Über den Kampf der slowenischen »Ausgelöschten«

But the Border crossed us

Zehntausende Menschen, die einst aus den anderen Landesteilen Jugoslawiens nach Slowenien gezogen waren, wurden mit der Unabhängigkeit des Landes plötzlich zu Ausländern. Jene, die den neuen Staat nicht ihrer Loyalität versichern wollten, wurden mit Löschung ihrer staatsbürgerlichen Identität bestraft.

Dass es sie offiziell nicht mehr gibt, erfuhren die »Gelöschten« erst nach und nach. Manche wollten nur ihren Führerschein verlängern und bekamen auf dem Amt zu hören, sie seien im Einwohnerregister nicht verzeichnet. Manche wollten auf dem Amt ihr neugeborenes Kind registrieren lassen, stattdessen wurden ihre Pässe ungültig gestempelt. Andere wollten nach einer Auslandsreise zurück in ihr slowenisches Zuhause und wurden von den Grenzern abgewiesen. Manche wurden nach jahrelangem oder auch lebenslangem legalen Aufenthalt in Slowenien nach Kroatien, Bosnien oder in andere Staaten abgeschoben. Fast alle hielten ihr Schicksal zunächst für einen persönlichen kafkaesken Albtraum.
Denn erst spät kam ans Licht, dass der slowenische Staat im Februar 1992 25 671 Menschen still und heimlich aus dem Register gestrichen und damit rund ein Prozent der Bevölkerung zu komplett rechtlosen »Illegalen« gemacht hatte – zu Phantomen ohne offizielle Existenz, ohne Aufenthaltsrecht, ohne gesicherten Zugang zum Gesundheits-, Rechts- und Bildungssystem, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, geschweige denn zu Sozialleistungen. »Der Fall der Gelöschten hat deutlich gemacht, wie sehr Menschenrechte an Staatsbürgerschaft geknüpft sind«, sagt Barbara Benzec, eine Aktivistin, die den Kampf der Gelöschten schon lange unterstützt.
Bis dieser Kampf überhaupt beginnen konnte, dauerte es mehrere Jahre. Erst 1994 tauchte der Begriff der izbrisani, der »Gelöschten«, in der öffentlichen Debatte auf. Im Jahr 1999 fiel er im Rahmen einer Entscheidung des Verfassungsgerichtes, das die Löschung für verfassungswidrig erklärte. Aber erst in diesem Jahr begannen Betroffene öffentlich zu protestieren und sich als »Gelöschte« zu organisieren. Etwa in der Initiative der Gelöschten Aktivisten (CIIA), deren Vorsitzender Ifran Besirevic sich mit Benzec und anderen antirassistischen Aktivisten in Ljubljanas autonomem Zentrum »Rog« trifft. Die Bewegung der Gelöschten gehört für sie zusammen mit den hier koordinierten Kampagnen gegen die Ausbeutung von Arbeitsmigranten, die Internierung von Flüchtlingen und andere Formen von staatlichem Rassismus – nicht nur weil für die Gelöschten der Slogan »We didn’t cross the borders, but the borders crossed us« mehr als eine Metapher ist, sondern auch weil in den Augen vieler izbrisani die Löschung nichts anderes war als »eine adminis­trative ethnische Säuberung«.

Um den Vorgang der Löschung zu erklären, muss man in die Geschichte Sloweniens zurückblicken. Der ehemalige Staat Jugoslawien kannte zwei Formen von Staatsbürgerschaft: eine des gesamtjugoslawischen Staats und eine föderale Bürgerschaft der Teilrepubliken, wie etwa Sloweniens, die aber kaum eine Rolle spielte. Doch als Slowenien sich für unabhängig erklärte, wurde die föderale Staatsbürgerschaft relevant: Im Artikel 39 der neuen Verfassung hieß es, dass jeder, der eine jugoslawische und eine slowenische Staatsbürgerschaft habe, fortan als Staatsbürger Sloweniens gelte. Der Artikel 40 ergänzte: Wer eine andere Bürgerschaft jugoslawischer Teilrepubliken habe und ein permanentes Aufenthaltsrecht in Slowenien, der könne innerhalb von sechs Monaten eine slowenische Staatsbürgerschaft beantragen.
Bis zum Ende der Frist im Dezember 1991 beantragten mehr als 174 000 Menschen, die ursprünglich anderswo herkamen, die slowenische Staatsbürgerschaft. Der Großteil der Antragsteller bekam sie. Einige wurden zurückgewiesen oder scheiterten an der bürokratischen Prozedur. Doch ein Teil der einst aus anderen Teilrepubliken Zugezogenen, die schon lange mit permanenter Aufenthaltserlaubnis in Slowenien gelebt hatten, stellte keinen Antrag auf die slowenische Staatsbürgerschaft.
Die dafür angeführten Motive sind zahlreich. Einige fürchteten Nachteile im Land ihrer Herkunft, wenn sie offiziell Slowenen würden. Manche sagen, dass Slowenien bis zum Ende der Antragsfrist noch gar kein international anerkannter Staat gewesen sei und ein nicht existenter Staat seinen Bewohnern kaum einen Antrag auf Staatsbürgerschaft abverlangen könne. Vielleicht hatten manche auch keine Lust, Briefe der Regierungsbehörden zu öffnen, und versäumten die Frist. Oder sie revoltierten bewusst gegen das vordergründig gnädig daherkommende Angebot, sich dem neuen Staat mit der Beantragung der Staatsbürgerschaft unterwerfen zu dürfen. Das betont zumindest Andrej Kurnik, der sich mit Barbara Bencez, Sara Pistotnik, Ifran Besirevic und anderen slowenischen Aktivisten in mehreren Publikationen mit dem Thema befasst. »Wenn ich damals die Staatsbürgerschaft hätte beantragen sollen, ich hätte das auch nicht gemacht. Wozu auch?« meint Kurnik.

Der Hauptgrund aber, warum ein Großteil der später Gelöschten keinen Antrag stellte, bestand wohl darin, dass ihnen die Konsequenz davon unbekannt war. Die allermeisten gingen davon aus, auch ohne slowenische Staatsbürgerschaft ihre permanente Aufenthaltserlaubnis und alle damit verknüpften Rechte behalten zu können. Dass jene Menschen aus anderen jugoslawischen Teilrepubliken, die keinen Antrag stellten, in Slowenien letztlich zu rechtlosen Nobodies gemacht wurden, scheint auch aus heutiger Perspektive noch absurd. Denn andere in Slowenien lebende Ausländer, die etwa aus den EU-Staaten stammten, mussten nicht Slowenen werden, um legal in Slowenien bleiben zu dürfen. »Letztlich ging es darum, jene zu bestrafen, die einst aus Serbien, Bosnien und Kroatien zugezogen waren und sich weigerten, ihre Loyalität zu Slowenien zu demonstrieren«, meint Barbara Beznec.
Der Vorwurf der »administrativen ethnischen Säuberung« trifft trotzdem nicht ganz zu. Immerhin wurden insgesamt rund 180 000 Menschen aus anderen Teilen Jugoslawiens, die sich bestrebt zeigten, Slowenen zu werden, auch als Staatsbürger integriert. Doch gegenüber jenen, die sich nicht erpicht zeigten, Slowenen zu werden, war die Reaktion gnadenlos – und als bürokratische »Säuberungsaktion« ziemlich erfolgreich: Rund ein Drittel der in Slowenien komplett entrechteten Menschen soll mangels Perspektiven das Land verlassen haben. Wie viele Gelöschte inhaftiert, schikaniert, abgeschoben und teils von Staat zu Staat hin- und hergeschoben wurden, da viele durch die Löschung de facto staatenlos geworden waren, ist nicht bekannt. »Die Abschiebungen fanden ohne Gerichtsurteil statt, die Polizeiakten sind gelöscht«, sagt Sara Pistotnik.
Heute halten viele Slowenen das Problem der Gelöschten für erledigt. Die izbrisani haben durch internationale Kampagnen dafür gesorgt, dass die Regierung die Löschung zugeben, als Unrecht anerkennen und den Gelöschten nach und nach Möglichkeiten bieten musste, wieder einen legalen Status zu erlangen. Auch Ifran Besirevic, der Vorsitzende der Gelöschten-Initiative, hat seit 2004 wieder einen legalen Status. Seiner Meinung nach ist aber »nichts erledigt, auch wenn die Politiker das gerne so sehen«. Besirevic selbst war immerhin zwölf Jahre lang illegalisiert, und manche der Gelöschten sind es noch immer. Viele Betroffene haben Jahre ihres Lebens als Rechtlose zugebracht, und das schlägt sich nicht nur in ihrer heutigen ökonomischen Lage nieder.
Doch dass der Staat den Opfern Entschädigungen zahlen wird, scheint wenig wahrscheinlich. Schließlich war bisher auch keine slowenische Regierung bereit, die Löschung einfach rückgängig zu machen. Der slowenische Staat besteht noch immer darauf, dass jeder einzelne Gelöschte einen individuellen Antragsprozess durchlaufen muss. Und das hat einen Grund: Die Löschung stößt längst nicht bei allen Slowenen auf Protest. Ein Großteil der Slowenen dürfte etwa der Interpretation der größten Oppositionspartei, der rechts-konservativen SDS, anhängen.
Der zufolge seien fast alle Gelöschten ehemalige Soldaten der jugoslawischen Bundesarmee gewesen, die das Land nach der Unabhängigkeit in »Konvois verlassen« und dabei »Flugblätter mit Drohungen« gegen die slowenische Bevölkerung verteilt hätten. Erst als »sich die Lebensbedingungen im ehemaligen Jugoslawien dramatisch verschlechtert haben«, seien die Gelöschten, die 1991 »das generöse Angebot, die slowenische Staatsbürgerschaft beantragen zu können«, nicht angenommen hätten, zurück in das prosperierende Slowenien gekommen, schreibt die SDS auf ihrer Homepage. Nationalistisch gesinnten Slowenen gelten die Gelöschten allesamt als Volksverräter und Kriegsverbrecher. Wenn rechte Slowenen heute gegen Juden, Schwule und Roma hetzen, zählten sie daher gern die Gelöschten dazu.