Das Urteil über Vorratsdatenspeicherung in Karlsruhe

Ruf mal wieder an!

Das Karlsruher Urteil zur Vorratsdatenspeicherung geht an der virtuellen Realität vorbei.

Die Reaktionen waren wenig überraschend. Als das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung für nicht verfassungskonform und damit nichtig erklärte, sahen die Sicherheitspolitiker der CDU rechtsfreie Räume entstehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach gar von einem »absoluten Vakuum«. Das Internet scheint für einige Politiker ein sanktionsfreier Spielplatz für Terroristen, Kinderschänder und Kreditkarten­betrüger zu sein, eine beliebig füllbare Projektionsfläche ihrer Ängste. Auch der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist keine Ausnahme. »Wenn sich das herumspricht, dann wird Internetkriminalität nach Deutschland verlagert.« Als würde die organisierte Kriminalität jetzt ihre Server packen und gerade hier aufstellen. Seine Äußerung ist ein schönes Beispiel für mangelnden Realitäts- oder besser Virtualitätsbezug. Das Personal von Legislative, Judikative und Exekutive steht dem Phänomen Internet immer noch rat- und ahnungslos gegenüber.
Doch auch die Gegenseite zeigt ihre Defizite. So reklamierte die Piratenpartei, erfolgreich geworden mit dem Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung und »Zensursula«, einen »Sieg der Bürgerrechte«, nur um in einer zweiten, nachgeschobenen Presseerklärung (»Update«) zu erkennen, dass der Erste Senat des Gerichts lediglich die »handwerkliche Leistung des Gesetzgebers kritisiert«. In der Tat differenziert das Karlsruher Urteil zwischen der Speicherung von Daten aus dem E-Mail-, Internet- und Telekommunikationsverkehr, die es für verfassungskonform erachtet, und der Abfrage dieser Daten durch Behörden, Gerichte und Geheimdienste. Das Gericht verlangt nun unter anderem eine sicherere, verschlüsselte Aufbewahrung der Daten bei den privaten Providern, den Richtervorbehalt bei Auskunft und eine wenigstens nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen. Zudem fordert es, die Auskunft über Verkehrsdaten auf Fälle von gravierenden Straf­tatbeständen zu beschränken. IP-Adressen dürfen hingegen schon bei Ordnungswidrigkeiten herausgegeben werden.
Die verdachtsunabhängige Speicherung der Daten aller Telekommunikationsteilnehmer für mindestens sechs Monate – und bis zu zwei Jahre! – ist für das Gericht unter den neuen Auflagen kein Problem. Dabei sollte nach dem mehrfachen Diebstahl von jeweils zig Millionen Kreditkartendatensätzen klar sein, dass es selbst in sensiblen Bereichen keine endgültige Sicherheit geben kann. Am sichersten sind immer noch die Daten, die gar nicht erhoben werden.
Wer dagegen wirklich organisiert kriminell handeln möchte, kann weiterhin mit entsprechendem Aufwand das Gesetz unterlaufen. Unregis­trierte Prepaid-Handykarten oder die abwechselnde Nutzung offener WLAN-Netze machen es möglich. Das Karlsruher Urteil ist somit kein Meilenstein, sondern ein deutlicher Rückschritt auf dem Weg zur einst befürworteten »informationellen Selbstbestimmung« des Bürgers. Dies nicht zuletzt, weil es die Gefahren, die in der Vernetzung der Daten zu Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen liegen, grundsätzlich ausblendet.