Geschlechtstests im Leistungssport

XXY ungelöst

Der Versuch der Sportverbände, per Test ein eindeutiges Geschlecht festzustellen, zeigt die Unmöglichkeit dieses Anliegens.

Mitte der sechziger Jahre war jede Olympiade ein kleiner Weltkrieg zwischen Ost und West. In dieser Zeit des Kalten Kriegs beflügelte der Mythos der sowjetischen Mannweiber die Phantasie der Sportberichterstatter. Damals wurden die routinemäßigen Zwangsgeschlechtstests eingeführt, die mehr als 30 Jahre lang den Frauensport prägen sollten und über die betroffene Sportlerinnen schrieben, sie seien das Entwürdigendste, was sie erlebt hätten.
Anfangs war der Geschlechtstest tatsächlich nicht mehr als eine optische Reihenuntersuchung vor einer Schar (männlicher) Ärzte, die die Genitalien und Körper der Frauen handgreiflich untersuchten. Die Ärzte schauten, ob die Vagina echt war und sich nicht irgendwo ein Penis verbarg. Nach scharfen Protesten wurde 1968 bei den Olympischen Sommerspielen in Mexico ein weniger durch medizinisches Handwerk als durch Medizin­technik geprägter Standard eingeführt. Die Sportlerinnen mussten einen Schleimhautabstrich von der Wange machen lassen, mit deren Hilfe dann der sogenannte Barr-Körperchen-Test durchgeführt wurde. Nach den Standards des IOC musste bei Sportlerinnen ein Bar-Körperchen festgestellt werden, der als Nachweis eines regulären XX-Chromosomensatzes galt. Im Fall einer positiven Probe erhielt die Athletin ihr Geschlechtszertifikat. Wurden aber irgendeine andere Chromosomenkonstellation gefunden, war die Karriere der Sportlerin beendet.

Die Tester kamen in Bedrängnis, als deutlich wurde, dass es einen chromosomalen Variantenreichtum gab, der das schlichte Schema XX = Frau, XY = Mann sprengte. Das Ergebnis des Barr-Tests ist weniger eindeutig als ursprünglich angenommen: Wird bei einer Frau nämlich kein Barr-Körperchen gefunden, ist sie nicht genetisch zwingend ein »Mann«; es kann entweder sein, dass ein X- und ein Y-Chromosom vorhanden ist wie bei Männern, dass aber auf dem Y-Chromosom das »Männlichkeits«-Gen verloren gegangen ist. Oder die Frau besitzt nur ein X-Chromosom (Genotyp X0). Besitzt eine Frau mehr als einen Barr-Körper, spricht man vom Triplo-X- oder Poly-X-Syndrom. Es gibt aber auch chromosomal als Männer qualifizierte Menschen mit einem oder mehreren Barr-Körperchen (XXY, XXXY).
Die Geschlechtsfahnder stießen zwar auf keinen einzigen biologisch eindeutigen Mann, der versucht hätte, als Frau anzutreten, aber sie stießen häufiger auf Frauen mit einem XXY-Chromosomensatz. Menschen mit XXY werden zwar von Genetikern als »männlich« qualifiziert, produzieren aber kaum oder kein Testosteron, bisweilen zeigt ihr Körper auch eine als weiblich wahrgenommene Erscheinung. Ein hormonell bedingtes Mehr an Muskelmasse, dass ihnen einen Vorteil vor XX-Frauen verschafft hätte, haben sie nicht.
Bei nicht wenigen Untersuchungen fand sich der erwartete XX-Chromosomenbefund, der Körperbau erschien aber männlich, oder die intersexuell ausgebildeten Genitalien passten nicht ins Bild der Tester. Dass vereinzelt transsexuelle Menschen an Wettkämpfen teilnehmen wollten, erleichterte aus Sicht der Sportfunktionäre die Aufrechterhaltung des Zwei-Geschlechter-Regimes nicht gerade. Zwar wurde die Barr-Körperchen-Untersuchung durch die analysestärkere Karyotypisierung der Chromosomen ersetzt, bei der die Chromsomen einzeln genauer untersucht wurden. In den neunziger Jahren ersetzte die noch präzisere SRY-Gendiagnostik dieses Verfahren. Humangenetiker gehen davon aus, dass die Geschlechtsdeterminierung des Säugers durch das auf dem Y-Chromosom lokalisierte SRY-Gen eingeleitet wird. Das Fehlen dieses Gens und Varianten implizieren damit, dass jedenfalls aus genetischer Sicht kein männlicher Status diagnostiziert werden kann – für eine positive Aussage darüber, ob es sich um eine eindeutige Frau handelt, reicht aber auch dieser Test nicht aus.
Das IOC reagierte auf die zunehmende Unklarheit 2000 mit der Abschaffung der zwingenden Geschlechtstests, seitdem werden Geschlechtsbestimmungen nur noch in – wodurch auch immer – begründeten Einzelfällen vorgenommen. Die Selbstbescheidung des IOC ist jedoch nur eine pragmatische Konsequenz, die aus den Schwächen der Tests, der Schärfe der Kritik daran und aus der geringen Effizienz bisheriger Reihenuntersuchungen gezogen wurde. Vor allem fehlt dem IOC, das auch in Zukunft auf einer Teilung der Wettbewerbe in Männer-Wettkämpfe und Frauen-Wettkämpfe bestehen wird, eine klare Leitlinie, wie diese Teilung angesichts zunehmender Unklarheit im Bereich der Geschlechterdifferenzierung umgesetzt werden soll. Bislang gibt es mit der Stockholmer Übereinkunft lediglich klare Standards hinsichtlich transsexueller Menschen, die bei Olympischen Spielen antreten wollen: Wenn der Wechsel des offiziellen Geschlechts nach der Pubertät vorgenommen wurde, müssen sämtliche geschlechtsangleichenden Operationen vollzogen worden sein, außerdem muss eine mindestens zweijährige Hormontherapie stattgefunden haben, und das neue Geschlecht muss rechtlich anerkannt worden sein – ein Verfahren, das in vielen Ländern noch gar nicht geregelt ist. Auch der Zwang zur Operation der Genitalien wird kritisiert, da das auf sportliche Leistungsfähigkeit keinerlei Einfluss hat.

Weiter als das IOC ist in Sachen »Gender Verification« die International Association of Atlethic Federations (IAAF), die 2006 ihre Policy on Gender Verification verabschiedete. Die IAAF erlaubt sogenannten XY-Frauen bei Wettkämpfen zu starten, weil sie gegenüber anderen Frauen keinen physischen Leistungsvorteil haben. Auch Menschen mit Turner-Syndrom, die nur über ein Geschlechts-Chromosom verfügen, sollen als Frauen starten dürfen, ebenso wie Menschen mit anderen Besonderheiten bei der Entwicklungen der Keimdrüsen, bei denen das IAAF allerdings wünscht, dass sie operativ entfernt worden sein sollen, was von Betroffenen häufig als Zwang zur Kastration abgelehnt wird. Auch das recht häufig vorkommende Andrenogenitale Syndrom, bei dem Menschen zwar über einen weiblichen Chromosomensatz verfügen, aber durch eine Besonderheit der Nebenniere »männliche« Hormone produzieren, soll einer Starterlaubnis als Frau nicht entgegenstehen. Wie komplex die Geschlechtsbestimmung durch die IAAF ist, wird auch daran deutlich, dass ein Mediziner-Team, das sich mit den kritischen Fällen befasst, aus Endokrinologen, Humangenetikern, Psychologen, Gynäkologen, Internisten und einem Spezialisten für Gender-/Transgender-Themen bestehen soll. Grundsätzlich will die IAAF die Entscheidung über eine Starterlaubnis im Rahmen der »Gender Verification« nicht nur von Laborergebnissen abhängig machen, sondern von einer Gesamtbewertung des jeweiligen Falls. Geschlecht ist also auch im Leistungssport als normative Kategorie erkannt und gilt nicht mehr als natürliches, eindeutiges Merkmal, das nur verborgen gewesen sei und jetzt von Medizinern eindeutig bestimmt und ans Licht gebracht werden könne.
Der Weg der IAAF ist grundsätzlich richtig, auch wenn die einzelnen Kategorisierungen fragwürdig sein mögen. Vor allem wäre wichtig, offensiv damit umzugehen, dass es eben nicht nur zwei Geschlechter gibt, mithin auch keine reinen Frauen- und Männerwettkämpfe. Die Auseinandersetzungen um den Start des beinamputierten Läufers Oskar Pistorius bei Wettkämpfen von Nichtbehinderten zeigt, welche Konflikte noch anstehen: Noch geht es um die Frage, ob eine Sportlerin als Frau anerkannt werden kann. Was aber, wenn Menschen, die nicht eindeutig Mann oder Frau sind, die Teilnahme an den Wettkämpfen der Männer begehren? Und warum sollte es einer entsprechend leistungsstarken Frau verboten werden können, gegen Männer anzutreten?
Diese grundsätzlichen Fragen wird das IOC nicht klären wollen. Die Olympia-Funktionäre suchen einen Weg, wie sie das Thema unter nicht zu großer öffentlicher Anteilnahme pragmatisch klären können. Deswegen sind zur Konferenz in Miami und zur Entwicklung der neuen Richtlinie auch keine Betroffenenverbände eingeladen.