Denis Johnsons Roman »Ein gerader Rauch«

Apokalyptisches Untergangstheater

Denis Johnsons meisterhafter Roman »Ein gerader Rauch« führt über Vietnam in die Hölle der asymmetrischen Kriege unserer Tage.

Unser junger Fußsoldat heute morgen hat es korrekt ausgedrückt: Diese Scheiße hier ist nicht mehr witzig. Diese Scheiße hier ist eine Schweinerei. Diese Scheiße hier muss aufhören.« Die Rede ist vom Vietnam-Krieg, und zwar in Denis Johnsons großartigem, beinahe 900seitigen Roman »Ein gerader Rauch«, der 2007 unter dem Originaltitel »Tree of Smoke« in den USA erschien und dort im selben Jahr bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Bettina Abarbanell und Robin Detje haben den Text, der vor allem auch durch seine authentisch geschriebenen, harten und lakonischen Dialoge besticht, mit viel Einfühlungsvermögen ins Deutsche übersetzt.
Johnsons Roman handelt von einem schwer durchschaubaren CIA-Geheimdienstprojekt mit dem Arbeitstitel »Ein gerader Rauch« und ist gleichzeitig von vielen religiösen und bi­blischen Motiven rund um den Rauch durchzogen. Die Rauchsäule, die dem Volk Israels der Überlieferung nach auf der Flucht aus Ägypten den Weg wies, spielt in der Symbolik von Johnsons Text eine zentrale Rolle. Was aber genau der Colonel, der Onkel des Romanprotagonisten William »Skip« Sands, mit seiner riesenhaften Kartei vorhat, deren ominöses geheimdienstliches Datenmaterial offenbar nur noch archivarischen Wert hat und deshalb unverwendbar, ja unentschlüsselbar erscheint, bleibt unklar. Dennoch sollen es die Männer des Co­lonels als Grundlage für seine mysteriöse Mission »Ein gerader Rauch« verwenden, und seine Feinde versuchen ebenfalls fieberhaft, an das in Kisten aufbewahrte Konvolut zu gelangen.
Ähnlich wie diese Kartei ist Johnsons Roman, trotz des kernigen Soldaten-Slangs, der in ihm vorherrscht, ein komplexes Gebilde; ein vielfach codierter Text, dessen Erzählstränge und ­ -perspektiven auf kunstvolle Weise verwoben sind. Es scheint, als sei der Roman selbst aus ­jenen wirren Zettelkästen kompiliert worden, die Skip Sands erstmals zu sichten und zu ordnen versucht. Deshalb wäre es auch viel zu kurz gegriffen, wenn man behauptete, der Text handle vor allem von diesem jungen US-Nachwuchsagenten Sands samt den drei, vier um ihn gruppierten Hauptfiguren. Ist im Buch doch auch noch ein Liebes- und ein Briefroman angelegt, dessen Heldin Kathy Jones heißt – eine lebenshungrige Missionarswitwe, die sich am Ende aufopferungsvoll um viet­namesische Waisenkinder kümmert und mög­licherweise die einzige Frau ist, die dem Pro­tagonisten Sands in seinem Leben etwas bedeutete. Möglicherweise. Denn klar und einfach ist in diesem Roman gar nichts. Alles trägt hier bis zum Ende das Signum des Zweifels und der Vergeblichkeit.
Es ist in diesem Sinne aber auch eine Geschichte des Vietnam-Kriegs, in die die Perspek­tive der Einheimischen, die zwischen dem Nord- und Südteil des Landes unterscheidet, auf überzeugende Weise eingeschrieben ist. Die verschiedenen westlichen Projektionen auf diese fremde fernöstliche Welt werden auf diese Weise von Johnson immer wieder konterkariert und entlarvt. Selbst in die beklemmende Alltagswelt eines deutschen BND-Auftragskillers lässt uns der amerikanische Autor am Ende eintauchen, nachdem wir sie im ersten Drittel des Romans erst einmal nur über vage Vermutungen aus der konkurrierenden Ermittlersicht des Protagonisten kennen gelernt haben. Wie Johnson diese spezielle Reise »alla tedesca«, die zunächst einmal viele Aspekte des heuti­gen Sextourismus aufweist, beschreibt, hat Klasse.
Damit seien hier aber nur einige der vielen erzählerischen Wendungen angedeutet, mit denen Johnsons voluminöses Werk seine Leser immer wieder überrascht und die dazu führen, dass sich der Text nur schwer auf einen Nenner bringen lässt – wie das wirklich gute Literatur an sich hat. Johnson greift das große Thema des gescheiterten US-Stellvertreterkriegs in Viet­nam auf, und sein Text braucht wirklich seine Länge, um sich in Ruhe zu entwickeln. Jede Passage ist hier an ihrem Platz, und wirklich keines dieser erzählerischen Puzzleteile darf fehlen in diesem weiten historischen Panorama, gespickt mit intertextuellen und nicht zuletzt filmischen Anspielungen.
Nicht nur mit der beeindruckenden Figur des Colonels, die mit dem von Marlon Brando verkörperten Colonel Kurtz aus Francis Ford Coppolas epochalem Vietnam-Kriegsfilm »Apocalypse Now« (1979) in Bezug steht, hat sich Johnson in die Kino- und Literaturgeschichte eingeklinkt, die sich in diesem Fall zurückverfolgen lässt bis hin zu Jo­seph Conrads Kolonialroman »Heart of Darkness« (1902). Auch die vielfach gnostisch anmutenden Botschaften des Romans sind nicht zu übersehen, verkündet vor allem aus dem Mund des zwielichtigen Colonels.
Die Schöpfung erscheint hier als eine ganz und gar böse Welt, in der sich einzelne, erwählte Menschen bewegen, die der Erkenntnis auf der Spur sind. Die Agenten um den Colo­nel wirken dabei wie Schachfiguren, die einem unbekannten Masterplan folgen, um zu bewirken, dass der Weltkrieg, den man in Vietnam probt, also »diese Scheiße«, aufhört. Doch da der angebliche Weg zur Lösung des Konflikts nirgends klar benannt wird, tappen alle Handelnden weiter im Dunkeln und bleiben Schattenspiele eines großen apokalyptischen Untergangstheaters, das niemals endet.
Großartig ist es, wie es Johnson gelingt, diese versponnenen Zusammenhänge immer wieder als möglicherweise bloß irrsinniges Gefasel des Colonels, als bizarre Halluzinationen ­eines versoffenen alten Hard-Boiled-Spions erscheinen zu lassen, den sowieso längst kaum noch jemand für voll nimmt und den die CIA-Zentrale in Washington deshalb kaltzustellen versucht: »Paulus sagt, es gibt einen Gott, das bezeugt er, aber er sagt: ›Es gibt einen Herrn und viele Ämter‹. Ich versteh das so, dass du aus einem Universum heraus- und in ein an­deres hineinwandern kannst, indem du einfach die Füße auf den Boden setzt, und vorwärts marsch. Das heißt, du kannst in ein Land kommen, wo das Schicksal der Menschen ein ganz anderes ist, als es sich bisher dargestellt hat. Und in diesem völlig anderen Universum waltet etwas durch die Erde selbst. Von unten durch den Dreck, verdammter Mist. Worum geht es also? Es geht um Vietnam. Es geht um Vietnam. Es geht um Vietnam.«
Diese Hades-Metaphorik verweist nicht zuletzt auf Johnsons eindrucksvolle Kriegsreportagen aus Afrika, die in Deutschland im Jahr 2006 unter dem Titel »In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt« erschienen sind (Jungle World 35/2006). Johnson, selbst Alkoholiker und ehemaliger Junkie, thematisiert mit seiner düsteren Vietnam-Vision also nicht irgendein beliebiges Agenten-Thriller-Thema, sondern knüpft an eigene Reisen und Erfahrungen in der »Dritten Welt« an. Die von Gott verlassenen und von der restlichen Welt vergessenen Kriegszonen sind es, die diesen Autor offensichtlich nicht mehr loslassen. Wie auch schon Johnsons epochale Reportagetexte ist sein Roman dabei an vielen Stellen von einer Härte, die der Leser als Zumutung empfinden kann.
Man merkt an jeder Zeile, dass »Ein gerader Rauch« akribisch recherchiert worden ist. Die Schauplätze und die Situationen, etwa zum Zeitpunkt der Tet-Offensive des Vietkongs im Jahr 1968, wirken stets historisch glaubwürdig. Dies ist aber eben auch nicht nur ein Vietnam-Kriegs­roman: Die Erlebnisse seiner Figuren, etwa die der jungen Männer, die sich aus bloßer Ratlos­igkeit und ideologischer Verblendung für die US-Army verpflichten und ohne jeden blassen Schimmer, was dort auf sie zukommen kön­nte, nach Vietnam entsandt werden, sind auch Geschichten unserer Zeit – etwa aus dem Irak, aus Afghanistan oder eben den immer wieder neuen Konfliktzonen des afrikanischen Kontinents unserer Tage.
Dieser monumentale Roman ist deshalb nicht zuletzt ein Buch über die Hölle dessen, was wir mittlerweile »asymmetrische Kriege« nennen. Besser als Johnson hat das bisher keiner schreiben können.

Denis Johnson: Ein gerader Rauch. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Robin Detje. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, 877 Seiten, 24,90 Euro

Geändert: 20. April 2009