Wirtschaftsmathematik und die Krise

Rechnen ohne Risiko

In den mathematischen Modellen der Anlageberater war die Krise nicht vorgesehen. Da es sie trotzdem gibt, zweifeln nun sogar Wirtschaftsmathematiker an den gängigen Berechnungsgrundlagen der Ökonomie.

Die Ökonomen trauen ihren Rechnungen nicht mehr. Und sie haben allen Grund dazu. So hatten die »Wirtschaftsweisen« noch im Oktober 2008 für das folgende Jahr ein Wachstum von 0,2 Prozent in Deutschland vorhergesagt. Nun, ein halbes Jahr später, glauben sie, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent schrump­fen wird.
Schon im Normalbetrieb ist es verwegen, die Weltwirtschaft berechnen zu wollen. Sie ist ähnlich komplex wie das Erdklima, und genaue Ausgangsdaten für ein mathematisches Modell zu bekommen, ist ähnlich schwierig. Dabei haben die Klimaforscher den entscheidenden Vorteil, dass sie die grundlegenden physikalischen Gesetze kennen. Dagegen müssen sich die Ökonomen mit zweifelhaften Annahmen über das Verhalten der Wirtschaftsteilnehmer behelfen.
In der Krise wird die Beschränktheit ihrer mathematischen Modelle auch etablierten Öko­nomen selbst bewusst. So kommt es, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seinem Frühjahrsgutachten auf die übliche Prognose für das kommende Jahr verzichtet. Denn »die makroökonomische Theorie bietet kaum überzeugende Instrumente, um die Tiefe der Krise nachzuvollziehen«. Die mathematischen Modelle, mit denen die Ökonomen arbeiten, kommen mit Krisen nicht zurecht, wie das DIW zugeben muss: »Offenkundig verfügt die Konjunkturforschung noch nicht über geeignete Instrumente, um Wendepunkte, insbesondere beginnende Abschwünge, zu erkennen.«
Auch die FAZ hat das Problem entdeckt. Redakteur Philip Plickert sieht die Volkswirtschaft »gefangen in der Formelwelt« und versucht, die früher in Deutschland starke Schule der Ordnungsökonomen gegen die »übertriebene Mathematisierung« ins Spiel zu bringen.
Die Mathematik steht aber nicht nur im Verdacht, die Wirtschaftskrise nicht vorhergesehen zu haben, sie soll sie sogar ausgelöst haben. Jedenfalls will der Wirtschaftsjournalist Felix Salmon die Formel entdeckt haben, die die Finanzkrise ausgelöst hat, und titelt im Technologie-Magazin Wired: »The Formula that killed Wall Street.« Die Geschichte ist nicht so abstrus, wie sie auf den ersten Blick klingt, und sie steht für einen bestimmten Gebrauch der Mathematik in der Finanzwelt, den Gebrauch als Beruhigungspille.
Welche Rolle die verdächtigte Formel von David X. Li tatsächlich gespielt hat, lässt sich schwer feststellen. Fest steht, dass mathematische Risikobewertungsmodelle beliebt waren, um phantasievolle Finanzprodukte an den Mann und die Frau zu bringen. Einen Eindruck vom Gebrauch der Mathematik in der Welt der Finanzderivate zu gewinnen, erlaubt die Beschäftigung mit Lis Formel allemal.

Die Formel unter Verdacht diente der Risikoabschätzung von collateralized debt obligations (CDO). Das Volumen des Markts für diese Finanzpa­piere hat sich von 2000 bis 2006 von 275 Milliarden Dollar auf 4,7 Billionen versiebzehnfacht. Inzwischen werden diese Papiere nur noch vom Staat aufgekauft oder in Bad Banks abgeschoben. Das Platzen dieser »Finanzblase« gilt weithin als Auslöser für die Wirtschaftskrise.
CDO – der Begriff lässt heute unwillkürlich an »Kollateralschaden« denken – sind im wesentlichen Pakete von Schuldverschreibungen. Hinter einem solchen Papier können sich Teile aller möglichen verzinslichen Wertpapiere verbergen, etwa Schuldverschreibungen einzelner Firmen, Bankanleihen oder verbriefte Immobilienkredite. Diese verschiedenen Papiere werden als CDO nicht nur im Pool verkauft, sondern auch in »Tranchen« aufgeteilt. Gehen die Kreditnehmer hinter einzelnen Papieren pleite, so haben nur die Käufer der untersten Tranche Pech gehabt. Die beste Tranche fällt erst dann komplett aus, wenn alle Papiere im Pool ihren Wert verlieren. Auf diese Art konnten Banken Teile von unsicheren (»subprime«) Krediten als angeblich risikofreie Anlage mit dem besten Rating AAA verkaufen.
Käufer von solchen Papieren wollen Angaben über das Ausfallrisiko, wie sie die inzwischen berüchtigten Ratingagenturen berechnen. Bei dem Papier einer einzelnen Firma ist das Ausfallrisiko im Wesentlichen das Risiko, dass die betreffende Firma pleite geht. Für CDO kann die Sache kompliziert werden. Stellen wir uns vor, es werden Immobilienkredite zusammengepackt. Dann muss nicht nur die Bonität jedes einzelnen Hauskäufers abgeschätzt werden, sondern auch die Korrelation zwischen den einzelnen Ausfallrisiken: Wenn A seinen Kredit nicht mehr abbezahlen kann, wie wahrscheinlich ist es dann, dass Nachbar B auch pleite geht? Lis Formel bezieht solche Korrelationen in die Rechnung ein und liefert einen Wert für das gemeinsame Risiko des so gebildeten Papiers.
Wie aber kann die Korrelation seriös geschätzt werden? Die Anwender von Lis Formel vertrauten hier offenbar auf die Weisheit des Marktes. Und zwar des Marktes für credit default swaps (CDS). Dabei handelt es sich um eine Art Versicherung für Wertpapiere. Grob gesprochen, verspricht der Verkäufer der CDS, eine Versicherungssumme zu zahlen, falls der Emittent eines bestimmten Wert­papiers pleite geht. Diese Versicherungs­papiere selbst werden auch wie Wertpapiere gehandelt. Wenn das Risiko für einen Ausfall des Ursprungskredits steigt, dann steigt der Preis des zugehörigen Swaps. Zur Abschätzung der Korre­lation in Lis Formel werden jetzt einfach Korrelationen der Preise der Swaps herangezogen. Schon hat man eine scheinbar exakte Zahl für das gebündelte Risiko.
Ein hübsches selbstreferenzielles System, mit dem sich eine Zeit lang gut Geld verdienen ließ. Dass diese Abschätzung spätestens in der Krise versagt, ist leicht einzusehen. Plötzlich werden massenhaft Kreditnehmer klamm, die vorher nicht viel miteinander gemein hatten.
Aber die Formel hätte noch so gut sein können, in der Krise tritt das Risiko ein, dass sich Investoren gerne mit Hilfe solcher Formeln haben klein­rechnen lassen. Im Jahr 2005 sagte Li dem Wall Street Journal: »Das Gefährlichste an dem Modell ist, wenn Leute alles glauben, was dabei rauskommt.« Die Warnung hatte freilich keine Folgen, schließlich wollten die Investoren ja an ihre Gewinnchancen glauben, die Ratingagenturen wollten ihren Auftraggebern »risikofreie« Anlagen attestieren.

Weil Formeln wie die von David X. Li die Anleger in falscher Sicherheit gewiegt haben, sieht eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern um Thomas Lux vom Kieler Institut für Weltwirtschaft und Brigitte Slooth von der Universität von Süddänemark bei den Finanzmathematikern eine Mitverantwortung für das Debakel. In einer Art Manifest mit dem Titel »The Financial Crisis and the Systemic Failure of Academic Economics« holen sie zum Rundumschlag gegen den Mainstream ihrer eigenen Zunft aus.
Von den Entwicklern mathematischer Risikoabschätzungen fordern sie eine Art Beipackzettel, der die Grenzen der Formeln und die Annahmen, auf denen sie beruhen, offenlegt. Sie warnen vor der »Kontrollillusion« der mathematischen Risikoabschätzung. Die scheinbar exakten Ergebnisse verhüllen die Schwäche der in die Rechnung eingehenden Annahmen, so die Autoren des Manifests.
Ähnliches gelte für die makroökonomischen Modelle, die Volkswirtschaftler verwenden, um Ratschläge für die Politik abzuleiten. Lux und seine sieben Kollegen fordern deshalb einen ethischen Kodex für Ökonomen und attestieren der akademischen Wirtschaftswissenschaft insgesamt ein »systemisches Versagen«, denn »die vorherrschenden theoretischen Modelle schließen viele der Aspekte der Wirtschaft, die wahrscheinlich zu einer Krise führen, aus«.
Den vorherrschenden neoklassisch inspirierten mathematischen Modellen werfen sie vor, dass sie auf »repräsentativen Agenten« beruhen, die alle gleich, unabhängig und zweckrational zur Optimierung ihres Vermögens handeln. Vorausgesetzt werde auch, dass Märkte sich auf ein eindeutiges Gleichgewicht hin entwickeln. Die derzeitige Krise lasse sich in diesen Modellen nur als ein starker äußerer Schock, etwa ein Einschlag eines großen Meteoriten, interpretieren, spotten die Autoren des Manifests.
Die Kritik ist nicht neu, aber Lux und seine Kollegen sehen jetzt eine Chance, die neoklassischen Dogmatiker aus ihrer beherrschenden Stellung in der Wirtschaftswissenschaft zu verdrängen. Von mathematischen Modellen wollen sie sich dabei nicht verabschieden. Sie experimentieren z.B. wie Lux mit Methoden aus der statistischen Physik, um das Zusammenspiel vieler verschiedener wirtschaftlicher Akteure zu simulieren.

Dabei scheint auch sie die Hoffnung zu treiben, aus der Ökonomie eine Art Naturwissenschaft zu machen, obwohl Lux eingesteht, »dass es prinzipielle Grenzen der Modellierbarkeit geben mag. Zum Beispiel könnte sich herausstellen, dass es über bestimmte Strukturbrüche hinweg keine stabilen makroökonomischen Prinzipien gibt. Es ist eben Aufgabe der Wissenschaft, das herauszufinden.«
Nicht alle, die derzeit eine Abkehr von den neo­klassischen Prinzipien fordern, wollen sich dagegen von der Kontrollillusion verabschieden. Die Versuchung scheint zu groß. Didier Sornette, Professor für unternehmerisches Risiko an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, analysiert plötzliche Ausschläge an den Finanzmärkten mit den Methoden der Erdbebenforschung. Er ist vom Erfolg seiner Methoden so überzeugt, dass er demnächst eine bedeutende Summe an der Börse investieren will.