Linker Etatismus

Staatsfeind Nr. 1

Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist plötzlich Karl Marx erneut in aller Munde, »Kapital-Kurse« boomen. Gleichzeitig blüht der alte linke Etatismus wieder auf. Dass man mit Marx jedoch nicht nur den Kapitalismus kritisieren kann, sondern dass er auch Theoretiker der Staatskritik ist, passt vor allem vielen Linken dabei nicht so recht ins Konzept.
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Marx war kein Linker. Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass ihm so ziemlich der ganze Kanon heutigen Linksseins, von der Ökohysterie, dem Antirationalismus, der Islamophilie bis zum Staatsfetischismus, herzlich zuwider gewesen wäre. Dass ausgerechnet er von Linken nach wie vor bemüht wird, ist das Produkt eines tragikomischen, meist absichtsvollen Missverständnisses sozialdemokratischen Ursprungs, das zu beenden höchste Zeit wäre. Warum das wichtig ist? Um mit der verbreiteten Vorstellung aufzuräumen, dass der Gesellschaftskritiker durch historisch-politische Notwendigkeit den Verteidigern des Sozialstaates, die sich nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte als Demagogen des »Volksstaats« entpuppt haben, irgend nahe stehen müsste, oder anders gesagt: dass die Kritische Theorie irgendetwas mit der Linken, dem »Volksstaat« oder der tatsächlichen Arbeiterbewegung verbinden würde. Denn nimmt man Marxens Kritik am »deutschen Sozialismus«, der »deutschen Ideologie« ernst, dann steht die Geistesgeschichte des Marxismus tatsächlich auf dem Kopf. Die in Marxens Namen aufgebrochene Arbeiterbewegung nämlich hat ausgerechnet diejenige Ideologie zur materiellen Gewalt gemacht, von deren theoretisch vernichtender Kritik das Marxsche Denken eigentlich seinen Ausgangspunkt nimmt. Es war nicht so, dass Marx und Engels nicht bemerkt hätten, dass sie zwar als Ikonen, jedoch nicht als Denker von der Sozialdemokratie angenommen wurden. Der Kritik der beiden an den Programmen der Sozialdemokratie fehlt es in Hinsicht auf den Etatismus wenig an Deutlichkeit. Zu Recht wütete Marx gegen das »Gothaer Programm« der Arbeiterpartei, der späteren SPD: »Unendlich tief unter dem der Freihandelspartei« stünde es, weil diese wenigstens »etwas« nicht Reaktionär-Nationales tut, nämlich, »den Handel international (zu) machen«. (MEW Band 19, Seite 24) Die Arbeiterpartei hingegen käut die »gegen die Sozialisten gerichteten« (MEW 19, 31) Rezepte der Staatswirtschaft wieder und schielt deutlich auf das Bündnis mit dem autoritären Preußen, wenn es von den »geistigen und sittlichen Grundlagen des freien Staates« schwärmt und dessen fabelhafter Autonomie, der gegen­über die Bourgeoisie in den Augen der Sozialdemokratie nur »eine reaktionäre Masse sei« (MEW 19, 33 bzw. 21). Dennoch hielten Marx und Engels diesen – wie Erich Mühsam später spottete – »bismarxistischen« Charakter der sozialdemokratischen Ideologie für eine Kinderkrankheit der proletarischen Bewegung und nicht für das Wesen einer eigenständigen sozialdemokratischen Bewegung, die in ihrer Bestimmung durch das, was Marx schon in der »Deutschen Ideologie« als borniertes »Stammes- und Hammelbewusstsein« (MEW 3, 31) kritisiert hatte, von Bebel über Lenin zu den No-Globals von heute reicht. Deren Monopol auf »Kritik« scheint umso unantastbarer, je mehr schon die alltägliche Erfahrung im alten Europa ständig nur eines über Kritik lehrt: dass es nämlich kritisch für den wird, der den Antikapitalismus kritisiert. Diese Zwangsbindung des Anspruchs darauf, Gesellschaftskritik zu üben, an die Apparaturen und Institutionen des autoritären Sozialstaats, rechtfertigt sich – wenn überhaupt zur Rede gestellt – mit dem Verweis darauf, dass doch die »wirkliche Bewegung« mehr zähle als alle naseweise Kritik. Das Sprüchlein vom Realismus, den ja schließlich schon Marx gegen die utopischen Sozialisten stark gemacht habe und der der Grund dafür gewesen sei, warum Marx sich trotz aller schneidenden Kritik eben doch der Sozialdemokratie angeschlossen habe, geht dann auch rasch über die Lippen. Und dann kommt er, der berühmteste Satz aus der »Deutschen Ideologie«, dass nämlich »der Kommunismus die wirkliche Bewegung sei«, die die jetzige Gesellschaft aufhebe. Doch Marx’ Vertrauen in die »wirkliche Bewegung« beruhte nicht auf dem protektionistischen Staat, sondern auf seinem Gegenteil, dem Weltmarkt, wenn man so will: dem Globalismus: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. Übrigens setzt die Masse von bloßen Arbeitern – massenhafte von Kapital oder von irgendeiner bornierten Befriedigung abgeschnittne Arbeiterkraft – und darum auch der nicht mehr temporäre Verlust dieser Arbeit selbst als einer gesicherten Lebensquelle durch die Konkurrenz – den Weltmarkt voraus.« (MEW 3, 35f.) Marx glaubte also im krassen Gegensatz zu denen, die sich später Marxisten schimpfen sollten, dass das Primat des Staats eine vorübergehende Kinderkrankheit des Liberalismus am Vorabend der bürgerlichen Revolution in Preußen-Deutschland sei. Marx im O-Ton: »Durch die Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden; er ist aber weiter nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben. Die Selbständigkeit des Staats kommt heutzutage nur noch in solchen Ländern vor, wo die Stände sich nicht vollständig zu Klassen entwickelt haben, wo die in den fortgeschritteneren Ländern beseitigten Stände noch eine Rolle spielen und ein Gemisch existiert, in denen daher kein Teil der Bevölkerung es zur Herrschaft über die übrigen bringen kann. Dies ist namentlich in Deutschland der Fall. Das vollendetste Beispiel des modernen Staats ist Nordamerika.« (MEW 3, 62) Aber all das, was Marx treffend in diesem Sinne als materielles Substrat der »deutschen Ideologie« charakterisierte, was Marx hier also am Beispiel der Phantastereien eines Bruno Bauer, Max Stirner oder Karl Grün beschrieb, könnte zugleich als eine Charakterisierung des »deutschen Sonderwegs« ebenso wie der durchschnittlichen Links-Ideologie dienen. Marx: »Während der Epoche der absoluten Monarchie, die hier in ihrer allerverkrüppeltsten, halb patriarchalischen Form vorkam, (erhielt) die besondre Sphäre, welcher durch die Teilung der Arbeit die Verwaltung der öffentlichen Interessen zufiel, eine abnorme Unab­hängigkeit, die in der modernen Bürokratie noch weiter getrieben wurde. Der Staat konstituierte sich so zu einer scheinbar selbständigen Macht und hat diese in andern Ländern nur vorübergehende Stellung – Übergangsstufe – in Deutschland bis heute behalten. Aus dieser Stellung erklärt sich sowohl das anderwärts nie vorkommende redliche Beamtenbewusstsein wie die sämtlichen in Deutschland kursierenden Illusionen über den Staat.« (MEW 3, 178) Marx’ Revolutionstheorie wie die gesamte Philo­sophiekritik, also die Erwartung, dass der Widerspruch im Bestehenden mit dem Widerspruch gegen dieses Bestehende identisch ist, setzt voraus, dass niemand sich ernsthaft daran machen könnte, diese »Illusionen über den Staat« in ein tatsächlich staatliches Programm umzusetzen – was aber bekanntlich geschehen sollte. Das ist das Gegenteil jener »wirklichen Bewegung«, die Marx gegen die Etatisten glaubt aufbieten zu können, in seinen Worten: »Die Proletarier müssen, um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben. Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.« (MEW 3, 77) Vor diesem revolutionstheoretischen Hintergrund wirft Marx den Etatisten seiner Zeit, den »deutschen Sozialisten«, vor, doktrinär zu sein und sich nicht an der wirklichen Bewegung zu orientieren: der Bewegung nämlich, die die revolutionäre Bourgeoisie in Gang gesetzt hat, die Bewegung, die mit dem Welthandel auch ein Menschheitshandeln ermöglichen würde, eine Bewegung, die allerdings erst das gleichfalls revolutionäre Proletariat zu Ende führen könne. Dass die Partei des Proletariats sich hingegen zur Vorhut der wirklichen Bewegung gegen die Wirklichkeit machen würde, dass sie den »geschlossenen Handelsstaat« (J. G. Fichte, 1800) und die darauf beruhende Unterscheidung des »Nationalsystems« (Friedrich List, 1841) zwischen einer »politischen Ökonomie«, in der die deutsche Staatlichkeit zu ihrem Recht käme, und der verwerflichen »kosmopolitischen Ökonomie«, unter deren Deckmantel England die Welt und Deutsch­land ausraube, tatsächlich in die Praxis umzusetzen versuchen würde – trotz oder wegen erwiesener Schwachsinnigkeit und Niederträchtigkeit des Unterfangens –, das wollte und konnte Marx nicht glauben. Schon gar nicht, dass der Sozialdemokratismus in Konsequenz zum Nationalsozialismus werden sollte. Erst recht konnte Marx sich wohl nicht träumen lassen, dass die »deutsche Ideologie« in noch viel exotischeren Gewändern auftreten würde: dass gerade die so offensichtlich bornierte, den im Staat inkorporierten »Volksgeist« an Stelle des Klassenbewusstseins setzende Zurückgebliebenheit hinter der bürgerlichen Entwicklung diese deutsche Ideologie dazu prädestinierte, bis heute antibürgerliches Ressentiment zu kanalisieren – ohne noch die vergessenen Vordenker wie Bauer oder Grün bemühen zu müssen. Denn in deren Fußstapfen waren längst Gregor Strasser, Mao Ze Dong und andere Ideologen des Dritten Reichs und der Dritten Welt getreten. Was folgt nun daraus? Vor allem, dass man guten Gewissens auf Loyalität gegenüber dem, was sich heute für gewöhnlich »links« nennt, verzichten kann – ja eigentlich sogar muss, wenn man in der Lage und willens ist, diejenigen zu identifizieren, bei denen das, was deutsch ist, am ungebrochensten kultiviert wird. Die »deutsche Ideologie« ist »links«.