Fiona Watson über die Arbeit der Organisation Survival International und den Schutz von »uncontacted tribes«

»Das ist wie im Wilden Westen«

Die Nichtregierungsorganisation Survival International setzt sich weltweit für die Land- und Menschenrechte indigener Bevölkerungsgruppen ein. Die 1969 gegründete Organisation beschäftigt sich dabei auch mit der Lage der uncontacted tribes. Fiona Watson ist Leiterin der Forschungsabteilung von Survival International.

Ihre Organisation hat Fotos veröffentlicht, die uncontacted tribes zeigen sollen, und betont, mit der Veröffentlichung dieser Bilder wolle sie die abgebildeten Menschen schützen. Wie soll dieser Schutz aussehen?
Mit den Bildern möchten wir zunächst zeigen, dass es diese Menschen gibt. In Peru und teilweise auch in Brasilien leugnen Leute die Existenz solcher Stämme. Der andere Grund ist: Den Menschen, die man auf den Bildern sieht, geht es zum Zeitpunkt der Aufnahmen offenbar relativ gut, sie leben innerhalb von Schutzgebieten, die der brasilianische Staat für unkontaktierte Gruppen eingerichtet hat.
Die peruanische Regierung hat zwar auch ein Reservat eingerichtet, hat aber nichts zum Schutz seiner Grenzen unternommen. Also haben sich dort viele Menschen hinbegeben, um Mahagoni- und andere Hartholzbäume fällen. Die indigenen Menschen fliehen vor den Holzfällern, überqueren dabei die Grenze zu Brasilien und dringen in das brasilianische Schutzgebiet ein – sie wissen ja nicht, was eine Staatsgrenze ist. Die brasilianischen Behörden befürchten, dass das zu Konflikten führt.
Zu Konflikten zwischen den verschiedenen uncontacted tribes?
Ja, viele solcher Stämme haben einen sehr klaren Begriff von ihrem Territorium. Sie jagen und fischen, und wenn sie das auf einem Territorium tun, wo bereits andere leben, könnte es Konflikte geben.
Die Stämme haben also zumindest untereinander Kontakt. Wie definieren Sie denn uncontacted tribes?
Sie haben keinen Kontakt zu dem, was wir nationale Gesellschaft nennen – also zu nicht-indigenen oder weißen Menschen. Aber es gibt sporadischen Kontakt zwischen den unkontaktierten Stämmen. Auf den Bildern sieht man eine Pfanne und ein Messer aus Metall, sie haben die Gegenstände wohl von anderen Indigenen.
Woher haben Sie diese Informationen?
Viele stammen von der brasilianischen Regierung, die als einzige in der Welt eine Behörde für die Belange indigener Menschen hat: Funai, die Nationale Stiftung der Indios. Dort gibt es eine Abteilung für uncontacted tribes. Viele Informationen über diese Stämme kommen auch von ihren indigenen Nachbarn, die sehr genau beobachten, was sich im Wald tut. So kommen Informationen zusammen, die man zusammenpuzzeln kann.
Doch zurück zur Ausgangsfrage, warum wir diese Fotos veröffentlicht haben: Wir wollen die peruanische Regierung dazu bringen, die Stämme zu schützen, indem sie gegen illegale Holzfäller vorgeht.
Hat die peruanische Regierung reagiert?
Die peruanische Regierung veröffentlichte sehr schnell eine Pressemitteilung, in der sie angab, dass sie die uncontacted tribes schützen, dabei mit den brasilianischen Behörden zusammenarbeiten und gegen illegale Rodungen vorgehen werde. Es gab bereits Kontakte zwischen den Behörden Perus und der brasilianischen Funai. Aber bisher sind das alles Dinge auf dem Papier.
Teilen die staatlichen Behörden denn die Idee, dass man zu diesen Stämmen keinen Kontakt aufnehmen sollte?
Ja, das ist die offizielle Linie seit 1987, als das uncontacted tribes department der Funai gegründet wurde. Als das Amazonasgebiet erschlossen wurde, ging die Regierung so vor, dass sie den Kontakt herstellte und die Stämme etwas näher an den Straßen ansiedelte, um sie zu versorgen. Viele Indigene starben dabei – vor allem an Krankheiten. Sie haben oft nicht einmal einen Immunschutz gegen ganz normale Erkältungserreger.
Wenn die Regierung keinen Kontakt zu den Stämmen aufnimmt, ergibt sich doch das Problem, dass ihnen andere begegnen könnten – vielleicht Menschen, die sich um das Wohlergehen dieser Indigenen überhaupt nicht scheren.
Man muss sichergehen, dass die Gebiete auch wirklich geschützt werden – und das ist eine große Herausforderung. Das Amazonasgebiet ist riesig und schwer zu überwachen. Es geht um die Rechte dieser Menschen. Offensichtlich wollen sie keinen Kontakt, und die Verfassung spricht ihnen das Land zu, auf dem sie leben. Sie sollten daher alleine und in Frieden gelassen werden.
Weiß man denn wirklich, dass all die Menschen keinen Kontakt wollen?
Wenn man sich ansieht, wie sie sich verhalten, kann man Schlüsse ziehen. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Es gibt im Westen des Amazonasgebiets einen Mann, von dem wir denken, dass er der letzte seines Stammes ist, er lebt dort ganz alleine. Funai beschloss, eine Ausnahme zu machen und Kontakt zu ihm aufzunehmen, denn um sein Gebiet herum gibt es fünf Viehfarmen. Es wäre für die Pistoleros, die diese Farmen anheuern, sehr einfach, den Mann umzubringen, und wir wissen, dass diese Typen in der Vergangenheit unkontaktierte Indigene getötet haben, um deren Land für sich zu reklamieren. Denn wenn man beweisen kann, dass auf einem Stück Land keine Indigenen leben, kann man einen Anspruch darauf erheben. Das ist wie im Wilden Westen. Es gibt dort keine staatliche Autorität, man kann dort unkontaktierte Indigene einfach töten – niemand wird herausfinden, wer es war.
Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Dieser Mann hat jeden Kontakt zurückgewiesen, er hat immer wieder Pfeile auf die Leute von Funai geschossen, die mehrmals versuchten, ihn zu kontaktieren. Es gibt Fälle, in denen man mit Sicherheit sagen kann, dass diese Menschen keinen Kontakt wollen.
Gilt das auch für die Menschen, die man auf den Fotos Ihrer Organisation sieht?
Eine unserer Theorien zu den Menschen auf den Bildern ist, dass ihr Stamm vor 100 Jahren den Kautschuk-Boom überlebt haben könnte. Sie leben in einem Gebiet, in das damals die Kautschuk-Barone eingewandert sind. Während des Kautschuk-Booms kam es zu unglaublichen Grausamkeiten gegenüber den Indigenen, viele wurden versklavt und dazu gezwungen, unter schrecklichen Bedingungen auf den Kautschuk-Plantagen zu arbeiten, viele starben dabei. Vielleicht flohen diese Menschen also damals vor der Zwangsarbeit tiefer in das Amazonasgebiet.
Gibt es nicht Fälle, in denen Individuen solcher Stämme das Leben im Wald unter der Herrschaft von Stammestraditionen satt sind und von sich aus Kontakt aufnehmen?
Manche Stämme haben in der Vergangenheit von sich aus Kontakt zur Gesellschaft aufgenommen. Unsere Position ist nicht, dass diese Stämme in einer Blase jenseits der Gesellschaft und der Geschichte leben sollten. Wir denken nur, dass diese Leute nicht kontaktiert werden sollten, solange sie sich dafür nicht bereit fühlen.
Die Menschen der Stämme, die von sich aus Kontakt aufgenommen haben, sagen, sie seien neugierig gewesen, viele haben lange spioniert, bevor sie den Schritt gewagt haben. Sie sind sich der Gefahren dieser Kontaktaufnahme bewusst – vielleicht wissen sie nicht, was ein Auto ist oder ein Fernseher, aber sie wissen, dass es eine Welt da draußen gibt.
Aber oft haben sie gute Gründe, auf ihrem Land zu bleiben und so zu leben wie bisher. Das ist immerhin ihr Land, sie haben die Rechte der Grundherren. Weil die Gefahr besteht, dass Holzfäller oder Missionare in ihr Gebiet eindringen – Leute, die keine Skrupel haben oder einfach nur keine Ahnung vor den gesundheitlichen Gefahren, die der Kontakt für die Indigenen mit sich bringt –, müssen wir die Landrechte der uncontacted tribes schützen.
Besteht wirklich nicht die Möglichkeit, die Stämme zu beraten und ihnen Wissen zu vermitteln, mit dessen Hilfe sie sich selbst schützen können – etwa das Wissen über ihre Rechte?
Nein, wenn sie sie beraten wollen, gehen sie dort hinein und nehmen damit ein großes Risiko auf sich. Das Beispiel des sehr isolierten Zo’é-Stammes im nördlichen Amazonasgebiet zeigt die Risiken einer Kontaktaufnahme. Missionare hatten sporadischen Kontakt zu den Zo’é. Dann bauten sie in deren Gebiet eine Station auf. Da die Zo’é neugierig waren, kamen sie zu den Missionaren mit einer abgebrochenen Pfeilspitze, um ihre friedliche Absichten zu zeigen. Dann gab es mehr und mehr Kontakt, die Zo’é bauten ihre Hütten nahe der Missionsstation auf. Das hatte zur Folge, dass sich dort Krankheiten ausbreiteten. Die Missionare waren mit der Situation überfordert – Funai musste medizinische Hilfe leisten und verbannte die Missionare aus dem Territorium.
Missionare in Indianergebieten – die Geschichte hört sich an, als sei sie 150 Jahre her.
Ja, das stimmt, aber eine sogenannte Indianermission gibt es noch immer – etwa die New Tribes Mission, das ist eine fundamentalistische Gruppe der US-amerikanischen Evangelikalen. Wie der Name der Organisation sagt, sucht sie Stämme, um ihnen das Christentum zu bringen.
Es ist sicherlich kein Nachteil, wenn die Indigenen sich nicht mit der Bibel plagen müssen. Aber man könnte sie über Krankheiten und die Möglichkeiten der modernen Medizin aufklären. Kann man diesen Leuten wirklich vorenthalten, dass man heute zumindest theoretisch so einige schwere Krankheiten heilen kann?
Ich würde sagen, dass diese Menschen, solange sie alleine gelassen werden, relativ gesund sind. Was mich an den Luftaufnahmen am meisten fasziniert, ist, wie gesund diese Menschen aussehen. Man darf nicht vergessen, dass sie Botanik-Experten sind und über ihre eigene Medizin und eigene Heilmethoden verfügen. Ich denke, es ist eine etwas arrogante Annahme, wir hätten alle Antworten und sie keine. Unsere Medizin brauchen die Indigenen erst, wenn Krankheiten eingeschleppt werden.
Gibt es nicht auch Fälle, in denen Menschen dieser Stämme es schaffen, sich in der nationalen Gesellschaft gut zurechtzufinden, so dass ihnen ein Leben in beiden Welten offensteht?
Ja, mit Sicherheit. Die Yanomami etwa, für die der Kontakt so desaströs war, dass zwischen 1987 und 1993 20 Prozent der Bevölkerung starben, vor allem an Malaria. Sie haben es geschafft, dass ihr Landbesitz anerkannt wurde, sie haben mittlerweile ihre eigenen Gesundheits- und Bildungsprojekte geschaffen. Sie beginnen, den sie umgebenden Gesellschaften auf Augenhöhe zu begegnen. Sie kennen ihre Rechte, können sie artikulieren und politisch verteidigen, sie gehen nach Brasilia zur Regierung und machen Lobbyarbeit für ihre Sache. Sie sind keine Opfer mehr.
Es gibt auch keine statischen Gesellschaften. Alle Gesellschaften, ob indigene oder nicht, müssen sich verschiedenen Umständen anpassen. Diese Stämme sind aber mit einem enormen Druck von außen konfrontiert. Sie müssen sich überlegen, wie sie leben wollen. Sie profitieren auch von der sie umgebenden Gesellschaft, das würden sie niemals leugnen. Sie überlegen sich, was sie an Wissen und Technologie übernehmen – Buschleute kartographieren heute ihre Gebiete mit GPS, und das wird dann vor Gericht benutzt, um ihre Landrechte einzuklagen.