Die Utopien der Wissenschaft und die Realität

Ein Tässchen Kaffee mit der Ich-Maschine

Computer und Roboter, die selber denken: Das ist die Utopie einer Wissenschaft, die sich die Entwicklung der so genannten Künst­lichen Intelligenz zum Ziel gesetzt hat. In der Realität ist die Forschung jedoch sehr weit entfernt von diesem Anspruch.

Der Erlöser wird kommen. Im Jahr 2029. Der Mann, der das sagt, ist gerade 60 geworden und schluckt täglich 200 verschiedene Vitamin- und Mineralstoffpillen. Ray Kurzweil möchte diesen Tag noch erleben. Man ist versucht zu sagen, den jüngsten Tag.
Der Erlöser ist eine Maschine, die erste wahrhaft intelligente Maschine. So intelligent, dass sie keine Menschen braucht, um sich weiterzuent­wickeln. Sie wird in der Lage sein, sich selbst weiter zu entwickeln. Eine intelligente Maschine, die eine noch intelligentere Maschine baut, die eine noch intelligentere Maschine baut usw.
Klar, wo das hinführt. Der technische Fortschritt zeitigt bisher unvorstellbare Ergebnisse. Zum Beispiel das Ende des Alterns. Menschen werden mit Computern verschmelzen und ihr Bewusstsein kann in den Maschinenkörpern ewig fortleben. »Der Computeranteil unserer Intelligenz wird eine Milliarde mal leistungsstärker sein als ihr biologischer Anteil.« Zwar sieht Kurzweil auch das destruktive Potenzial, aber insgesamt ist er von der friedensstiftenden Kraft der technologischen Entwicklung überzeugt. Als vernetzte Maschinenwesen werden wir, so seine Utopie, »unser Denken mit dem eines anderen Menschen auf intimste Weise, mit Hilfe nichtbiologischer Intelligenz, verbinden, das wird sich sehr positiv auf das Mitgefühl und das gegenseitige Verständnis auswirken«.

Ray Kurzweil nennt diese Explosion der Künstlichen Intelligenz »Singularität«. Die möchte er mit einem fitten Körper erleben, um dann noch weitere 400 Jahre zu leben. Mehr als 500 Jahre, so Kurzweil, halte der Mensch auch mit der besten Technik nicht durch. Nach einem halben Jahr­tausend sei man einfach des Lebens überdrüssig.
Kurzweil ist ein erfolgreicher Erfinder und gefragter Experte. Er hat bahnbrechende Schrift- und Spracherkennungssoftware geschrieben, Syn­thesizer entwickelt, und Bill Clinton verlieh ihm die National Medal of Technology. Auch die Anhänger seiner Lehre sind alles andere als Mitglieder einer nach außen abgeschotteten Sekte. Kurzweils Thesen waren schon Gegenstand einer Anhörung im US-Kongress, und Singularitäts-Gläubige finden sich in den Vorstandsetagen von High-Tech-Unternehmen.
Einer davon ist Steve Rattner, der Technologie-Vorstand von Intel. Er hängt dieser Idee nicht einfach privat an. Er sieht seine Firma, den größten Chiphersteller der Welt, als einen Garanten dafür, dass die Singularität kommen wird. Seinen Auftritt auf dem Intel Developer Forum im August in San Francisco widmete er ganz dieser Idee. Das Motto lautet: »Crossing the chasm between Humans and Machines« (etwa: Die Kluft zwischen Mensch und Maschine schließen). Sein Credo zum 40jährigen Bestehen von Intel: In weiteren 40 Jahren wird die Menschheit Maschinen gebaut haben, die klüger sind als Menschen.
Das Grundmuster der Argumentation von Kurz­weil, Rattner und anderer Singularisten ist einfach: Seit über 40 Jahren verdoppelt sich die Leis­tungsfähigkeit von Computerprozessoren etwa alle zwei Jahre. Aus dieser empirischen Beobachtung machen sie ein Gesetz: Der Fortschritt in der Informationsverarbeitung beschleunigt sich. Sie sehen in ihrem Bereich keine »Grenzen des Wachstums«. Im Gegenteil: Die Leistung von Informationsverarbeitungsmaschinen wächst nicht nur immer weiter, das Wachstum ist exponentiell, das heißt, es beschleunigt sich beständig. Kurz­weil hat dafür eine Formel aufgestellt. So kommt er auf die Jahreszahl 2029. Genau dann wird die Intelligenz von Computern die des menschlichen Gehirns überholt haben. Als Messlatte soll der so genannte Turingtest dienen. Eine Maschine gilt nach diesem Test, den der Mathematiker und Computerpionier Alan Turing vorgeschlagen hat, als intelligent, wenn sie in einem schriftlichen Gespräch – also einem Chat – nicht mehr von einem Menschen zu unterscheiden ist.
Bald nachdem das erste Computerprogramm Menschen so gut nachgeahmt hat, dass es den Test besteht, wird die Singularität eintreten, so Kurzweil. Der Begriff »Singularität« ist der Physik entlehnt. Er bezeichnet einen Punkt, an dem die gewöhnlichen Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Auf die technische Entwicklung bezogen soll das heißen, nach der Singularität sind Dinge mög­lich, die bis dahin unvorstellbar waren. Kurzweil rechnet 2045 mit ihr.
Wird er recht behalten? Vermutlich nicht. Auch viele Forscher, die selbst an der Entwicklung »künst­licher Intelligenz« arbeiten, halten die Vor­hersage einer »Singularität« für schlecht begründet. Sie entspringt wohl vor allem einem religiösen Bedürfnis oder zumindest der Angst vor dem Tod. »Sie wollen nicht an einen Gott glauben. Statt­dessen glauben sie, Technik wird ihnen ewiges Leben verschaffen«, sagt Rodney Brooks, selbst Ro­boterentwickler und Direktor des »Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory« am Massachusetts Institute of Technology.
Aber wie sieht es aus mit der Maschine, die den Turingtest besteht? Unabhängig von der Frage, was der Turingtest überhaupt beweist. Ist das Pro­gramm intelligent? Oder kann es menschliches Verhalten nur sehr gut nachahmen? Gibt es da über­haupt einen Unterschied? Solche philosophischen Fragen werden debattiert, seit sich 1956 der Begriff »Artificial Intelligence« etabliert. Unabhängig davon stellt sich jedoch auch die simple Frage: Ist ein solches Programm in absehbarer Zeit wahrscheinlich? Brooks ist auch da skeptisch. Zwar ist er überzeugt, dass grundsätzlich Maschi­nen möglich sind, die ähnliche Fähigkeiten entwickeln wie Menschen. Nur seien dafür grundlegende neue Erkenntnisse nötig, und die gibt es nicht.
Die vergangenen 50 Jahre der Künstlichen-Intelligenz-Forschung haben zwar kommerziell erfolgreiche Methoden hervorgebracht. Zum Beispiel bewertet Google die Relevanz der gefundenen Seiten mit KI-Methoden, und automatische »Theorembeweiser« testen neu entwickelte Hardware. Aber im Turingtest bleiben die Programme erbärmlich. Der diesjährige Gewinner im Turingtest-Wettbewerb, das Programm Elbot, kann online getestet werden (http://www.elbot.de/).

Wie also soll der Intelligenzsprung stattfinden? Allein die Weiterentwicklung der Hardware kann es nicht sein. Bisher können Computer vor allem erstaunliche Leistungen auf Gebieten vollbringen, die klaren Regeln gehorchen, wie z.B. Schach, und da werden sie immer besser. Aber wie sollen Maschinen den Schritt machen, zu entscheiden, wenn ihnen keine klaren Ziele vorgegeben sind? Es sind keine revolutionären Programmierideen aufgetaucht, die in diese Richtung weisen.
Ein anderer Weg zur menschenähnlichen künst­lichen Intelligenz wäre ein Nachbau des Gehirns. Aber auch hier bestehen keine konkreten Aussichten auf Erfolg. Trotz großer Euphorie über ihre Fortschritte in den vergangenen Jahren sind die Hirnforscher weit davon entfernt, die Funktionsweise des menschlichen Denk- und Gefühlsapparats zu verstehen. Hirnregionen können sie identifizieren, einzelne Synapsen beschreiben, Muster von Reaktionen auf bestimmte Wörter messen. Aber wie spielen die Teile zusammen? Das ist weitgehend unklar.
Solche Gegenargumente wischen die Singularisten mit viel Vertrauen in den Fortschritt fort. Sie hoffen auf einen wundersamen Umschlag von Quantität in Qualität. Nach Kurzweil werden genügend komplexe Programme auf genügend leis­tungsfähigen Rechnern schließlich von selbst so etwas wie Bewusstsein entwickeln. Wie das ge­schehen soll, darauf gibt er keine Antwort.

Auch die Geräte, die Steve Rattner auf der Intel-Konferenz als zukunftsweisend vorstellte, gaben da keinen Hinweis. Er stellte Techniken vor, mit denen weiterhin immer größere Computerleistungen auf immer engeren Raum gepackt werden können; Techniken zur noch schnelleren Daten­übertragung; Techniken zur drahtlosen Energieübertragung. Doch nur eine Präsentation ließ an Künstliche Intelligenz denken. Ein Roboter fuhr auf die Bühne und war – nach etwa einer Mi­nute – in der Lage, eine Tasse als solche zu erkennen, dann vorsichtig zu ergreifen und in seinen Vorratsbehälter zu stellen.
Trivial für einen Menschen, eine Errungenschaft in der Roboter-Evolution: Zuverlässig eine Tasse als solche zu erkennen, egal wie sie steht oder wie groß sie genau ist, sie richtig zu ergreifen und den Arm so zu bewegen, dass er nicht alles andere vom Tisch fegt. Man braucht einige Phantasie, um die ungelenken Bewegungen des Roboters auf der Intel-Bühne als Schritt zur Entwicklung von Programmen, die Bewusstsein entwickeln, wahrzunehmen. Weniger Phantasie ist nötig, um sich auszumalen, dass Roboter bald Pflegekräfte in Altenheimen ersetzen oder gegen Piraten eingesetzt werden.
Vermutlich wird es Kurzweil, Rattner und Co. so gehen wie den Pionieren der Künstlichen Intelligenzforschung in den sechziger Jahren. »Innerhalb von 20 Jahren werden Maschinen all das leisten können, wozu Menschen in der Lage sind«, behauptete 1965 Herbert Simon, einer von ihnen. Mit ihren Prophezeiungen lagen sie weit daneben. Ihre Erfindungen jedoch sind heute weit verbreitet.