Reaktionen nach dem Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo

Arabischer Herbst

Nach dem Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo ist die ägyptische Protestbewegung gespalten. Viele Aktivistinnen und Aktivisten rechtfertigten die Aktion, andere fürchten, das Militär habe nun freie Hand, die Proteste niederzuschlagen und die für November angesetzten Wahlen zu verschieben.

Der 9. ist kein Glückstag für die ägyptische Protestbewegung. Am 9. März räumte die Armee den Tahrir-Platz, nahm Hunderte Protestierende fest und zerstörte damit die Hoffnung, das Militär könnte hinter der Revolution stehen. Am 9. September begann ein Wochenende böser Überraschungen. Weltweit rieben sich an diesem Freitagabend viele Zuschauer die Augen, als eine Gruppe in die israelische Botschaft eindrang, deren Flagge verbrannte, im Gebäude Feuer legte und unter dem Jubel von Tausenden Anwesenden Papiere aus einem Archiv der Botschaft in den Nachthimmel warf. War das die emanzipierte Protestbewegung vom Tahrir-Platz, der Hoffnungsträger der ganzen Region? Hatte sie sich über Nacht in einen »entfesselten Mob« verwandelt, wie viele Zeitungen schrieben? Haben doch die Islamisten begonnen, die Führung zu übernehmen?
Am 9. September sollte die erste Großdemons­tration seit Wochen stattfinden, nachdem Soldaten am 1. August das Camp auf dem Tahrir-Platz geräumt hatten. Seither hielten Militär und Polizei den Platz besetzt, niemandem war es erlaubt, ihn zu betreten. Bis zum letzten Moment war nicht klar, ob Protest gestattet werden würde. Am Freitag protestierten dann Zehntausende Menschen friedlich gegen die Herrschaft des Militärs, sie forderten einen Zeitplan für Wahlen und eine zivile Übergangsregierung.
Am späten Nachmittag zog eine kleine Gruppe Demonstranten zur israelischen Botschaft, weitere Gruppen, die zuvor vor dem Innenministerium demonstriert hatten, schlossen sich an. Seit Tagen kursierte im Internet ein Aufruf, die 100 Meter lange und drei Meter hohe Mauer abzubauen, die vor der israelischen Botschaft errichtet worden war, nachdem im Juli ein Demonstrant am Botschaftsgebäude hochgeklettert war.
Die Zahl der Demonstrierenden wuchs rasch auf etwa 3 000 an, viele hatten Hämmer und Werkzeug dabei. »Ich weiß nicht, woher die gekommen sind«, sagt Ahmed, ein Aktivist, einige Tage später. »Auf dem Tahrir-Platz habe ich niemanden mit Hämmern oder solchen Geräten gesehen.« Innerhalb von rund drei Stunden zerlegten die Demonstrierenden die Mauer, an der Aktion beteiligten sich auch liberale Politiker wie der Präsidentschaftskandidat Ayman Nour. Die Soldaten, die die Botschaft Tag und Nacht in Panzern bewachen, sahen zu, griffen aber nicht ein – und verschwanden dann auf einmal. Vier Männer begannen, die Fassade hinaufzuklettern, offenbar drang auch eine Gruppe ins Gebäude ein.
Während ein Teil der Anwesenden entsetzt den Platz verließ, blieben andere jubelnd zurück. Drei Stunden dauerte es, bis die vier die Botschaftsräume erreicht hatten. Unten tanzten Menschen auf den Panzern, während in den Räumen der Botschaft Feuer ausbrach. Militär und Polizei kamen erst nach sieben Stunden. Straßenschlachten brachen aus und verlagerten sich rasch vor das nahe gelegene Polizeirevier, Tränengas wurde eingesetzt, Steine flogen, Autos brannten und es wurde geschossen. Erst am Morgen beruhigte sich die Lage. Drei Menschen starben, mehr als tausend wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums verletzt.

Noch in der Nacht verkündete das Innenministerium, die Polizei werde in den Alarmzustand versetzt. Die Regierung erklärte, die Notstandsgesetze würden in vollem Umfang wieder in Kraft gesetzt. Unangemeldete Demonstrationen seien verboten. Jeder könne ohne Begründung verhaftet werden. Am Sonntag stürmten Regierungstruppen 16 internationale Fernsehsender, darunter das Büro von al-Jazeera Ägypten. Hier wurden das Sendegerät beschlagnahmt und ein Mitarbeiter wurde festgenommen. 93 Personen wurden von der Sicherheitspolizei Amn al-Dawla zu Hause oder an ihren Arbeitsstellen verhaftet.
Während die Bewegung schockiert die Nachrichten verfolgte, trat Innenminister Mansour al-Essawy im Staatsfernsehen vor die Kameras. In einem Interview gab er Auskunft über die aktuelle Lage: Die Notstandsgesetze seien nötig, um die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Die Gesetze richteten sich vor allem gegen Schmuggler, Waffen- oder Drogenhändler, thugs und jene, »die Straßen blockieren und verhindern, dass die Leute ihre Arbeitsplätze erreichen und so der Wirtschaft schaden«.
Der Angriff auf die israelische Botschaft sei das Werk »feindlicher ausländischer Kräfte«, sagte der Innenminister. Das Staatsfernsehen warnte, jede Kritik am Militär und die Verbreitung von »Falschinformationen« im Internet werde man verfolgen.
Während international Entsetzen über den Vorfall geäußert wurde und etwa die deutsche Regierung und die EU Ägypten zu einem harten Vorgehen aufriefen, tobte unter den ägyptischen Aktivisten zunächst ein heftiger Streit darüber, ob der Angriff zu rechtfertigen oder eine große Dummheit gewesen sei.
Anders als im Ausland teilweise vermutet, beteiligten sich keine islamistische Gruppen an der Aktion. Diese hatten ihre Teilnahme an der Demonstration zuvor abgesagt, die Salafiten waren später sogar ausgerückt, um die Polizeistation zu schützen. Es herrscht weiterhin Unsicherheit darüber, wer zu dem Angriff aufgerufen hatte, aber es war sofort klar, dass ein Teil der Anhänger der Demokratiebewegung vor Ort war. Es handelte sich dabei um einige Aktivisten, die auf dem Tahrir-Platz seit Monaten protestieren, aber auch um viele der Revolution nahestehende Ultras der Fußballclubs Ahly und Zamalek aus Kairo, die zwei Tage zuvor nach einem Spiel heftig mit der Polizei aneinandergeraten waren und sich der De­mons­tration am Freitag angeschlossen hatten.
Gerechtfertigt und gefeiert haben den Angriff aber vor allem zahlreiche bekannte, meist aus der Oberschicht stammenden Blogger, während viele Aktivisten entsetzt dazu aufriefen, diesen »emotionalen Unsinn« bleiben zu lassen und schon in der Nacht immer wieder Kritik am Vorgehen der Demonstranten äußerten.

»Ich weiß nicht, warum, aber ich komme mir vor wie eine Marionette, sie spielen mit uns«, sagte Ali, ein junger Aktivist, noch in der Nacht des Angriffs. Ein Freund von ihm schüttelt noch Tage später wütend den Kopf: »Seit 20 Jahren gab es keinen Tag, an dem das Gebäude der israelischen Botschaft nicht streng bewacht war – warum zog das Militär gerade an diesem Tag ab?« Die Befürworter des Angriffs wurden immer stiller, als in den folgenden Tagen immer mehr Beweise auftauchten, dass der Angriff keinesfalls so spontan war, wie es auf dem ersten Blick schien.
Augenzeugen, unter ihnen auch einige, die ins Gebäude eingedrungen waren, berichteten, dass Militär im Gebäude gewesen sei. »Die Soldaten haben uns zur Tür gebracht«, erzählte einer von ihnen. »Sie haben nur gesagt, wir sollen die anderen Wohnungen nicht angreifen, da wohnen Ägypter drin.« Drei Tage nach dem Angriff tauchte im Internet ein Video auf, das während der Stürmung der Botschaft aufgenommen wurde. Es zeigt eine Gruppe höchst aufgeregter junger Männer, die sich im Gebäude befinden. Offiziere mit Gewehren stehen überall und geben ihnen Anweisungen, einmal öffnet ein Offizier ein Tor, möglicherweise das zum Archiv, und lässt sie dann durch: »Einer nach dem anderen, nicht drängeln! Einer nach dem anderen«, sagten die Soldaten.
Zum Schluss schwenkt die Kamera über einen älteren Mann, der die Aktion zu überwachen scheint und die Abzeichen eines hohen Generals trägt – seinem Rang nach müsste er ein Mitglied des Militärrates SCAF sein.
»Sie haben sich mit Israel abgesprochen«, kommentiert Ahmed. »Bei jedem kleinsten Angriff reagiert Netanjahu sonst höchst aggressiv, jetzt hält er eine freundliche Rede und bedankt sich bei der ägyptischen Armee für ihren Einsatz gleich mehrfach. Das kann doch nicht wahr sein!«
Die westlichen Regierungen unterstützten jetzt das harte Vorgehen des ägyptischen Militärs, dieses habe nun freie Hand, die Protestbewegung niederzuschlagen, und vermutlich würde es sogar Unterstützung bekommen, wenn die für November geplanten Wahlen erneut verschoben werden. Das ist es, was viele in Ägypten nun fürchten: Dass es auf absehbare Zeit keine freien Wahlen geben wird und dass das Militär ohne Wahlen an der Macht bleibt.