Gesundheitspolitik und deutsche Aufklärung

Nutzen nicht nachweisbar

Schulmedizin, Rauchverbot, Sterbehilfe und Embryonenselektion: Die deutsche Aufklärung kommt in der Gesundheitspo­litik zu sich selbst.

Aufklärung, heißt es oft, sei ein hohes Ziel der Linken. Die Partei »Die Linke« stellt sich in ihrem Programm »bewusst in die Tradition der Aufklärung« und erst danach in die des »demokratischen Sozialismus«. Aufklärung, geht die Geschichte in der linken Trivialliteratur, ist der Kampf des Lichtes gegen die Mächte der Finsternis, der Vernunft gegen das »Irrationale«. Und so hat eine unter den Klassikern des linken Denkens nicht unumstrittene bürgerliche Ideologie sich gerade in dem Augenblick durchgesetzt, in dem sie daran ist, zur Staatsdoktrin zu werden.

Eines der vielen Beispiele dafür aus den letzten Wochen ist der Streit um die Homöopathie. Die Homöopathie ist eine dieser mittelalterlichen Geheimwissenschaften, die in einer aufgeklärten Welt keinen Platz mehr haben. So hat Prof. Karl Lauterbach, »Gesundheitsobmann« der SPD, die neben der FDP die Ideale der deutschen, stark protestantisch geprägten Aufklärung am reinsten vertritt, gefordert, den Kassen »zu verbieten«, für homöopathische Behandlung zu bezahlen. Denn wenn sie dafür bezahlten, könnte der autoritätshörige deutsche Patient glauben, es müsse damit seine Richtigkeit haben, sprich, alles sei wissenschaftlich wasserdicht.
»Der Nutzen der Homöopathie ist nicht belegt«, pflichtet Prof. Jürgen Windeler, demnächst oberster Arzneimittelprüfer des Landes, Lauterbach bei. In Windelers Satz stoßen wir auf das zweite große Kriterium der Aufklärung nach der Rationalität, die Nützlichkeit. Das zweite Kriterium ist mit dem ersten verknüpft, denn der Nutzen muss ein objektiv belegbarer sein, bloß subjektiven Nutzen erkennt der Aufklärer nicht an. Ihn könnte nicht überzeugen, wer ihm Bekannte nennen würde, deren Homöopath sie von lästigen Krankheiten befreit hat. Wie das vonstatten gegangen ist, kann nämlich niemand sagen. Aber wer fragt schon, wenn die Malaise verschwunden ist, warum?
Das Beispiel ist banal, weil einer, um sich von einer juckenden Hautentzündung zu befreien, die ihn über Wochen nicht hat schlafen lassen und der kein Schulmediziner beigekommen ist, nicht erst die Zustimmung aufgeklärter Professoren einholt, um sich von einem Homöopathen heilen zu lassen. Zur Not zahlt der Patient eben selbst.
Doch die Begründungen der beiden Professoren sind selbst nicht banal, denn die Kriterien Rationalität und Nutzen stehen auch hinter weitreichenden Argumenten und Entscheidungen. Wenn nur ein objektiv begründbarer Nutzen aufgeklärt ist, wer fördert dann zum Beispiel in einer aufgeklärten Politik die Kunst? Schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Gegner der Aufklärung, erkannte, dass sie mit Kunst prinzipiell nichts anfangen kann. Kunst, meinte Hegel, sei der Aufklärung zu spekulativ, aber sie ist ihr nicht selten auch zu unvernünftig. Der Nutzen von Kunst ist nicht belegbar. Der teure Unterhalt einer Oper lässt sich gerade noch mit der Förderung des Tourismus begründen. Einen objek­tiven Nutzen von Neuer Musik oder experimenteller Poesie gibt es dagegen nicht, bloß einen subjektiven. Hier endet folgerichtig das Verständnis und die Subvention. Und was für die Kunst gilt, gilt für den Genuss erst recht, vor allem für den von Giften.

Nachdem der Volksentscheid in Bayern ein striktes Rauchverbot im öffentlichen Raum durch­gesetzt hat, forderte die SPD-Politikerin Carola Reimann, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestages und übrigens eine Gegenspielerin des Prof. Lauterbach, ein nationales Nichtraucher-Gesetz. Das Personal in Gaststätten müsse vor Rauchern geschützt weden. Die Begründung ist fadenscheinig, denn die Rechte von Kellnern und Wirten bedeuten Politikern mit Sicherheit nicht so viel wie die enormen Summen, die für Krebs- und Herzerkrankungen aufgebracht werden müssen. Die Folgen des Rauchens sind dem Staat zu teuer und es widerspricht ohnehin den Idealen des Fortschritts. Das Rauchverbot ist ein letzter Sieg des Bürgertums über den Feudalismus, der die Kulturtechnik des Rauchens entwickelt hat.
Rauchen dient der Geselligkeit, ist aber auch eine angenehme Weise, Zeit zu gewinnen. – Die einem am Ende fehlt, könnte ein gesunder Mitbürger einwenden und damit Recht haben, aber der Preis für ein langes Leben ist nicht selten, dass es leer gewesen ist. Leben ist zur Lebensverlängerung geworden, zu einem atemlosen Programm aus gesunder Ernährung, Joggen und Jobben. Zeit bleibt bei dieser Beschleunigung keine mehr.
Und gerade am Lebensende soll es ganz schnell gehen. Vor einem Monat entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass es legal sei, einen Komapatienten verhungern zu lassen, wenn er irgendwann einmal verfügt hat, in solch einer Situation lieber sterben zu wollen. Im konkreten Fall genügte es sogar, dass die Patientin diese Verfügung vor acht Jahren mündlich abgegeben haben soll. Man hüte fortan seine Zunge, es könnte sein, dass man sonst sein Todesurteil spricht.

Dass einer, der sich nicht mehr bewegen, der nicht mehr sprechen, sich nicht mehr ernähren kann, dennoch gern weiterlebte, kann sich der Aufgeklärte, dessen Welt vernünftiger Diskurs und nützliche Arbeit ist, nicht vorstellen. Allerdings belegt die neueste Forschung an Patienten mit Locked-In-Syndrom, die sich, obwohl völlig gelähmt, auf Umwegen mit ihrer Umwelt verständigen können, dass fast alle gerne leben. Es genügt ihnen, um glücklich zu sein, dass einer sich um sie kümmert. Doch um das Glück des Patienten geht es in der Diskussion um die Sterbehilfe in Wahrheit gar nicht, sondern um das Unglück der Erben und der Krankenversicherung, mithin des Staates. Ein aufgeklärtes Gemein­wesen duldet nicht die Sentimentalität der kostspieligen Verlängerung einer Existenz, die nichts mehr leistet. Dass aufgeklärte Politik eine bedenkliche Nähe zur nazistischen Vorstellung vom »unwerten Leben« aufweisen kann, zeigt nicht nur diese Gerichtsentscheidung des BGH.
Vor zwei Wochen entschied er, dass es Medi­zinern bei einer Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt sei, im Reagenzglas erzeugte Embryonen, die Gendefekte aufweisen, auszusondern, früher sagte man: zu selektieren. Kurz, das auf­geklärte Paar, das sich, nach reiflicher Überlegung, ein Kind herstellen lässt, kann sich darauf verlassen, dass dieses nicht behindert sein und dass es ihnen wie ein Ei dem andern gleichen wird. Entschiedener Widerstand dagegen ist nur von der Hochburg der Gegenaufklärung, der Katho­lischen Kirche, zu vernehmen. Ich begegnete allerdings gestern einer Wahnsinnigen, die mir auf dem Hermannplatz ins Gesicht schrie: »Soll ich dir auch mal an die Genbank gehen?« Sie schien mir die Gefahr der aufgeklärten Politik besser begriffen zu haben als viele Idealisten auf der Linken, von der SPD zu schweigen.