Über den Roman »Der Brenner und der liebe Gott« von Wolf Haas

Unterhemdentragende schwerhörige Bösartigkeit

Vom Bullen über den Schnüffler zum Chauffeur: Wolfgang Haas’ Kultfigur Simon Brenner verstrickt sich in einen neuen Fall.

Im Frühjahr lief die Verfilmung von Wolf Haas’ 1997 publiziertem Roman »Der Knochenmann« erfolgreich im Kino. Nun liefert der österreichische Autor auch wieder eine neue Geschichte seines Privatdetektivs Simon Brenner. Der Held des Romans »Der Brenner und der liebe Gott« wird dem Leser jedoch erst einmal als ein gewisser Herr Simon vorgestellt. Denn der Ex-Polizist und spätere Privatdetektiv arbeitet jetzt als Chauffeur für ein getrennt lebendes Elternpaar. Deren Tochter Helena fährt er zwischen Wien und München hin und her. Seine Karriere hat den Brenner vom Polizeibeamten über den selbständigen Privatdetektiv hin zum persönlich abhängigen Lakai geführt: eine exemplarische Entwicklungsgeschichte in der modernen Dienst­leistungsgesellschaft.
Als bei einem Tankstellenstopp die zweijährige Helena vom Rücksitz wegentführt wird, geraten die Eltern und deren mögliche Feinde ins Visier. Leitet doch die Mutter eine Abtreibungsklinik in Wien, die schon seit langem von gut organisierten rosenkranzbetenden Lebensschützerinnen belagert wird.
Oder ist doch eher Helenas Vater, ein Münchner Baulöwe, einem Konkurrenten zu erfolgreich geworden? Vor allem seitdem Kressdorf seine eigene Hütte im Schickeria-Ort Kitzbühel hat, verfügt er über beste Verbindungen zu den Honoratioren, den Entscheidern, aus Lokalpolitik und Bankgewerbe. So dass er jetzt endlich die erhofften Großaufträge an Land ziehen kann.
Haas beschreibt hier recht einfühlsam das alpenländische Amigosystem aus Bestechung, Gunstbezeugung und Männerbund. Man denke an Pasolinis filmische Interpretation der »120 Tage von Sodom« oder an die bekannt gewordenen Vergnügungsausflüge zu Prostituierten, die es bei VW unter der Oberaufsicht von Peter Hartz gab. Es treten auf: die Scheinheiligen, die Bigotten, die Hinterfotzigen und die Großkopferten– gern auch in Personalunion.
Das Hauptziel von Haas’ Ironie bildet wohl jener Terror des Idylls, der sich in übervollen Geranienbalkonen, geländegängigen SUVs und Landhausmode ausdrückt; der ganze Fundus von erfundenen Traditionen, der eine unbarmherzige Vergangenheit verklärt und in der Gegenwart die Volkstümlichkeit als Shoppingerlebnis generiert: »Überall diese Hütten, Schrebergartenhütte, Almhütte, wieso können die reichen Leute nicht normal in Palästen wohnen? Da hat es einmal einen Revoluzzer gegeben, der hat gesagt: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, quasi Parole. Der würde sich heute schön anschauen. Weil heutzutage, wo die reichen Leu­te so hüttennarrisch sind, wo die größten Geschäfte in den Schi- und Strand- und Almhütten ausgeschnapst werden, müsste der sagen: Krieg den Hütten! Und jeder, der einen Bauernhof oder eine Alm oder irgendeine Hütte bewohnt, aber die Schwielen an den Händen nur vom Golfspielen hat, sofort Laterne!«
Der ehemalige Detektiv Brenner fühlt sich für das verschwundene Kind verantwortlich und versucht, obwohl er selbst unter Tatverdacht steht, die kleine Helena wiederzufinden. Wie schon in früheren Episoden verläuft der Auf­klärungsprozess jedoch nicht wirklich zielgerichtet. Vieles ergibt sich erst über Umwege, anderes hätte Brenner auch früher sehen können – und am Schluss sind gleich sieben Menschen ermordet. Der Erkenntnisprozess kann nur unter großen Mühen stattfinden und fordert seine Opfer. Und so lautet das lakonische Fazit: Erst »beim Begräbnis lernt man die Leute kennen«.
Und auch an Brenner selbst gehen die Fälle nicht spurlos vorüber, seinen Alkoholismus früherer Tage hat er nun gegen eine Tablettenabhängigkeit getauscht. Das muss nicht nur schlecht sein: »Wenn man bedenkt, wie er noch vor einem Jahr beisammen gewesen ist, muss man ehrlich sagen, Hut ab vor den Tabletten.« Überhaupt wirkt der Held hier ein wenig fremdgesteuert: Wo Brenner in früheren Fällen durch einen musikalischen Ohrwurm auf die richtige Spur gebracht wurde, nervt jetzt penetrant derselbe Handyklingelton.
Da Brenner bei seinen Fällen schon immer eine Passion durchleiden muss, ist es nur konsequent, dass er in »Der Brenner und der liebe Gott« dem Schöpfer endlich entgegentritt. Allerdings ist der Ort, eine Senk- oder Scheiße­grube, extrem unheilig gewählt. Ohne zu viel zu verraten: In der Szene, in der sich Gott und Brenner begegnen, kommen sowohl Atheisten wie auch Sammler von Nahtoderfahrungen oder letzten Worten auf ihre Kosten.
Dabei zählt nicht unbedingt die persönliche Schuld und Verstrickung der einzelnen Figuren, Haas zeichnet vielmehr ein Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse der Jetztzeit. Nicht nur die Täter selbst lehren das Fürchten, es reichen schon die ganz normalen Mitmenschen: »Weil der typische Schrebergartenpensionist, wo du gar keine Entführung und keinen Mord als Draufgabe brauchst, sondern wo schon der Rentner als solcher vollauf genügt, sprich übergewichtige, hinkende, rasenmähende, zaun­streichende, grillende, fernsehende, politisierende, ächzende, unkrautjätende, autowaschende, unterhemdentragende, meinungäußernde, schwerhörige Bösartigkeit in Person.«
Trotz des antisemitischen Massakers von Rechnitz und trotz des Inzest-Horrors von Am­stetten kann es auch im Falle Österreichs nicht um die Entwicklung einer Kollektivschuldthese gehen. (Sollte man denn mit Verweis auf die bergige Landschaft Verantwortlichkeit abstreiten können?) Dennoch stehen die Brenner-Krimis nicht nur in der Tradition der Hard-boiled-Kriminalliteratur, sondern sind auch verbunden mit der Anti-Heimatliteratur von Autoren wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek. Haas’ Kunstgriff ist die Einführung eines allwissenden Erzählers, der den Leser durch die Geschichte führt. Hier wird jedoch nicht chronologisch erzählt; der Roman wird kunstvoll in Rückschauen und Vorausdeutungen entfaltet. Der Erzähler ist dabei ebenso ressentimentgeleitet wie die Figuren, deren Schicksal er erzählt. Wobei die Melange aus »gesundem Menschenverstand«, ressentimentgeladenem und schlauem Geschwätz, Binsen- und volkssprachlichen Spruchweisheiten, die er daherquatscht, den unnachahmlichen Sound der Brenner-Geschichten ausmacht. Zu diesem Text muss man sich als Leser notwendigerweise in ein aufständisches Verhältnis setzen. Man kann Haas wohl nur ironisch rezipieren, und das macht die ganz große Freude an seinem Werk aus.
Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine Sprache, die – etwa durch Schlichtheit, Auslassungen und Dialekt – den Eindruck von Einfachheit erweckt und doch Kunstsprache ist.
Einen Fall klärt diese siebte Brenner-Geschichte wenigstens teilweise auf: Im vorhergehenden Buch »Das ewige Leben« von 2003 fing sich – ein wirklicher Sonderfall der Literaturgeschichte – der Erzähler selbst eine Kugel ein und musste notgedrungen gegen Ende verstummen. Mit dem ersten Satz des neuen Romans wird das Rätsel gelöst, warum es überhaupt eine weitere Brenner-Episode geben kann: »Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen.«

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 224 Seiten, 18,99 Euro