Hartz IV und die Regulierung der Armut

Die Abschaffung der Armen

Die Bundesregierung hat die Hartz-IV-Sätze neu berechnet. Es wird deutlich: An die Stelle der Disziplinierung der Mittellosen tritt das Desinteresse an ihnen.

Die Armen sind die Sorgenkinder der Nation. Staat, Gesellschaft und Boulevard haben ihre Kräfte vereint, um sie auf den rechten Weg zurückzuführen. Denn die Armen befinden sich immer auf dem falschen Weg.
Spätestens seit der rot-grünen Reform der Sozialgesetzgebung vom Januar 2005 dürfen die Armen nicht einmal mehr als Arme angesprochen werden. Sie sind nun in der Mehrheit Arbeitssuchende oder Kinder von Arbeitssuchenden. Ein Arbeitsloser sucht, so die Idee, immerzu Arbeit, egal wie hoffnungslos der Markt für ihn ist. Während das Kapital immer mehr Menschen ihres Lebensunterhalts beraubt, versetzt der Staat sie in eine Warteposition. Es ist aber viel leichter, arm zu sein, als ewig auf der Reservebank zu sitzen.
Dem nicht erwerbsfähigen Rest der Armen ergeht es nicht besser. Selbst einer, der keinen Finger mehr rühren kann, muss alle halbe Jahre nachweisen, dass er schwer gelähmt ist, sonst werden ihm die Bezüge gestrichen. Der Antrag des MS-Kranken auf eine Anti-Dekubitus-Matratze muss noch einmal gründlich geprüft werden, es könnte ja sein, dass er es sich nur bequem machen will.

In allen neueren gesundheitspolitischen Gesetzen schwingt der Verdacht mit, sich krank Meldende könnten Simulanten oder an ihrer Krankheit selbst schuld sein. Als das bayerische Wahlvolk, auch im Sinne der Kassen, ein beispielloses Rauchverbot durchgesetzt hatte, kam auch schon der Vorschlag, Dicke mit höheren Krankenkassenbeiträgen zu belasten. Das findet noch keine Mehrheit, liegt aber im Trend der aufgeklärten Gesundheitsideologie, auf die sich Staat und Bürgertum verständigt haben. Ihr zufolge ist jeder seines Glückes oder Unglückes Schmied. Der tätige Bürger wird dem untätigen Bürger gegenübergestellt. Der Tätige handelt demnach rational; bereits vor seiner sinnvollen Arbeit joggt er sinnvoll um die sinnvolle Grünanlage. Der Untätige dagegen hat sich seinen Lüsten und Genüssen hingegeben, er lebt ungesund, ist dumm und bringt ungesunde, dumme Kinder hervor. Unaufhörlich wiederholt das Nachmittagsprogramm das Bild vom fetten Unterschichtler, der es nicht lassen kann.
Dieses Bildes bediente sich indirekt auch die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), indem sie Alkoholika und Tabakwaren aus dem Einkaufskorb der Armen, pardon, der Arbeitslosen nahm. Sie durfte sich sicher sein, dass der Mob applaudiert. Heinz Buschkowsky (SPD) brachte schon im letzten Jahr das Ressentiment auf den Punkt, als er behauptete, »in der deutschen Unterschicht« werde das Betreuungsgeld »versoffen«. So zeigt sich staatliche Wohlfahrt als Einmischung und Erpressung, und das ist sie, seit es sie gibt, also seit der Reformation.
Im Mittelalter sorgten fast ausschließlich die Kirchen für die Armen. Der Arme wurde bemitleidet, gelegentlich sogar beneidet: »Selig die, die arm sind vor Gott.« (Mt 5,3) Die Trennung von Kirche und Staat setzte solcher Armenverehrung ein Ende. Mit der staatlichen und kommunalen Armenpflege entstand zugleich eine Armendisziplinierung. Sie zeigt sich explizit in den »Reichspolizeiverordnungen« ab 1530. Bestimmte Arme wurden versorgt, ortsfremde Bettler aber des Platzes verwiesen. Es begann die Unterscheidung zwischen unverschuldeter und selbstverschuldeter Not.
Diese Unterscheidung hat das Mittelalter, das sogar die bewusste Entscheidung (etwa der Franziskaner) für die Armut als nobel achtete, nie getroffen. Erst die Länder der Reformation, später auch die katholischen, richteten eine systematische Versorgung und Erziehung ein. Hinter ihren Maßnahmen stand ein Humanismus, dem Armut nicht länger als bemitleidenswert oder gar beneidenswert, sondern als Abweichung und Störung gelten, die beseitigt werden müssen. In den Augen der Vernunft ist der Arme unvernünftig.

Also waren Otto von Bismarcks Sozialreformen, auf deren Grundlage noch heute der deutsche Sozialstaat ruht, nur eine Ausdifferenzierung und Implementierung alter Vorstellungen. Seine Reformen verbinden Zuwendung und Zwang. Kurz bevor sie in den 1880er Jahren in Kraft traten, wurde die Sozialdemokratie verboten. Das war nicht unlogisch, denn dank des Sozialstaats bedurfte es der deutschen Sozialdemokratie nicht länger. Der Sozialstaat ist sozialdemokratisch, und solange er existiert, existiert die Sozialdemokratie. Er bot, trotz gegensätzlicher Behauptungen von Liberalen bis hin zu Guido Westerwelles Dekadenzphantasien, nie eine bequeme Grundversorgung, sondern war immer auch Reglementierung.
Sigmar Gabriel hat daran erst kürzlich erinnert: »Aber natürlich müssen wir auch fordern.« Wer als Hartz-IV-Empfänger seine Kinder nicht zur Schule schicke, müsse ein Strafgeld zahlen. Das »Sicherheitsgefühl der Deutschen« sei etwas, »vor dem man Respekt« haben müsse. Das ist alter sozialdemokratischer Polizeigeist, der die Armen nicht bloß versorgen, sondern, wie der preußische Ökonom Gustav Schmoller es ausdrückte, »sittlich heben« und so die Gefahr und die Unordnung, die von ihnen ausgehen könnten, mindern will.
In dieser Tradition steht scheinbar noch von der Leyens Kürzung des Tabak- und Alkoholgeldes. Die Armen, die keine Armen mehr sein dürfen, sollen, während sie auf Arbeit warten, Sport treiben, sich fortbilden, ihre Kinder zur Schule schicken, nicht mehr fernsehen, weniger essen, weniger heizen usw. Sie sollen also ihre Wartezeit für Trockenübungen in neubürgerlich-vernünftiger Lebensweise nutzen.
Doch wer sich die Zahlen genauer betrachtet, wird finden, dass auch schon bislang lediglich 7,52 Euro für Alkohol und 11,58 Euro für Tabak bewilligt worden sind pro Monat. Für eine Lenkung qua Zuteilung ist gar kein Spielraum mehr, denn man kann einem, der nichts hat, nichts mehr nehmen. Die von der Leyenschen Kürzungen sind deshalb bloß ein weiteres Zustimmung heischendes Signal an die Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit keine Hege, sondern eine Austrocknung des Sumpfes wünscht.

Das ist etwas anderes als Disziplinierung. Denn noch hinter der grausamsten Disziplinierung steht ein Interesse am zu Disziplinierenden. Der staatliche Erzieher will aus dem verlotterten einen guten Armen, einen Arbeitswilligen machen. Indem aber trotz wirtschaftlichen Aufschwungs die Zahl der Armen konstant gestiegen ist, ist das Interesse an ihnen ebenso konstant gesunken. Eine Pauperisierung ist vom Kapital gewünscht, weil sie die in Lohn und Brot Stehenden unter Druck setzt. Aber sie wird verblüffenderweise von der Gesellschaft gut geheißen. Zugleich vollzieht sich, wie es Claus Offe einmal formuliert hat, eine »staatlich veranstaltete Entstaatlichung von Staatsaufgaben«. In solch einer Situation kann das höchste Gericht so oft es will an die Politik appellieren, sich an das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz, Artikel 20, zu halten. Dieser Artikel ist bald nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Der Staat zieht sich von allen sozialen Aufgaben zurück und beschränkt sich auf polizeiliche und militärische.
Möglich geworden ist diese Entwicklung mit einer allgemeinen Entsolidarisierung auch innerhalb der Klassengrenzen. Denn dass das Bürgertum, von Sonntagsreden abgesehen, kein Interesse am Schicksal der Armen hat, versteht sich von selbst. Und dass das Kleinbürgertum die Armen perhorresziert, liegt in seiner Abstiegsangst begründet. Aber man findet in Deutschland Zustimmung zur Kürzung von Hartz-Sätzen sogar im unteren Drittel der Gesellschaft. Der, der fast nichts hat, neidet dem, der gar nichts hat, noch das Schwarze unterm Fingernagel. Der Untere hält den Untersten für minderwertig. Thilo Sarrazins Biologisierung des Elends hat Anhänger gerade unter den Wählern der Linkspartei.
Es gibt also noch etwas Schlimmeres als Paternalismus. Es ist eine Gesellschaft, die mit dem Narcisse in Jean Racines »Britannicus« ausruft: »Lasst uns, um glücklich zu werden, die Elenden zugrunde richten.«