Rüdiger Portius im Gespräch über den »Warnschussarrest«

»Der Warnschussarrest ist Pipifax«

Der Täter schlug sein Opfer nieder und trat mehrmals gegen dessen Kopf. Die Tat wurde von einer Überwachungskamera eines Berliner U-Bahnhofes aufgezeichnet. Der jugendliche mutmaßliche Täter stellte sich, wurde aber zunächst auf freien Fuß gesetzt. Boulevardzeitungen reagierten daraufhin empört, Politiker forderten einen »Warnschussarrest«. Schon im Koalitionsvertrag hatten sich FDP und CDU/CSU darauf geeinigt, ein Gesetz für einen solchen Arrest auf den Weg zu bringen. Viele Richter und Anwälte stehen dem Vorhaben skeptisch gegenüber. Die Jungle World sprach mit Rüdiger Portius, der als Anwalt jugendliche Straftäter vertritt und Vorsitzender des Vereins »Freie Hilfe Berlin« ist, der Menschen Hilfe anbietet, die straffällig geworden sind.

Dass ein Täter, der einen Menschen krankenhausreif schlägt, kurz nach der Tat zunächst wieder freigelassen wird, ist ja aus der Perspektive der Opfer nicht gerade erheiternd. Ist die Forderung eines »Warnschussarrests« zumindest aus dieser Perspektive verständlich?

Ja. Aber ich halte es nicht für besonders sinnvoll, hier ein neues Gesetz einzuführen. Die Möglichkeit eines Arrests gibt es schon. Und der Name »Warnschussarrest« ist irreführend – was soll das sein? Die derzeitige Empörung bezieht sich ja auf die Frage, ob jemand kurz nach der Tat wieder auf freien Fuß gesetzt werden kann. Und das ist eine Frage der Untersuchungshaft – aber nicht die eines Arrests.

Weil ein Arrest – und damit auch ein »Warnschussarrest« – prinzipiell erst nach dem Urteil verhängt werden könnte?

Ja. Und es fragt sich auch, woran man einen solchen »Warnschuss« denn knüpfen sollte. Es gibt ja häufig Jugendliche, die nie auffällig geworden sind – wo soll man da dann den »Warnschuss« ansetzen? Und wenn es um die Frage geht, ob so jemand nach der Tat freigelassen werden kann, geht es um ganz andere Kriterien. Da geht es um Flucht- und Wiederholungsgefahr.

Wenn eine dieser Gefahren besteht, kann Untersuchungshaft angeordnet werden. Bei Mord und Totschlag ist prinzipiell Untersuchungshaft vorgesehen. Geht es in diesen Fällen hinsichtlich der Untersuchungshaft nicht eigentlich doch darum, das gesellschaftliche Strafbedürfnis zu befriedigen – also dass der Täter unmittelbar nach der Festnahme in Haft kommt?

Wenn erwachsenen Verdächtigen Mord oder Totschlag vorgeworfen werden, wird prinzipiell Flucht- oder Wiederholungsgefahr unterstellt. Man kennt die Ursache der Tat ja nicht, etwa, ob sie krankhaft bedingt ist und daher Wiederholungsgefahr besteht. Deshalb sperrt man den Täter erst mal ein. Im Jugendstrafrecht ist das anders, da ist das nicht zwangsläufig vorgeschrieben. Ich denke aber, dass jeder Haftrichter auch im Jugendbereich eine Untersuchungshaft anordnet, wenn jemand wirklich zu Tode gekommen ist. In den Fällen, in denen jemand gottseidank überlebt hat, ist ja erst zu klären, ob es sich um ein versuchtes Tötungsdelikt oder eine gefährliche oder schwere Körperverletzung handelt. Da muss der zuständige Haftrichter sehr schnell entscheiden. Und es kann sein, dass er sagt, es sei in Ordnung, wenn der Täter seinen Prozess draußen erwarten kann.

Es kann ziemlich lange dauern, bis es zum Prozess kommt.

Ja, die eigentliche Forderung muss sein, die Justiz so auszubauen, dass sie in der Lage ist, schnell zu reagieren. Es dauert oft ein Jahr, bis Jugendliche nach der Tat beim Richter erscheinen. Daher weiß ich auch nicht, was ein Warnschuss bei Jugendlichen soll, die jemanden so schwer verletzen, wie wir das jetzt wieder erlebt haben. Da ist eine möglichst schnelle Hauptverhandlung nötig. Dann bekommt der Täter seine Strafe und tritt sie an. Oder er bekommt eine Bewährung, was in diesen schweren Fällen allerdings relativ selten sein dürfte.

Die Rückfallquote von Jugendlichen, die tatsächlich ins Gefängnis müssen, liegt bei 70 Prozent. Daran würde ein schneller Prozess auch nichts ändern.

Dass die Rückfallquote so hoch ist, wundert mich nicht. Thilo Sarrazin ist derjenige, der hier in Berlin als Finanzsenator bei den Angeboten, die als Prophylaxe gegen Jugendkriminalität und Rückfälle wirken, gespart hat, und zwar »bis es quietscht«, wie er das ausdrückte. Das fängt bei der Jugendgerichtshilfe an, die gesetzlich vorgeschrieben ist. Die hat heute so wenig Personal, dass dort oft noch nicht einmal die Berichte für die Hauptverhandlungen von angeklagten Jugendlichen formuliert werden können. Zweitens fehlen die Streetworker, die die harten Jungs oder auch die harten Mädchen auf der Straße ansprechen – es gibt mittlerweile ja auch harte Mädchengangs. Es besteht auch keine Möglichkeit mehr, in Problemfamilien zu gehen, weil die Familienhilfe kein Geld mehr hat. Egal, ob das nun deutsche, arabische oder türkische Familien sind, in denen etwa der Älteste straffällig geworden ist – bei denen müsste man ganz genau hinsehen. Die Eltern sind oft hilflos, wünschen sich Unterstützung, bekommen sie aber nicht. Und für die Fälle, in denen eine Haftstrafe verhängt wird, ist der inhaltliche Ausbau der Jugendhaft zwingend erforderlich. Die hohe Rückfallquote resultiert daraus, dass im Gefängnis kaum jemand mit den Jugendlichen arbeitet, es gibt keine Arbeitsplätze, keine Ausbildungsplätze, der Jugendknast ist heillos überfüllt.

Von Resozialisierung, die laut Gesetz das Ziel des Strafvollzugs ist, kann unter solchen Umständen wohl nicht die Rede sein.

Genau. Gerade im Jugendbereich ist die Situation in den Berliner Knästen Plötzensee oder Lichtenrade katastrophal. Das Problem ist, dass es im Vollzugsgesetz, das 1977 den Resozialisierungsgedanken in den Vordergrund stellte, keine Sanktionsmöglichkeit gibt, wenn der Staat die Zielsetzung der Resozialisierung nicht verfolgt. Der Anstaltsleiter der JVA Tegel oder der JVA Plötzensee kann nicht dafür sanktioniert werden, wenn in seiner Einrichtung nichts zur Resozialisierung getan wird – er hat relativ freie Hand. Ich will aber keinesfalls Willkür unterstellen, es gibt sehr viele bemühte Mitarbeiter im Strafvollzug. Aber aufgrund mangelnden Personals sind auch die nicht in der Lage, den Resozialisierungsanspruch zu erfüllen. Es wird hier einem Straftäter, der das Recht gebrochen hat, vorgeführt, wie der Staat sanktionslos das Recht brechen kann.

Vielleicht ist das gesetzlich verankerte Ziel der Resozialisierung auch nur eine Art Selbstbetrug. Und wollte man wirklich durchsetzen, dass es um Resozialisierung geht, würden Gefängnisse vielleicht gar nicht mehr als Orte der Strafe erscheinen.

Das glaube ich nicht. Es hat ja nach der Reform des Strafrechts 1977 eine ganze Menge erfolgreicher Projekte gegeben. Der alte Strafvollzug, der auf Sanktion und Sühne abgehoben hat, verzeichnete eine Rückfallquote von 82 Prozent im Erwachsenenbereich. Die Projekte, die ab 1970 in Tegel im Haus IV umgesetzt wurden, haben binnen fünf Jahren die Rückfallquote deutlich auf 65 bis 60 Prozent abgesenkt – in einer relativ kurzen Zeit. Und das beim harten Kern der Tegeler Strafgefangenen. Für mich ist das der Beleg, dass man eine erhebliche Senkung der Rückfallquote erreichen und damit auch viel Geld sparen kann. Jeder Strafgefangene kostet 200 Euro am Tag, und Straftaten verursachen auch Kosten.

Statistiken zufolge ist es ja nicht so, dass die Jugendkriminalität steigen würde, sie geht zurück. Es heißt dann immer, die Taten würden brutaler. Empfinden Sie das auch so?

Nein, ich denke eher, dass solche Dinge gerade mehr in die Öffentlichkeit getragen werden und man deshalb denkt, die Gewalt nähme zu. Die Videoaufnahmen, die es jetzt oft gibt, sind natürlich viel beeindruckender als der Text in einer Akte. Ich habe mir das Video des Falles im U-Bahnhof Friedrichstraße angesehen, da bekommt man schon eine Gänsehaut.

Was wäre denn notwendig, um mit solchen Straftätern angemessen umzugehen? Was ist deren Problem?

Ihr Wertesystem, ihre ganzen Koordinaten sind verrutscht. Wenn Jugendliche solche Taten begehen, sind sie oft angesoffen, in ihrer Truppe unterwegs und unkalkulierbar. Wenn Sie mit den jungen Angeklagten dann einzeln zu tun haben, kann man mit ihnen ganz vernünftig reden. Bei den meisten, mit denen ich spreche, habe ich den Eindruck, dass die einfach Orientierung brauchen. Wenn man ihnen sagt, sie sollen ein Anti-Gewalttraining machen oder einen Boxkurs, um sich abzureagieren, dann saugen die das oft auf wie ein Schwamm. Bei den ganz gravierenden Fällen mag das anders sein, aber bei denen, die in ihrer Truppe durch die Straßen gehen und Kids abziehen, denen kann man oft schon erklären, was geht und was nicht. Ich kann nicht garantieren, dass die sich nicht hinterher darüber kaputtlachen, aber ich habe bei vielen das Gefühl, dass sie etwas kapieren. Manche sagen auch, wenn sie dann ein halbes Jahr im Jugendknast waren: »Hätte ich gewusst, wie scheiße das ist, hätte ich das nie gemacht.«

Ist das dann doch ein Argument für einen Warnschussarrest?

Nein, eben gerade nicht. Der Warnschussarrest ist Pipifax. Der Arrest ist die weichste Form der Sanktion, denn dabei bekommen die keinerlei Eindruck davon, was Haft bedeutet. Zur Abschreckung ist das absolut untauglich.