik der Philosophie
Als ich dann Ende 1996 gerade entlassen worden war, gewann Mutter eine kleine Produkthaftungsklage und verwendete das Geld prompt für eine Schönheitsoperation, um sich die Krähenfüße um die Augen entfernen zu lassen. Der Schönheitschirurg verpfuschte die Sache aber und veränderte ihre Fazialismuskulatur, sodass sie von da an immer so aussah, als sei sie schier wahnsinnig vor Angst. Sie wissen bestimmt, wie das Gesicht eines Menschen in dem Sekundenbruchteil aussieht, bevor er zu schreien anfängt. So sah Mutter neuerdings aus. Ein winziger Ausrutscher des Skalpells beim Eingriff genügt, und man sieht aus wie jemand in Hitchcocks Duschszene. Also unterzog sie sich einer zweiten Schönheitsoperation, um die Sache zu korrigieren. Der zweite Chirurg verpfuschte die Sache aber ebenfalls, und der Ausdruck der Angst wurde noch schlimmer. Diesmal besonders um den Mund herum. Sie bat mich um meine ehrliche Meinung, und ich fand, die war ich unserer Beziehung auch schuldig. Ihre Krähenfüße gehörten tatsächlich der Vergangenheit an, aber jetzt war ihr Gesicht eine chronische Maske blanken Entsetzens.
Sie ähnelte Elsa Lanchester, als die in Frankensteins Braut, dem Klassiker des Studiosystems von 1935, erstmals ihren künftigen Partner sieht. Nach dem zweiten verpfuschten Eingriff half auch keine Sonnenbrille mehr, weil die den offenstehenden Mund, die mandibulare Streckung, die hervortretenden Sehnen und so weiter nicht verdecken konnte. Sie verwickelte sich also in den nächsten Prozess, und wenn sie mit dem Bus zum Büro des Rechtsanwalts fuhr, für den sie sich entschieden hatte, eskortierte ich sie. Wir saßen vorn im Bus auf einer der längeren Sitzreihen, die längs statt quer angeordnet sind. Wir hatten experimentell nachgewiesen, dass es nicht ratsam war, sich weiter hinten in eine der konventionelleren Sitzreihen zu setzen, wo man in Fahrtrichtung sah, weil manche Mitfahrende sichtlich zusammenzuckten, wenn sie einstiegen, beim Gang durch den Gang die anscheinend reflexartige Handlung absolvierten, kurz die Gesichter der Menschen in den Reihen zu mustern, die sich bis in den rückwärtigen Teil des Busses zogen, und plötzlich Mutters gestrecktes und tonlos schreiendes Gesicht erblickten, das ihnen mit dem Ausdruck nackten Grauens entgegensah. Und es gab einige solche Fälle und Blickkontakte, bevor ich mich des Problems annahm und die gangbarere rechtwinklige Sitzgewohnheit entwickelte. Den vorliegenden Quellen lässt sich keine hinreichende Begründung entnehmen, warum man nach dem Einsteigen diese Gesichtsmusterung durchführt, eine zugegebenermaßen unbelegbare These wäre indes, dass es sich dabei um einen atavistischen Verteidigungsreflex unserer Spezies handelt. Nun bin ich kein besonders gut gewähltes Exemplar dieser Spezies, sofern Mutter an Unauffälligkeit gelegen war, da mein Kopf alle anderen in der Menge turmhoch überragt. Ich bin ein groß geratenes Exemplar mit einer distinktiven Färbung, und mein äußeres Erscheinungsbild würde kaum jemanden darauf schließen lassen, dass ich zu solcher Lernbegierde neige. Dazu kommen noch die Brillen und speziell angefertigte Handschuhe für die Feldforschung, schließlich ist es keineswegs ausgeschlossen, auch in Bussen des öffentlichen Personennahverkehrs Exemplare zu finden, wiewohl entsprechende Studien bislang nicht von Erfolg gekrönt waren. Nein, wenn das offene Wort gestattet ist, so kann ich nicht behaupten, ich genösse es, mit ihr Bus zu fahren, dieweil sie sich alle erdenkliche Mühe gibt, die chronische Miene durch die Bewusstheit von deren Peinsamkeit nicht noch entsetzter erscheinen zu lassen. Auch kann ich wahrheitsgemäß nicht behaupten, ich freute mich darauf, zweimal pro Woche in einem Pseudowartezimmer zu sitzen und in Rundbriefen der Rotarier zu blättern. Es ist ja nicht so, als obläge ich keinen anderen Beschäftigungen und Studien, die meine Zeit beanspruchen. Aber was soll man machen, zu meinen Bewährungsauflagen gehört die eidesstattliche Versicherung meiner Mutter, als mein Vormund für mich zu bürgen. Jeder Beobachter der Wirklichkeit unseres Zusammenlebens seit dem zweiten Eingriff würde mir aber wohl zustimmen, wenn ich sage, dass es in Wahrheit umgekehrt ist, denn infolge der Niedergeschlagenheit und Furcht vor den Reaktionen anderer ist sie nahezu außerstande, das Haus zu verlassen, und kann den schmeichelnden Vorladungen des Anwalts in sein Büro nur in meiner Begleitung und unter meinem Schutz nachkommen. Ferner habe ich direktes Sonnenlicht stets gescheut und bekomme schnell einen Sonnenbrand. Diesmal wittert der Anwalt Gewinne durch Veränderungen der Marktlage, wenn bzw. falls er Mutter in den Gerichtssaal bringen und die Folgen der schönheitschirurgischen Kunstfehler von den Geschworenen selbst beurteilen lassen kann. Seit meinem eigenen Fall habe ich auch immer eine Aktentasche dabei. Heute würde man eine Aktentasche wohl ein sematisches Accessoire nennen, um potenzielle Raubtiere abzuschrecken. Seit dem ersten Kunstfehler habe ich mich gegen Mutters chronische Entsetzensmiene im Großen und Ganzen immunisiert, nur die sichtbaren Reaktionen anderer auf uns können mir immer noch Unbehagen bereiten; das erfordert einige Gewöhnung. Ein rundes Buslenkrad ist nicht nur größer, sondern auch in einem horizontaleren Anstellwinkel angebracht als in mir bekannten Taxis, Privatwagen oder Streifenwagen, und der Busfahrer bewegt es mit ausladenden Ganzkörperbewegungen, die der Geste ähneln, mit der man bei einem plötzlichen Gefühlsausbruch Dinge von einem Tisch oder anderen Flächen fegt. Und die speziellen Perpendikularsitze im vorderen Segment des Busses erlauben eine gute Sicht darauf, wie der Fahrer mit dem Bus ringt. Nicht dass ich auch nur das Geringste gegen den Jungen gehabt hätte. Es gibt auch keine Staats-, Kreis- oder Gemeindeverordnung, die einschränkte, welche Varietäten studiert werden dürfen, oder etwa vorschriebe, mehr als eine festgesetzte Anzahl derselben erfülle den Tatbestand der Fahrlässigkeit oder errege öffentliches Ärgernis. Wenn ihr Termin am Vormittag ist, hat der Fahrer in der Tasche neben dem Münz- oder Chipautomaten manchmal eine zusammengefaltete Zeitung dabei, die er an roten Ampeln zu lesen versucht, aber viel Tageslektüre dürfte er auf die Weise kaum bewältigen. Er war erst neun Jahre alt, was wiederholt betont wurde, als untermaure es eine etwaige Vernachlässigung der Aufsichtspflicht meinerseits. Eine häufig vorkommende asiatische Spezies verfügt nicht nur über die ventralen Kennzeichen, sondern auch über eine gerade rote Linie auf dem Rücken, der sie ihre heimische Bezeichnung »Rotrückenspinne« verdankt. Standardtests haben mir sowohl Lernbegierde als auch eine herausragende Merkfähigkeit attestiert, die sie nie auch nur anzweifeln würde. Meine Theorie ist ja, dass der Fahrer seine Zeitung liest und sie beim Umspringen der Ampel auf grün widerwillig wieder zusammenfaltet und in die Tasche zurücksteckt, um die ohnmächtige Ablehnung zu signalisieren, die er seiner Festanstellung entgegenbringt, und ein vom Gericht berufener Psychologe könnte die Zeitung als Hilferuf interpretieren. Üblicherweise setzen wir uns jetzt auf die lateralen Plätze auf der Seite der Bustür, was die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sich zusteigende Fahrgäste plötzlich und frontal ihrem Gesichtsausdruck ausgesetzt sehen. Auch diese Lektion haben wir auf die altmodische Weise gelernt. Das einzige unbeschwerte Intermezzo trug sich zu, als man ihr den Spiegel brachte, die Verbände der ersten Operation entfernt wurden und sich zunächst nicht mit Sicherheit sagen ließ, ob die Miene die Reaktion auf das im Spiegel Gesehene oder ob dieses der Reiz war, der den Lärm verursachte. Mutter ist an und für sich ein grundanständiges, wenn auch eitles, verbittertes und furchtsames Weibchen ihrer Gattung, aber sie hat, mit Verlaub, bloß gegurgelt, wo andere Menschen vom Quell des Wissens trinken, und konnte zunächst selbst nicht mit Sicherheit sagen, ob der Ausdruck blanken Entsetzens die Reaktion oder der Reiz war, und wenn es die Reaktion war, worauf die Reaktion dann reagierte, wenn die Reaktion selbst der Gesichtsausdruck war. Was für Verwirrung ohne Ende sorgte, bevor man sie sedieren konnte. Der Chirurg lehnte an der Wand, die Stirn an die Wand gelegt, eine Haltung, die signalisierte, ja, das Ergebnis der Operation stellte ein objektives Problem dar. Den Bus nehmen wir, weil wir kein Auto haben, eine Situation, der dieser neue Anwalt mit Zins und Zinseszins, wie er sagt, Abhilfe schaffen kann. Die ganze Anlage war sorgfältig abgesperrt und abgetrennt, und selbst die Staatsanwaltschaft gab zu, wenn er nicht da oben auf dem Dach von anderer Leute Garage herumgeklettert wäre, dann wäre er nie im Leben mit ihnen in Kontakt gekommen. Das hatte Einfluss auf die Bewährungsauflagen. Anfangs war es im Bus auch nicht uninteressant zu sehen, wie die Fahrgäste, die einen sei es auch noch so flüchtigen Blick auf ihre Miene erhascht hatten, reflexartig das Geschehen jenseits des Fensters suchten, auf das Mutters faziales Entsetzen zu reagieren schien. Ihre Angst vor dem Stamm Arthropodae reicht weit zurück, weshalb sie sich nie in die Garage gewagt hat und vor Gericht auf ignorantia facti excusat berufen konnte, einen alten Rechtsgrundsatz. Ironischerweise geht darauf auch ihre ständige Anwendung von R–d zurück, obwohl ich ihr wiederholt erklärt habe, dass diese Spezies gegen Resmethrin und d-trans-Allethrin längst resistent ist. Die aktiven Wirkstoffe in R–d. Zugegeben, Witwenbisse sorgen für einen bösen Abgang, ihr potentes Neurotoxin veranlasste schon 1935 einen Arzt zu dem Kommentar Ich kann mich nicht erinnern, bei irgendeinem medizinischen oder chirurgischen Befund je stärkere Schmerzen gesehen zu haben, während das schmerzlose Toxin der Loxoceles oder Speispinne nur Nekrosen, also großflächiges Hautabsterben rings um die Bissstelle verursacht. Speispinnen legen dafür eine angeborene Aggressivität an den Tag, die Witwen nur zeigen, wenn man sie stört. Was er getan hatte. Das Businnere ist fleischfarbenes Plastik, und über den Fenstern findet sich Werbung für rechtliche und medizinische Dienstleistungen. Vieles davon par Español. Die Lüftung variiert in Abhängigkeit von Faktoren wie Auslastung. Die Phobie nimmt so extreme Formen an, dass sie in ihrer Stricktasche eine Spraydose dabeihat, die ich vor dem Aufbruch unweigerlich finde und mit einem unmissverständlichen Nein quittiere. In einigen bedauerlich unsensiblen Momenten habe ich gewitzelt, sie könne mit dem Bus ja bis nach Studio City und Umgebung weiterfahren und als Komparsin für einen der heutzutage unzähligen Filme vorsprechen, wo ganze Statistenhorden dafür bezahlt werden, aufzuschauen und entsetzt auf einen Spezialeffekt zu reagieren, der mittels Computer-aided Design erst später in den Film eingefügt wird. Was ich aufrichtig bedaure, schließlich bin ich der einzige Halt, den sie hat.
Ich finde die Behauptung allerdings ganz schön weit hergeholt, eine brüchige Stelle in einem zwanzig Jahre alten Garagendach erfülle den Tatbestand der Vernachlässigung oder Verantwortungslosigkeit. Wobei Hitchcock und andere Klassiker nur primitive Spezialeffekte eingesetzt und damit weit mehr Entsetzen hervorgerufen haben. Ganz davon zu schweigen, dass es sich bei ihm um unbefugtes Betreten handelte und er da oben nichts zu suchen hatte. In der Aussage unter Eid. Ganz von der Behauptung zu schweigen, mein Nichtvorhersehen eines unbefugten Eindringlings, der durch einen Teil des Garagendachs stürzte, ein komplexes und kostspieliges Terrarium aus getempertem Glas vollständig ruinierte, wobei durch dieses Malheur zahllose Exemplare zerquetscht, verstört oder freigesetzt wurden, was die Durchsetzung der nachbarschaftlichen Umgebung zur Folge hatte, erfülle den Tatbestand mangelnder Vorsichtsmaßnahmen. Und das begründet meine Vorliebe für die Klassiker filmischen Horrors. Da ich es prinzipiell ablehne, die Aktentasche unter den Sitz zu stellen, habe ich sie bei den häufigen Busfahrten immer auf dem Schoß. Ich hegte den ganzen Prozess über große Anteilnahme am Schicksal des Jungen und seiner Familie, vertrat aber die Ansicht, das Missgeschick, zu dem es nun einmal gekommen sei, rechtfertige keine hysterischen, erstunkenen und erlogenen Beschuldigungen. Ein Qualitätsanwalt hätte diesen Gedankengang für die Prozessunterlagen und Argumentationen in camera in rechtsgültige Termini übersetzt. In Wirklichkeit bietet sich eine Fülle von Anwälten aber nur dem Aggressor an, nicht seiner Beute; Anwälte sind Parasiten, im Fernsehen wimmelt es ja nur so von ihren 14 Werbespots, die den Zuschauer nötigen, geduldig auf die Gelegenheit zum Angriff zu warten, Liquidation auf prozentualer Basis; honorarfrei, wenn Sie der Aggressor sind! Man sah doch, wie sie nach Mutters ursprünglicher Produkthaftungsklage aus ihren Löchern gekrochen kamen. Objektiv weiß niemand, wie genau das Neurotoxin der Witwe bei größeren Säugetieren so starke Schmerzen und Qualen hervorrufen kann; die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, welchen evolutionären Vorteil dieses im Übermaß vorhandene Gift der einzigartigen, aber verbreiteten Spezies bei der Erlegung ihrer Beute verschafft. Die Wissenschaft wird sowohl von der glänzenden Witwe als auch von der durchschnittlicher wirkenden Speispinne oft vor den Kopf gestoßen. Außerdem sind die, die in den Schlamm der Schützengräben hinuntersteigen und ihr Leben für einen in die Schanze schlagen wollen, oft Schmierlappen so wie dieser angebliche Van-Nuys-Fahrlässigkeitsspezialist, den Mutter engagiert hat. In einem anderen Kontext wäre die Hysterie fast schon amüsant gewesen, denn in einer so ungepflegten Umgebung wie unserer Nachbarschaft dürften all die chaotischen Bruchbuden schon von Natur aus von ihnen befallen sein. Der überreiche Schutz des Chaos bietet ihnen einen idealen Nährboden. In Kellerecken, unter Regalen in Schuppen, Garagen und Wäscheschränken, hinter großen Haushaltsgeräten und in den unzähligen Spalten zwischen Müll und Gerümpel im ungejäteten Unkraut finden sich Exemplare verschiedenster Form und Aggressivität. Witwen in Sonderheit bevorzugen halbdunkle rechte Winkel für das Weben ihrer Netze. Beispielsweise in den Sommermonaten in den rechten Winkeln der Schattenseiten unter den Dachrinnen der meisten Gebäude. Man muss nur wissen, wonach man suchen soll. Deswegen sind die Brille und die Polyurethanhandschuhe auch unerlässlich, selbst in der Duschkabine, deren rechte Winkel schon nach ein paar Stunden der Abwesenheit befallen sein können. Witwen sind seit langer Zeit als emsige Weber bekannt. Und den Leuten außerhalb des fahrenden Busses, die so naiv unter Palmen stehen und auf ihre Busse warten, möchte man durchs Fenster zurufen Mietet eine Leiter und inspiziert mal genau die Unterseiten der Palmwedel! Weiß man nämlich erst, worauf man achten muss, stellt man fest, dass sie sich allerorten und vor aller Augen verbergen. Geduld ist ein weiteres Markenzeichen. Dieses Habitat und das angrenzende Binnenland beherbergt sowohl die exotischere Variante der Roten Witwe, deren ventrales Stundenglas braun oder bräunlich ist, als auch in den binnenländischen Wüstenregionen eine der beiden kleineren braunen oder grauen Spezies dieser Hemisphäre, die aridere Klimate bevorzugen. Dem Rot der Roten Witwe fehlt allerdings der fesselnde Glanz der vertrauteren schwarzen Varietät, es ist ein stumpfes oder mattes Rot; sie sind selten, und beide Exemplare sind bei seinem Malheur entkommen und bisher nicht zurückerworben worden. Wie so oft im Bereich der Arthropoden dominiert hier das Weibchen. Um ehrlich zu sein, wirkten Mutters Schmerzen und Qualen bei der ersten Produkthaftungsklage etwas übertrieben; in Wahrheit hustet sie weniger als bei ihrer Aussage unter Eid. Aber natürlich liegt es mir schon allein wegen der Dicke des Blutes fern, ihr Entbehrungen zuzumuten. Wenn sie mit ihrer Sonnenbrille zu Hause sitzt, strickt und meine Aktivitäten verfolgt, ist ihre Mundpartie ständig in Bewegung. Wissenschaftlich betrachtet, müsste ein großes Säugetier schon sehr viel d-trans-Allethrin inhalieren, um daraus resultierend bleibende Schäden zu erleiden, was, wie vorherzusehen war, die bescheiden ausfallende Höhe des Vergleichs beeinflusste. Die wahren Fakten liegen weniger als einen Zentimeter auseinander, und das macht den Unterschied aus zwischen Vivian Leighs weichen jungen Augen und ihrem chronischen Gesichtsausdruck unter der Dusche im gleichnamigen Klassiker von 1960. Die Aktentasche wird an ausgewählten winzigen Punkten in den Ecken belüftet, und 2,5 Dutzend im Inneren verteilte Styroporkeile schützen den Inhalt vor Stoß- und Rempelfolgen. Die Komplexität ihres neuen Falls dreht sich gerade um die Frage, wie man die Schadensersatzforderungen aufteilt zwischen dem ersten Chirurgen, dessen Nachlässigkeit ihr die schreckgeweiteten Augen und die Stirn bescherte, und dem zweiten, dessen herzlose Reparaturschnippeleien sie mit der chronischen Maske wahnsinnigen Leidens und Entsetzens zurückließen, die heute glücklicherweise nur dann zu Verwicklungen führt, wenn sich zufällig jemand auf den gegenüberliegenden Lateralsitz setzt. Gleich hinter dem Fahrer. Ein Haftpflichtrisiko kann Mutters Platzierung hier nämlich allenfalls dann werden, wenn sich jemand auf den gegenüberliegenden Sitz setzt und uns während der ganzen Fahrt genau in die Gesichter sehen kann. Und wenn dieser Jemand durch Umwelteinflüsse oder instinktives Temperament dazu prädisponiert ist, kann er zuweilen zu der Annahme neigen, ich sei der ihre Miene stimulierende Reiz. Ich mit meiner Größe und meinem unverwechselbaren Kennzeichen hätte diese entsetzte Frau mittleren Alters gekidnappt oder irgendwie bedroht, sodass er sich zu der Frage bemüßigt fühlt Ma’am, gibt es ein Problem? oder Warum lassen Sie die Dame nicht in Ruhe?, woraufhin sie ob dieser Reaktion in ihrem Strickschal noch tiefer im Boden versinken möchte, während meine antrainierte Reaktion in einem ruhigen Lächeln und dem verwirrt amüsierten Anheben der Handschuhe besteht, als wollte ich sagen Nun, wer kann denn schon mit Sicherheit sagen, warum jemand das Gesicht aufsetzt, das er gerade zur Schau stellt, guter Mann, wir wollen doch keine voreiligen, auf unzureichenden Daten beruhenden Schlüsse ziehen! Der ursprüngliche Schadensersatz wurde ihr zugesprochen, weil ein Arbeiter im Montagewerk die Düse einer Spraydose so aufgeklebt hatte, dass sie nach hinten zeigte, ein klarer Fall von Fahrlässigkeit. Die fünfte Bedingung des Vergleichs lautete, im Zusammenhang mit der Produkthaftungsklage niemals und unter keinen Umständen den Produktnamen des weitverbreiteten Haushaltssprays zu erwähnen, woran ich mich ihr zu Ehren halte, denn was recht ist, muss recht bleiben. Was die Paarung angeht, so hat es Rendezvous gegeben, die Chemie war jedoch unzulänglich, und Mutter neigt in Herzensangelegenheiten zu schwarzem Zynismus und rubriziert das gesamte Spektrum von Paarungsritualen unter Katastrophe in den Startlöchern. Als der Bus neulich den Victory Boulevard überquerte und ich zum Zwecke der Statusprüfung hinabsah, ragte aus einem Lüftungslöchlein die schlanke Spitze eines schwarzen, mit einem Gelenk versehenen Vorderbeins, schob sich hin und her, war von derselben leuchtenden Farbgebung wie die restlichen Exemplare und tastete zaghaft hierhin und dorthin. Unsichtbar vor dem eher unorganischen Schwarz der Aktentaschenseite. Unsichtbar für Mutter, deren Miene sich, wie ich unbeschwert sagen möchte, aber auch kein bisschen verändert hätte; hat man sich erst daran gewöhnt, ist es quasi ein Pokerface. Nicht einmal wenn ich die Aktentasche hier im Schoß öffnete und in den Mittelgang hinaus leerte, sodass sich der Inhalt ausbreiten und die in sich geschlossene Umgebung durchsetzen würde. Wobei es zum schlimmeren Fall nur käme, wenn man es mit einem jungen Duo von Punks oder feindlich gesonnenen Organismen auf den gegenüberliegenden Sitzen zu tun hätte, deren Reaktion auf Mutter ein aggressiv provozierendes Starren oder ein aggressives Was starrst du Arsch denn so? wäre. Für einen solchen Fall bin ich mit meiner beeindruckenden Größe und der Brille ihr sematisches Accessoire oder ihre Eskorte, und auch ihrem klaffenden Gesichtskrampf lässt sich ihr Glaube ablesen, dass ich sie beschützen kann, und das ist gut.
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: David Foster Wallace: Vergessenheit. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2008, 224 Seiten, 18,95 Euro. Die hier abgedruckte Story wurde aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ulrich Blumenbach. Das Buch erscheint nächste Woche.