Über den Film »Die Fremde«

Die Liebe der Familie

Feo Aladag schildert in ihrem Film »Die Fremde« einen Ehrenmord in Deutschland.

Alice Schwarzer und Ulrich Wickert loben den Film über den grünen Klee. Zur Premiere im Rahmen der Berlinale gibt sich die Berufsbetroffene Claudia Roth die Ehre. Die Deutsche Film- und Medienbewertung vergibt das Prädikat »besonders wertvoll«, und die Bundeszentrale für politische Bildung publiziert ein Begleitheft. Es gibt also eine ganze Menge, was einen gegen »Die Fremde« misstrauisch werden lässt.
Doch die Befürchtung, es handele sich bei diesem Spielfilm über einen sogenannten Ehrenmord um ein Stück filmischer Sozialpädagogik, ist nicht gerechtfertigt. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Feo Aladag ist klug genug, einfach nur eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine bewegende Geschichte, die für sich spricht und die es überhaupt nicht nötig hat, mit erhobenem Zeigefinger präsentiert zu werden. Es ist die Geschichte der 25jährigen Umay, die aus dem gar nicht so stummen Zwang der patriarchalen Verhältnisse ausbricht und so mutig wie verzweifelt um ihre Selbstbestimmung kämpft.
Umay ist in Berlin aufgewachsen, wurde aber zwangsverheiratet und muss nun in einem tristen Istanbuler Vorort leben. Ihr Mann Kemal schlägt und vergewaltigt sie, bis sie es nicht mehr erträgt. Sie flüchtet mit ihrem fünfjährigen Sohn Cem zu den Eltern und Geschwistern, die noch immer in Berlin leben. Zunächst wird sie freundlich aufgenommen. Doch nachdem klar geworden ist, dass Umay gar nicht daran denkt, zu ihrem Peiniger zurückzukehren, und ein selbständiges Leben plant, kippt die Stimmung. Der Vater macht ihr deutlich, dass er ihr Verhalten in keiner Weise duldet, weil die Familie ihr Ansehen verliere. Der ältere Bruder Mehmet möchte den kleinen Cem notfalls mit Gewalt zurück nach Istanbul bringen.
Mutter und Schwester sind keineswegs geschlechtersolidarisch, obwohl sie die Qualen Umays kennen und sie teilweise selbst erleben. »Hör auf zu träumen«, herrscht die Mutter ihre älteste Tochter an. Erneut tritt Umay die Flucht an, diesmal aus der elterlichen Wohnung, die für sie zur Spießerhölle geworden ist. In einem Frauenhaus untergekommen, versucht sie, ein neues Leben aufzubauen. Sie geht zur Abendschule, findet einen Job und lernt dort den blonden Stipe kennen und lieben. Doch trotz der neuen Freiheit vermisst Umay ihre Angehörigen. Sie versucht immer wieder Kontakt aufzunehmen, wird aber rüde abgewiesen. Ihre Chefin, eine selbstbewusste türkische Unternehmerin, die zu vermitteln versucht, macht ihr nach einem Treffen mit dem Vater keine Hoffnung: »Sie werden sich nicht für dich entscheiden.« Umay will das nicht wahrhaben: »Doch!« Die selbst herbeigeführte Entfremdung der Familie von Umay kulminiert schließlich in einem düsteren Entschluss.
In dieser knappen Synopse mag der Plot holzschnittartiger erscheinen, als er ist. Der Film ist eine präzise Mikrostudie über eine Familie, die immer wieder fatale Entscheidungen trifft. Mehrfach hätten alle Beteiligten die Möglichkeit, ihre Fehler zu korrigieren, Eskalationen zu vermeiden oder wenigstens Ruhe zu bewahren. Vater und Brüder werden dabei aber nicht als allzeit gewaltbereite Monster inszeniert, wie überhaupt Klischees vermieden werden. Dem Vater zerreißt es im wahrsten Sinne des Wortes das Herz, weil er sich gezwungen sieht, seine Tochter zu verstoßen. Doch unaufhörlich taumelt die Familie einer Katastrophe entgegen, die jene Menschen zerstört, die sie eigentlich liebt.
Das Thema des Films lag schon lange in der Luft. Die Medien haben in den vergangenen Jahren oft über sogenannte Ehrenmorde in Deutschland berichtet. Namen wie der von Hatun Sürü-cü, die vor fünf Jahren von ihrem jüngsten Bruder im Namen der »Ehre« erstochen wurde, sind aus der Debatte um den »gescheiterten Multikulturalismus« nicht mehr wegzudenken. Die Bücher von Necla Kelek und Seyran Ates gegen die patriarchale Zurichtung muslimischer Familien wurden viel diskutiert.
Nur fiktionale Bearbeitungen des Themas blieben Mangelware, obwohl doch kaum ein Stoff mehr hergibt für tränentreibende Melodramen und große Gefühle als die Ermordung der eigenen Schwester oder Tochter. War es die Furcht vor dem Scheitern an einem so schwierigen Thema, die zur Zurückhaltung führte? Vorwürfe wie »Verbreitung von Klischees« oder »Islamophobie« wollten offensichtlich keine Autorin und kein Filmemacher riskieren. Tatsächlich führt das Thema »Ehrenmord« mitten in ein Diskursfeld, das voller Tretminen ist, wie die zunehmend hysterisch geführte Debatte über »den« Islam und »die« Islamkritik belegt.
Aladag entgeht diesem Dilemma, indem sie sich simplifizierenden Erklärungsmustern wie Parallelgesellschaften, gescheiterte Integration oder Tradition verweigert. Besonders auffällig an ihrem Film ist die fast vollständige Absenz des Religiösen. Es ist eine programmatische Szene, als der Vater die Chefin von Umay mit den Worten »Gott sei mit dir« hinauskomplimentiert und diese schlagfertig entgegnet: »Den halten wir mal lieber raus.« Gleich in mehreren Interviews hat Regisseurin Aladag bekundet, nicht mit dem Finger auf die türkische Community zeigen zu wollen, sondern eine »universelle Geschichte« erzählen zu wollen. Diese Geschichte handele von »Selbstbestimmung versus Funktionieren«, vor allem aber von der »Angst vor dem Blick der Anderen«, die es ja nicht nur im konservativen Milieu türkischer Migranten gebe. Aladag nähert sich dem Thema übrigens nicht aus eigener Erfahrung: Sie ist Österreicherin und hat den Namen ihres kurdischen Ehemanns angenommen, des Regisseurs Züli Aladag, der das Neukölln-Drama »Wut« inszeniert hat.
Feo Aladag, die nicht nur promovierte Psychologin ist, sondern auch selbst als Schauspielerin arbeitet, spielt gekonnt mit den Emotionen des Publikums. Sie hat in der sechsjährigen Arbeit an ihrem ersten eigenen Film nichts dem Zufall überlassen, er ist von Anfang bis Ende durchkalkuliert. Die ausgetüftelte Dramaturgie, die intime Kameraführung und die bisweilen effekthascherische musikalische Untermalung würden aber nicht so gut funktionieren, wenn sich die Regisseurin nicht auf eine durchweg überzeugende Besetzung verlassen könnte. Allen voran Sibel Kekilli, die bereits in »Gegen die Wand« eine ebenso starke wie zerrissene Frau fast schon schmerzhaft realistisch verkörperte. Sie ist die Idealbesetzung für die durchaus dankbare Rolle der Umay, denn auch sie hat ihr Leben gegen alle familiären Widerstände selbst in die Hand genommen. Kaum einer anderen Schauspielerin würde man Interviewaussagen abnehmen wie: »Es ist verdammt schwer, sich umzudrehen und zu gehen« oder »Wer stark ist und kämpft, kann sein eigenes Leben leben«. Doch es ist nicht einem Authentizitätsbonus, sondern einer souveränen darstellerischen Leistung geschuldet, dass Kekilli die allermeisten ihrer deutschen Schauspielkolleginnen überflügelt hat. Mit »Die Fremde« hat sie sich endgültig als Star des deutschen Kinos etabliert.
In künstlerischer wie politischer Hinsicht intelligent von Aladag war es, den Vater mit dem türkischen Serienstar Settar Tanrıögen und die Mutter mit der türkischen Schauspielerin Derya Alabora zu besetzen. Diese Besetzung ermöglicht nicht nur, dass zwei Drittel der Dialoge auf Türkisch geführt werden können, sie sorgt auch für eine größere Akzeptanz in der Türkei. »Die Fremde« richtet sich weniger an ein deutsches voyeuristisches Publikum, das sich schaudernd an archaischen Traditionen der Anderen ergötzen möchte. Adressat ist die türkische Community in und außerhalb der Türkei. Die Chancen stehen gut, dass der Film dort eine Debatte auslöst. Aladag berichtet, dass bei ihren Castings in der Türkei großes Interesse an dem Projekt bestanden habe. Settar Tan-rıögen hatte sich um seine Vaterrolle mit den Worten beworben: »Wenn ich meiner Tochter nicht so einen Film hinterlassen kann, was soll ich ihr dann von meinem Beruf hinterlassen?«
Warum die Ächtung von »Ehrenmorden« weiterhin bitter notwendig ist, zeigt ein Blick auf die Webseite ehrenmord.de. Dort sind in dürren Worten zahlreiche Fälle dokumentiert, und etwa alle zwei Wochen kommt ein neuer hinzu. Die Geschichte der Umay ist nicht wirklich fiktiv. Das ist der eigentliche Grund, warum dieser Film so todtraurig ist.

»Die Fremde« (D 2010): Regie: Feo Aladag. Darsteller: Sibel Kekilli, Derya Alabora, Settar Tanrıögen, Florian Lukas, Alwara Höfels, Nursel Köse. Start: 11. März