Über die Herausforderungen internationalistischer Politik am Beispiel Boliviens

Es gibt keinen Dritten Weg

Die universale Geltung der Menschenrechte wurde vom Kolonialismus ebenso blockiert wie von den Befreiungsbewegungen. Über die heutigen Herausforderungen ­einer internationalistischen Politik am Beispiel Boliviens.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Einschätzungen ausfallen können, obwohl ihre Urheber jeweils für sich beanspruchen, vom kommunistischen und damit einem universalis­tischen Standpunkt aus zu argumentieren. Nehmen wir als Beispiel Bolivien.

Sichtweise a): Europäische Kolonialisten erobern Lateinamerika in teils blutigen Auseinandersetzungen mit den bereits dort lebenden Menschen. Sie lassen sich dort als Siedler nieder, beuten die Rohstoffe aus, bilden eine weiße, später teils auch mestizische Elite. Nach der Unabhängigkeit findet eine bürgerliche Nationalstaatsbildung statt, mit allem, was auch aus Europa bekannt ist, von Prozessen der Aufklärung über das Wahlrecht bis zur Faschisierung. Die Herrschaft der Elite richtet sich in Bolivien aber vor allem gegen ein von ihr marginalisiertes Kollektiv: die »Indios«. Diese verrichten die niedrigen Tätigkeiten, sei es in der Landwirtschaft oder in den Haushalten der zumeist weißen Herren. Zum Lohn werden die Geknechteten als »primitiv« und »zurückgeblieben« verächtlich gemacht.
Doch die »Indios«, die inzwischen eine selbstbewusste politische und kulturelle Identität als Indígenas entwickelt haben, lassen sich ihre Entrechtung nicht mehr gefallen. Sie rebellieren, gründen Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Im Jahr 2005 ist der historische Augenblick gekommen: Der ehemalige Kokabauer und Schafhirte Evo Morales wird zum Präsidenten gewählt. Er und seine »Bewegung für den Sozialismus« (Mas) streben die innere Dekolonisierung Boliviens und die Neugründung der Republik als multikulturell und plurinational an, um ein »gutes Leben« für alle zu ermöglichen. Im Verbund mit befreundeten linken Regierungen in Lateinamerika will der Mas nichts weniger, als den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« erschaffen, um die Hegemonie des Neoliberalismus und seiner Führungsmacht USA zurückzudrängen. Bolivien ist somit ein Modell, das weltweiten Vorbildcharakter beanspruchen kann, gerade wegen seiner Formulierung universaler gleicher Rechte unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt.

Sichtweise b): Dieser Sozialismus läuft auf nichts anderes als einen Rückfall in die Barbarei hinaus. Denn seine Protagonisten fraternisieren offen mit aggressiven antisemitischen und antiamerikanischen Kräften wie dem iranischen Staatspräsidenten Mahmoud Ahmadinejad. Das verbindende Credo formulierte Morales im Oktober bei seinem Staatsbesuch in Teheran: »Iran und Bolivien haben ein gemeinsames revolutionäres Bewusstsein. Die Bekämpfung des Imperialismus und der Ungerechtigkeit in der Welt sind zwei wichtige Aspekte, welche die Beziehungen zwischen dem Iran und Bolivien ausmachen.« Was in Bolivien stattfindet, ist ethnopolitischer Verrat an der Aufklärung und am mühsam durchgesetzten, wenngleich noch immer unvollständigen Universalismus der Menschenrechte zugunsten eines postmodernen, kulturrelativistischen Patchworks der Minderheiten.
Deren Vielzahl, die Multitude, ist nichts anderes als die Umschreibung für die ethnische und reli­giöse Parzellierung der Menschheit in vormoderne Gruppen und Zwangskollektive. Die Verherrlichung der Multitude bedeutet eine Fetischisierung der Massen, insbesondere wenn sie arm sind. Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« schreibt kleinbäuerliche Formen des Elends fest, die es doch zu überwinden gilt, und er vertritt explizit oder implizit eine völkische Ideologie des Bodens und der Abstammung. Demgegenüber ist selbst die gegenwärtige kapitalistische Vergesellschaftung westlicher Provenienz vorzuziehen, so uneingelöst deren Glücksversprechen sind. Immerhin eröffnet sie die Möglichkeit ihrer Selbstaufhebung zugunsten der freien Assoziation der Menschen als Individuen – jenseits jeder partikularistischen und kulturrelativistischen Einschränkung ihrer universalen Rechte.

Diese beiden sich unversöhnlich gegenüber stehenden Sichtweisen benennen einen Widerspruch, der nicht zugunsten eines Dazwischen oder eines Dritten Weges aufgelöst werden kann. Dieser Widerspruch ist der Grund dafür, dass die klassischen Formen internationalistischer und antirassistischer Solidarität aufgegeben werden mussten. Die in früheren Jahrzehnten gängige Identifikation mit nationalen oder ethnischen Befreiungsbewegungen ist obsolet.
Wurde die universale Geltung von Menschenrechten im kolonialen Zeitalter durch die Kolonialherren blockiert, so gelang dies im Postkolonia­lismus mühelos auch vielen Befreiungsbewegungen oder ihren Verfallsprodukten, und zwar mittels einer partikularistischen Ethnopolitik, bei der die jeweils eigene Ethnie oder der eigene Clan über alle anderen herrschte. In einigen Fällen radikalisierten postkoloniale Regimes die ethnizistischen Spaltungen, die im Kolonialismus angelegt waren, sogar bis hin zum Genozid, wie etwa in Ruanda. Und welche Abgründe postkolonialer Antiimperialismus bergen kann, das demonstrieren derzeit beispielsweise Robert Mugabe in Zimbabwe und Ahmadinejad im Iran.
Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen kann Sichtweise a) also mindestens als reichlich blauäugig bezeichnet werden, eine uneingeschränkt positive Identifikation mit dem bolivianischen Modell ist ausgeschlossen. Ohnehin sagt die solidaritätsbewegte Verherrlichung des Indigenen, wie sie bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts im anarcho-kommunistisch orientierten Magonismus erfolgte, mehr über ihre Propagandisten aus als über die Lebensrealität der als libertär verklärten Dorfgemeinschaften.
Doch Sichtweise b) verkennt ebenfalls einige wichtige Determinanten des bolivianischen Modells. Ein Indígena wird nicht marginalisiert und entrechtet, weil er ein »Einzelexemplar der Gattung Mensch« (Manfred Dahlmann in der Jungle World 50/2010) ist, sondern weil er Indígena ist. So wünschenswert es ist, dass der einzelne Mensch das Subjekt der Geschichte sei und nicht eine »Kultur«, eine Klasse oder »Ethnie«, so unübersehbar ist doch auch: Unterdrückung und Verfolgung sind in den meisten Fällen partikular in dem Sinne, dass sie sich ihre Opfer entlang zugeschriebener partikularer Identitäten und Eigenschaften suchen – als Angehörige einer sozialen Gruppe, eines Geschlechts, einer »Rasse«, einer Religion oder was auch immer. Ob diese Identität ausschließlich auf Fremd- oder auch auf Selbstzuschreibung beruht, ist dabei zweitrangig. Es kann jedenfalls nicht verwundern, wenn die Opfer ihre Identität gegen ihre Unterdrücker wenden und sie zu einer Ressource politischer Organisierung und des Widerstands machen.
Dieses Muster ist sogar die Regel. Auch die Juden haben ihre jüdische Identität wegen ihrer Verfolgung als Juden nicht aufgegeben, nicht einmal wegen Auschwitz, sondern mehrheitlich in den modernen Zionismus überführt, der als nationale Befreiungsbewegung vor allem die jüdische Wehrhaftigkeit gegen Antisemitismus und die jüdische Identität des Staates Israels anstrebt. Sie hatten gar keine andere Wahl, als dies zu tun.

Was in Bolivien zumindest von bedeutenden Strömungen des Indigenismo versucht wird, ist die Verwirklichung eines genuin universalistisches Projektes: die Befreiung der Subalternen aus der Knechtschaft und die Herstellung ihres »Rechtes, Rechte zu haben« (Hannah Arendt). Das Fernziel dieses Prozesses ist die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, viele seiner Protagonisten berufen sich nicht umsonst auf den frühen, klassenkämpferischen Marx und auf die Klassensoziologie eines Pierre Bourdieu, weniger auf Michel Foucault. Insbesondere gilt das für den intellektuellen Vordenker der Regierung Evo Morales, Vizepräsident Álvaro Garcia Linera. Wenn der Befreiungsprozess in Bolivien regressive Formen annimmt, wie etwa im Falle der ethno-nationalistischen Pachakuti-Bewegung von Felipe Quispe Huanca, so liegt das nicht immer an Morales – Quispe ist einer seiner radikalen indigenistischen Gegenspieler.
Die Politik der Indigenität ausschließlich unter Labels wie »reaktionäre Folklore« abzutun, verkennt jedenfalls ihre Entstehungsbedingungen und Absichten. Vollkommen absurd ist es, sie gar als völkische Mobilisierung im Geiste deutscher Ideologie, etwa Heideggerscher Ausprägung, zu interpretieren. Das übergeht die sehr unterschiedlichen Ziele des Völkischen und des Indigenismo und läuft auf eine haarsträubende Verharmlosung des Nationalsozialismus hinaus. Und auch die berechtigte Kritik an der Verherrlichung von Armut und kleinbäuerlichen Lebensformen wird selbst zur Ideologie, wenn sie in deren Verachtung umkippt. Manchmal klingen bestimmte Ideologiekritiker so, als wollten sie das warengesellschaftliche Credo »Eure Armut kotzt mich an« internationalisieren und sich an Metropolenarroganz gegenseitig übertreffen.

Es bleibt dabei: Der Widerspruch zwischen Sichtweise a) und b) ist nicht zu einer Seite hin auflösbar. Morales selbst ist es, der die Universalität seiner Herrschaftskritik widerruft, indem er sie in das antiimperialistische Weltbild überführt und sich ausgerechnet an die Seite von Ahmadinejad stellt, jenes Wahlbetrügers, der jede freiheitliche Regung niederschlagen lässt. Am iranischen »revolutionären Bewusstsein« ist nur eines universal: die Missachtung aller Rechte des Individuums zugunsten eines kollektiven Wahns der Gemeinschaft, die selbstverständlich unter Vorherrschaft der dazu auserwählten Klerikalfaschisten steht. Somit lässt der Fall Bolivien Geschichte einmal mehr als bittere Farce erscheinen. Fragend schreiten wir voran, irrend taumeln wir zurück – in die Finsternis.