Ein Besuch im belgischen Geisterdorf Doel

Die Geisterstadt an der Schelde

Seit 15 Jahren soll das belgische Polderdorf Doel der Erweiterung des Antwerpener Hafens Platz machen. In dieser Zeit wurde es bekannt als Filmkulisse, Kunstkolonie und Paradies für Hausbesetzer. Inzwischen ist Doel zur Geisterstadt geworden – und doch noch lange nicht tot.

»Der Fluch« kommt auf dem Fahrrad. Er hat dunkelblonde Locken, trägt eine schwarze Trainingsjacke und blinzelt träge in die Mittagssonne. Der Wein floss reichlich gestern Nacht, hinterm Deich, wo »der Fluch« wohnt und mit ein paar Nachbarn den Abend ausklingen ließ. Marina Apers ist eigentlich freundlich und zurückhaltend. Doch wenn sie über Doel zu sprechen beginnt, wird klar, wie sie zu ihrem Spitznamen gekommen ist. »Der Fluch des Hafens von Antwerpen«, so nannte das Wall Street Journal die zierliche Frau einst. Mit entschlossener Stimme erzählt sie von einem Kampf, der schon mehr als 15 Jahre andauert. Die wachen braunen Augen fixieren ihr Gegenüber, und die Routine, mit der sie Journalisten von überallher empfängt, ändert nichts an ihrer Wut. Doel, ein winziges Dorf im Polder, soll verschwinden, damit der Hafen wachsen kann. Und damit will sich Apers nicht abfinden.

»Nur über unsere Leiche!« verkündet ein Transparent unter dem Giebel ihres Hauses. Als Apers es 1991 kaufte, kam es ihr vor wie das große Los. Nur wenige hundert Meter weiter ragen die Kühltürme des Atomkraftwerks in den Himmel, in dem die 50jährige als Putzfrau arbeitet. Keine Anfahrt mit dem Auto, kein Stau. Knapp 1 000 Menschen wohnten damals in Doel. Pläne, die das Dorf in den sechziger Jahren dem Bau neuer Hafendocks opfern wollten, waren 1978 aufgegeben worden. »Doel war sicher«, sagt Apers. Doch nicht lange: 1994, im Jahr, in dem ihre Tochter geboren wurde, kamen erste Gerüchte auf: Ein gigantisches, gezeitenunabhängiges Containerdock solle südlich des Deichs entstehen. Apers und ihre Mitstreiter von der Bürgerinitiative »Doel 2020« begannen, um das Überleben ihres Dorfes zu kämpfen. »Dass es so weit gehen würde, hätten wir nie gedacht«, erinnert sich Apers an die Anfänge.
1998 beschloss das flämische Parlament das Ende von Doel. Das Dock, hieß es, werde die Lebensqualität zu stark einschränken. 1999 begann der Bau. Was danach kam, waren Prozesse gegen Hafen und Regierung, die durch alle gerichtlichen Instanzen des Landes geführt wurden, wissenschaftliche Studien über die Lebensqualität in Doel und eine Infoveranstaltung nach der anderen. 2005 wurde das Dock eingeweiht. Doch fünf Jahre später ducken sich die niedrigen roten Backsteinhäuser Doels noch immer ins Schelde-Ufer. Inzwischen steht die nächste Erweiterung des Hafens an, diesmal soll das neue Dock quer durch das Dorf gehen.
Vorläufig brachte der Sommer eine Verschnaufspause. Nachdem in den vergangenen Jahren etwa 60 Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, setzte ein Berufungsgericht im Juli die Abrisswelle aus. Auch das Wohnrecht der Bewohner, das eigentlich Ende September endet, wurde bis zum Frühjahr verlängert.
»Ein Aufschub«, seufzt Marina Apers. Der wirtschaftliche Bedarf an einem neuen Dock ist umstritten. Solange er nicht bewiesen ist, kann Doel nicht verschwinden. Auch das AKW spielt eine Rolle. Das Dorf liegt mitten in der Sicherheitszone, in der Grabungsarbeiten die Stabilität des Meilers gefährden können. Doch weiterhin gelten die Worte des flämischen Ministerpräsidenten Kris Peeters, Doel müsse »mittelfristig verschwinden«.
Der trotzige Schriftzug »Doel blijft«, der häufig auf den Wänden und an den Brückenpfeilern auf der Zufahrtsstraße durch den Hafen zu sehen ist, bedeutet kaum mehr als ein Pfeifen im Wald, das weiß auch Marina Apers. Zumal außer ihr genau 55 andere Einwohner geblieben sind. Doel ist eine Geisterstadt.
Und das, sagen die letzten Bewohner, sei kein Zufall. Die Regierung habe diesen Zustand forciert, um sich selbst Recht zu geben. Die »Verslumungspolitik« solle die Lebensqualität verschlechtern, das Sicherheitsgefühl untergraben und vor allem den Widerstand brechen.
Doel muss einmal ein Polderdorf wie aus dem Bilderbuch gewesen sein. Heute sieht man in den Straßen die Spuren des Verfalls, die meisten Häuser stehen leer, die Türen sind verrammelt. Vor ein paar Jahren ist die Dorfschule geschlossen worden, und außer einem Elektroladen, den eine alte Frau aus Trotz weiter betreibt, gibt es keine Geschäfte mehr. Zum Einkaufen müssen die Doelenaars, wie sich die Bewohner nennen, sieben Kilometer ins Nachbardorf fahren. Etwa einmal in der Stunde fährt ein Bus.

Drinnen in den Häusern sind die Böden mit Scherben übersät. Müllsäcke und Kartons liegen herum, Zeitungen, zurückgelassene Kleidung. Was an Sanitärmaterial noch verkauft werden konnte, haben Plünderer abgeschlagen. Ein paar Keller stehen voller Wasser. In einem der Häuser führen mit Spinnweben verhangene Treppen ohne Geländer in den Schlafbereich. Plüschtiere und Tannengrün liegen herum, im ehemaligen Zimmer von Stephanie und Melissa hängt noch ein Poster von Linkin Park an der Ecke, daneben noch eins von der Band 5ive, aus der Joepie, der flämischen Bravo. Melissas Selbstporträt ziert die Tür, unten im Wohnzimmer findet sich ihre Zeugnismappe aus dem Jahr 2002, voll guter Noten und ermunternder Kommentare. In einer anderen Kladde sind Rechnungen und Mahnungen die Spuren von Biografien, die mit der Verkaufsfrist der flämischen Regierung eine Zäsur erfuhren.
»Doel ist eine Geschichte, die Häuser sind die Erzähler«, so fasst es die Kunstinstallation in einer Querstraße zusammen. Vier Hemden und Hosen hängen an einer Leine vor einer heruntergelassenen Holzjalousie, von der die weiße Farbe blättert. Die Aufschriften verklären das Gemeinschaftsgefühl einer guten alten Zeit: »Doel ist eine Geschichte von Pol und Jan, die jeden Sonntag Karten spielen«.
»Kunstdoel« heißt die Initiative, die seit einigen Jahren versucht, den Abrissbaggern und Planierraupen Kunst entgegenzusetzen. Sprayer und Airbrush-Künstler nutzen ohnehin das ganze Dorf, aber die zwei Straßen, die vom Ortseingang zum Deich herunterführen, sind in eine Galerie unter freiem Himmel umgewandelt worden. »Dieses Dörfchen verschwindet tröpfchenweise«, klagt ein Künstler namens »araceli« auf einer Wand. Daneben prangt ein tropfender Wasserhahn in Blaugrau. Und für den Dichter Paul Vincent ist ein Spaziergang durch Doel zum »Walk of Shame entlang der Schelde« geworden.
Eine ganz andere Lyrik pflegen die Hauseigentümer Peggy und Guy. Auf drei Blättern in ihrem Fenster wenden sie sich an »verehrte Zigeuner, Marginalisierte, Rumänen, Obdachlose oder wen auch immer«. Die Nachricht ist simpel: Dieses Haus ist noch bewohnt, auch wenn die Besitzer nicht ständig dort sind. Wer beim Plündern oder Schlafen erwischt wird, hat daher ein Problem. »Die Schelde ist breit und fließt schnell«, drohen sie. Und wem dies zu subtil ist, der bekommt noch eine weniger kryptische Warnung in holpriger Grammatik: »Wenn ich Sie erwische, hast Du ohne Warnung eine Kugel in deinen Klöten. Peggy und Guy«.
Auf allseitige Begeisterung stießen die Hausbesetzer also nicht, als sie das bodenständige Doel zwischen 2003 und 2006 für sich entdeckten. So mancher Jan oder Pol hätte lieber weiter Karten gespielt, statt das Dorf mit Dreadlock-Trägern und ihren Hunden zu teilen. Doch unter Hausbesetzern oder »Krakern« wurde Doel zum Hype, nachdem zahlreiche Bewohner ihre Häuser verkauft und verlassen hatten. Viele unterschrieben die Mietverträge, die ihnen von der Gemeinde an­geboten wurden, einige zogen weiter. Nur die Graffiti an den Wänden zeugen noch von diesen vorübergehenden Bewohnern, im Jahr 2006 ging die Polizei hart gegen jede Besetzung vor.
Heutzutage hingegen lässt sich kaum noch ein Vertreter des Staates in Doel sehen. »Es ist ein Dorf mit einem eigenen Recht geworden«, sagt Frie Lauwers, die sich ebenfalls bei »Doel 2020« engagiert. »Manchmal fragt die Polizei uns, ob es neue Kraker im Dorf gäbe. Ganz selten kommt das noch vor. Und wenn wir uns gut mit ihnen verstehen, sagen wir ›Nein‹.«
Eine merkwürdige Allianz war das, die Kraker und die alteingesessenen Polderbewohner. Der Wunsch, das Dorf zu erhalten, brachte sie zusammen und überbrückte so manche Unterschiede. Es sei ein »Amalgam auf Zeit«, meint die Malerin Denise Aerts, eine Antwerpenerin, die vor zehn Jahren eine der ersten Künstlerinnen war, die das Dorf entdeckten. Je akuter die Bedrohung, desto größer der Zusammenhalt, diese Regel gelte auch in Doel. »Aber manchmal hat man den Eindruck, jeder vertrete seine eigene Fraktion. Alteingesessene, Zugezogene, Künstler, Kraker.« Aerts wohnt fest in Doel. Ihr Atelier hat sie im Hooghuis eingerichtet, dem ehemaligen Sommerhaus eines anderen Malers aus Antwerpen: Peter Paul Rubens. Sie hängt an dem Ort, sie will ihn erhalten und hierbleiben, so lange wie möglich. Doch wenn es zu Ende ist, geht es für Denise anderswo weiter. »Natürlich habe ich nicht die emotionale Bindung wie die alten Dorfbewohner.«

Wo der Unterschied liegt, zeigt sich im Havenweg, oder in dem, was davon übrig ist. An einem sonnigen Spätnachmittag im Juli trottet Edmond Nonneman, den linken Arm gestützt auf seinen Gehstock, durch das Gras, das die Brache bedeckt. Wo mannshohe Sträucher wuchern, stand bis vor einem Jahr sein Haus. Edmond Nonneman ist heute 81 und verließ Doel, lange bevor die Regierung Verkaufsultimaten stellte und das Wort »Wohnrecht« eine zentrale Bedeutung für die Menschen bekam. Der Arbeit wegen zog er nach Antwerpen. Doch die Erinnerungen an seine Jugend im Polder haben ihn nie losgelassen. Als er zurück wollte, war es zu spät, Doels Urteil war unterzeichnet und neue Bewohner wurden nicht mehr zugelassen.
Wenn Nonneman heute zu Besuch kommt, schaut er oft bei seinen Freund Maurice Vergauwen vorbei. Der 80jährige ist immer mit Mütze und nie ohne Kippe im Mundwinkel unterwegs. Mit einem Stock kämpft er sich durch die Vege­tation, die aussieht, als wolle sie sich das Dorf zurückholen. Edmond hat wieder von dem Brunnen aus der Bronzezeit erzählt, der sich unter dem Fundament befindet. Schon oft sprachen die beiden darüber, und jetzt unternehmen sie eine Ortsbegehung, als ob diese die Erleuchtung bringe. »Irgendwas muss man damit doch machen«, murmeln sie abwechselnd, ganz so, als könnte ein solcher Fund das Schicksal des Dorfs abwenden. Im Hintergrund hebt sich eine Fassade von der Brache ab. Jemand hat die Olympischen Ringe darauf gemalt. »Doel 2018« ist darunter zu lesen.
Wenige Stunden später kommt Diederik Jean­gout mit Fahrrad und Anhänger um die Ecke ­gefahren. Der Kunststudent aus der Nähe von Antwerpen ist voller Tatendrang, denn um Mitternacht wird er gemeinsam mit einem Freund an dieser Stelle einen Campingplatz eröffnen. »Camping Havenweg« soll er heißen, benannt nach der Straße, die einmal »eine der geselligsten des Dorfs« war. Diederik ist 21 und hat in den vergangenen Jahren einige Zeit in Doel verbracht. Wie viele andere auswärtige Unterstützer kam er zu Veranstaltungen, Festen und um sich bei Räumungen den Baggern in den Weg zu stellen. Nun will er aus dem vorhandenen Schrott ein »Kunstdorf« errichten. Keineswegs als Selbstzweck, denn die kreativen Ideen der Teilnehmer sollen das Leben im Ort verbessern. Für Diederik ist die Sache klar: »Alles hier steht seit Jahren leer. Ob Doel bleibt oder nicht, warum sollen wir nicht in der Zwischenzeit ein großes Fest daraus machen?«
Nicht allein Künstler und Freaks haben Doel entdeckt. Auch Filmteams sind keine Seltenheit, denn das Geisterdorf ist beliebt als Kulisse für Seifenopern und Videoclips. Und wenn es Nacht werde, erzählt Frie Lauwers, sei Doel längst nicht so tot, wie man erwarten könne. Ab und an schaut die Polderjugend aus den anderen Dörfern auf ein bisschen Alkohol und Koks vorbei und vergnügt sich mit Autorennen. Bekannt ist Doel auch unter Plünderern und Schrotthändlern. Und die Radfahrer und Biker der Gegend unterbrechen hier gerne ihre Touren. Dann sitzen sie oben am Deich auf den Bänken, sehen den Schiffen auf der Schelde hinterher und wundern sich vielleicht über die rosa-weißen Blumen­gebinde, die die Laternenmasten noch immer schmücken.

An den Wochenenden wird es voll in Doel. Dann kommen die Geisterstadtfans und Fotografen aus Frankreich und Luxemburg, den Niederlanden und ganz Belgien. Sie machen Fotos von der pittoresken Mühle mit dem AKW im Hintergrund, trinken Kaffee auf der Terrasse der Mühle, die an guten Wochenenden von 1 500 Menschen besucht wird, und dann geht es hinunter auf den Abenteuerspielplatz. Wer stöbern will, stöbert, wer den Verfall dokumentieren will, drückt auf den Auslöser, und so mancher, sagt Lauwers, entdecke auch eine bisher verborgene Neigung zur Demontage. Lauwers schreitet ein, wenn sie das mitbekommt. Sie fordert Respekt, für Doel und seine letzten Bewohner.
Frie Lauwers selbst zählt zu den letzten Neuankömmlingen. Als sie vor fünf Jahren ins Dorf zog, steckte »Doel 2020« in einer schwierigen Phase, sagt Marina Apers, ihre Nachbarin. Der Kampf und die Unsicherheit hatten die Aktivisten müde gemacht, die Stimmung war nicht die beste, da kam frischer Wind wie gerufen. Lauwers, die im 20 Kilometer entfernten Dorf Bazel aufwuchs, war damals 60, und alles, was sie wollte, war, wieder im Polder zu leben. »Ich sagte immer, dass ich einmal zurückkehren würde. Auf keinen Fall wollte ich wie Jeanne d’Arc mit flammendem Schwert einreiten.« Doch in kürzester Zeit stieg sie ein, erst bei »Kunst Doel«, dann bei »Doel 2020«. Im Frühjahr hielt sie bei einer Hörsitzung vor dem flämischen Parlament eine feurige Rede für das Dorf.
Unlängst, erzählt die große Frau mit den rot gefärbten Haaren, stritt sie sich mit einem Vertreter der Gesellschaft, die die noch bewohnten Häuser in Doel verwaltet. Seine Arroganz stieß ihr auf, sagt Lauwers, »Sie sind Gulliver, sagte ich ihm, und wir sind eine Schar von Däumlingen. Natürlich wird Gulliver gewinnen. Aber der Däumling hat sooo einen Stiletto-Absatz. Damit werden wir auf Ihrem kleinen Zeh tanzen. Und das wird verdammt weh tun!«