Gewalt in Ägypten vor den Wahlen

Wahlen der Angst

Wenige Tage vor den Parlamentswahlen eskaliert in Ägypten erneut die Gewalt auf den Straßen. In der Bevölkerung und in der Revolutionsbewegung ist von der Aufbruchstimmung der ersten Jahreshälfte kaum etwas übriggeblieben. Das herrschende Militär geht mit der Verbreitung von Angst gegen jede Form von Kritik vor.

Eine Woche vor dem Wahltermin brach das Bild eines Landes auf dem Weg zur Demokratie, das der herrschende ägyptische Militärrat in den vergangenen Monaten propagierte, endgültig zusammen. Seit Tagen liefern sich Protestierende in Kairo und zahlreichen anderen Städten blutige Auseinandersetzungen mit Militär und Polizei mit mehr als 30 Toten und Tausenden Verletzten (Stand von Dienstagnachmittag, Anm. d. Red.).
In wenigen Tagen, am 28. November, sollten die ersten freien Wahlen nach der Revolution beginnen, in drei Runden sollte ein neues Parlament gewählt werden, aber ob die Wahlen angesichts der Eskalation der vergangenen Tage stattfinden werden, war bis Redaktionsschluss am Dienstag unklar.
Die Ägypterinnen und Ägypter hatten am Anfang viel Hoffnung in diese Wahlen gesetzt. Wie verheißungsvoll klang das Versprechen von Wahlen im Frühjahr, als Hosni Mubarak gerade zurückgetreten war und in Kairo die Euphorie und die ungläubige Freude über die wiedergewonnene Freiheit überall spürbar waren. Damals, als die Straßencafés von jungen Menschen wimmelten, die Aktionen planten, Demonstrationen organisierten und über die Zukunft des Landes diskutierten, konnte man sich noch einen Wahlkampf vorstellen.
Mittlerweile sieht es anders aus. »Wahlen?« sagt ein Taxifahrer, »ich habe damit nichts zu tun. Möge Gott den Besten gewinnen lassen.« Auch Khaled lacht spöttisch. »Wahlen? Das kennen wir schon. Man geht hin, macht sein Kreuz und hofft, dass man auf dem Rückweg nicht von bezahlten Schlägern angegriffen wird«, sagt der Anwalt und Aktivist. Eine politische Debatte konnte wegen der Zensur und Propaganda de facto nicht stattfinden, die Demokratiebewegung erstarrt unter der Herrschaft des Militärs, das im Februar die Macht übernommen hat, um das Land »in die Demokratie zu führen«, wie der Militärrat behauptete.

Die Kluft zwischen den Erwartungen der westlichen Staaten an diese Wahlen und der Stimmung der Menschen im Land ist enorm. International gelten diese Wahlen als entscheidend für den Übergang zur Demokratie, obwohl ein Wahlsieg der islamistischen Gruppen befürchtet wird. Doch die Ägypterinnen und Ägypter fragen sich, was und warum sie eigentlich wählen sollen. Viele fürchten sich nicht vor den Islamisten, sondern vor den willkürlichen Verhaftungen und der Gewalt und dem Chaos, welche die Wahlen vermutlich begleiten werden. Diese Befürchtungen haben sich nun als begründet erwiesen.
Die Wahlplakate auf den Straßen werben für bekannte Protagonisten der ägyptischen Politik. Etwa 50 neue Parteien wurden seit der Revolution gegründet, in der Bevölkerung kennt allerdings Umfragen zufolge fast niemand auch nur deren Namen, geschweige denn die Programme, die sie vertreten. Die alte Staatspartei wurde aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich auf zwölf andere Parteien verteilt. Fast stündlich wechseln die Koalitionen, so dass manch ein Kandidat in Interviews selbst nicht weiß, mit wem seine Partei gerade koaliert. Wer überhaupt wo und wie wählen darf, ist weiterhin nicht endgültig geklärt, unabhängige Beobachter sind nicht zugelassen. Auch am ohnehin undurchschaubaren Wahlsystem wird weiter gearbeitet. Noch im Oktober, als der Militärrat endlich den Wahltermin bekanntgab, wurde der Anteil der Direktkandidaten geändert, um wenig später den Parteien doch wieder mehr Listenplätze zu geben – im Rahmen einer umstrittenen Vereinbarung mit den 38 großen Parteien, wonach diese sich dazu bereit erklärten, von einem Wahlboykott abzusehen und die Politik des Militärrates bedingungslos zu unterstützen. Diese Wahlen sind für viele Ägypterinnen und Ägypter das, was sie vor der Revolution auch waren: eine Inszenierung der Machthaber.

»Von den Wahlen erwarten wir nichts«, sagt auch Ahmed kopfschüttelnd. »Die Verfassung ist das wirkliche Problem.« Sie soll im Frühjahr ausgearbeitet werden. »Der Militärrat wird zum großen Teil bestimmen, wer in der Kommission sitzt«, ist sich der schmächtige junge Mann sicher, der wenige Tage vor dem Ausbruch der erneuten Unruhen in einem Café am Nil sitzt. Die Cafés der Innenstadt, die einst lebendige Treffpunkte der jungen Revolutionäre waren, sind längst zu gefährlich geworden, sie wimmeln von Spitzeln und Zivilpolizisten. In der Innenstadt und auf den Straßen rund um den Tahrir-Platz, an den Orten der Revolution, sieht man überall Graffiti mit eilig hingekritzelten Slogans gegen die Herrschaft des Militärs oder mit den Gesichtern derer, die während der Revolution gestorben sind, sowie Aufkleber mit Parolen gegen die Militärgerichte, die seit Februar über 12 000 Menschen ohne ordentlichen Prozess ins Gefängnis geschickt haben. »Sprühen, Plakate kleben, das ist im Grunde alles, was wir gerade noch machen«, gibt Ahmed zu. »Flugblätter zu verteilen, ist zu gefährlich, und man erreicht nur wenige Leute. Demonstrationen sind auch nicht sicher, man weiß nie, wer dazu im Internet aufgerufen hat und ob nicht die Hälfte der Teilnehmer Zivilpolizisten sind. So ziehen wir nachts herum und sprühen.«
Ahmed gehört zu den wenigen Leuten aus der jugendlichen Protestbewegung, die sich noch nicht aus Angst vor Verfolgung und Repression oder aus Frustration zurückgezogen haben und die unermüdlich weiter versuchen, etwas zu verändern. Es sind junge Menschen wie Ahmed, deren Leben durch die Revolution über den Haufen geworfen wurde, die sich innerhalb weniger Tage politisiert haben und sich seit Monaten der Politik auf der Straße widmen. »Wir sind nicht mehr so viele«, sagt Ahmed und schaut auf das Wasser, auf dem die Nachmittagssonne glitzert. Auf der anderen Uferseite steht wie ein Mahnmal immer noch die ausgebrannte Ruine des Gebäudes der aufgelösten Staatspartei. »Das Militär lässt sie absichtlich so stehen, um den Menschen das Gefühl zu geben, die Revolution gewonnen zu haben.« Ahmed lacht, er ist trotz allem ein pragmatischer Mensch geblieben. Gerade heute hat er erfahren, dass er ausgemustert wurde, seine Erleichterung ist groß. Denn der Wehrdienst ist eine der größten Sorge vieler junger Protestierender. Ein bis drei Jahre dauert er in Ägypten, und wer nicht aus einem reichen Elternhaus stammt, hat kaum eine Chance, ihm zu entgehen. Das Militär, heißt es, sei dieses Jahr viel strikter als früher, es wolle so viele junge Männer einziehen, damit sie von den Straßen fernbleiben, und so die Proteste in den Griff bekommen. Wie hart der Militärdienst in der Wüste ist, weiß man hier nur zu gut. »Manchmal überlege ich mir, das Land zu verlassen«, sagt Ahmed, »ich kann nur noch auf die nächste Revolution warten. Die kommt ganz bestimmt. Aber wer weiß, wann. In einem Monat? In vier Jahren?«
Von den Forderungen der »ersten Revolution«, nämlich Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, ist bisher keine erfüllt worden. Das Militär hält die Teile der Bevölkerung, die einen Grund zur Revolte hatten und immer noch haben, mit harter Repression in Schach. Etwa die Arbeiter, die seit Februar streiken, aber zersplittert sind und keine Verbindung zu politischen Kräften haben. Oder die vielen jungen Menschen ohne Zukunftsperspektiven, die Armen, die nichts zu verlieren haben, deren Einsatz für den Sieg über das alte Regime entscheidend war. Bei ihnen herrscht seit Februar die Angst vor den Militärtribunalen.
12 000 Personen landeten allein bis August ohne regulären Prozess im Gefängnis, als angebliche Verbrecher, die als Bedrohung der öffentlichen Ordnung gelten. Ihr Verbrechen besteht oftmals nur darin, arm zu sein – und damit potentiell Grund zum Protest zu haben. Das Militär greift häufig bei Demonstrationen, meist aber willkürlich auf der Straße junge Männer auf, und geht dabei strikt nach sozialen Kriterien vor: Wer ordentlich gekleidet ist, gebildet oder in einem wohlhabenden Viertel wohnt, kommt frei, alle anderen werden in Verfahren, die oft nur wenige Minuten dauern, zu drei bis manchmal über 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Anfang November tauchten im Internet die Bilder des Leichnams von Essam Atta auf. Er war vor dem Laden seines Vaters im Februar aufgegriffen, dann zu drei Jahren Militärgefängnis verurteilt und nach acht Monaten grausam von einem Gefängnisaufseher zu Tode gefoltert worden. Die Bilder erinnerten an jene des Bloggers Khaled Said, dessen Tod viele als einen der Auslöser der Revolution Anfang des Jahres ansehen.

Zum Opferfest Anfang November standen auf einmal Kühe und Schafe zwischen den bröckelnden Altbauten in der Innenstadt Kairos, sie kauten träge an einer Handvoll staubigem Heu und schauten dem Verkehr zu, der sich hupend an ihnen vorbeischlängelte, bevor sie am nächsten Tag in den Metzgereien verschwanden. Früher wurden die Tiere häufig mitten auf der Straße geschlachtet, denn das Schlachten in den Metzgereien ist teuer. Dieses Jahr hat der Militärrat das verboten, der Staat sollte die Metzgereien bezahlen. Kein Blut solle die Straßen Kairos beschmutzen, lautete die Begründung. Das mutet zynisch an. So wie vieles in diesen Tagen. Im Fernsehen laufen ununterbrochen die Bilder der protestierenden Massen vom Januar. Alle Parteien, selbst jene, denen Anhänger des alten Regimes angehören, sprechen »im Namen der Revolution«. Das Militär stellte vor einigen Wochen die angeblich höchste Flagge der Welt in den Nationalfarben auf einem Metallturm in der Nähe des Tahrir-Platzes auf, »zur Feier der Revolution« und »zur Ehre des großen ägyptischen Volkes«, wie es hieß.
Die Revolution ist zur Propaganda der Herrschenden geworden. Diejenigen, die im Januar am heftigsten kämpften, die Marginalisierten, die Hoffnungs- und Namenlosen, die jungen Prekären, die viele Träume, aber kaum Chancen haben, sind wieder in der Unsichtbarkeit der Armenviertel, an den Rändern der Städte oder in den Verliesen der Militärgefängnisse verschwunden. Die gebildeten Aktivistinnen und Aktivisten fragen sich, wie die Ziele der Revolution so schnell in ihr Gegenteil verkehrt werden konnten. Wie konnten sich die Ohnmacht und die Angst so rasch wieder der Menschen bemächtigen?
»Ich mag es nicht, wie die Leute nach Mubaraks Rücktritt feiern. Die Revolution ist doch kein Fußballspiel, das man nach einem Tor gewinnt«, hatte ein Aktivist schon im Frühjahr gesagt. Eine Revolution zu gewinnen, da waren sich die Aktivistinnen und Aktivisten immer einig, dauere Jahre. Verlieren kann man sie jedoch in wenigen Monaten, wie sie schmerzhaft feststellen mussten. Das Land hat sich zwar innerhalb weniger Tage verändert und eine ganze Generation hat sich politisiert. Trotzdem ist es nicht gelungen, die erstarrten politischen Strukturen zu verändern. Die Revolutionsbewegung hatte nie auf die institutionelle Macht gesetzt. Politik wird für sie auf der Straße gemacht.
Im Juli war es noch einmal gelungen, die Plätze und Straßen des Landes während der »zweiten Revolution« wochenlang zu besetzen (Jungle World, 30/2011). Dann kamen der August, die Hitze und der Fastenmonat Ramadan, die das politische Leben in Ägypten lahmlegten. Die Menschen starrten nur noch auf ihre Bildschirme, wo das bleiche Gesicht des ehemaligen Präsidenten an seinem ersten Prozesstag sie überzeugte, dass die Revolution gewonnen war.
Als Anfang September die Protestbewegung ihren Kampf gegen die Militärherrschaft und für eine zivile Regierung fortzusetzen versuchte, ging jedoch alles ganz schnell. Die erste große Demonstration am 9. September endete mit dem Angriff auf die israelische Botschaft, mit Straßenschlachten, Toten und Verletzten. Das führte zu Massenverhaftungen und zur Wiedereinführung der Notstandsgesetze.
Der Schock war noch nicht überwunden, die Bewegung hatte sich noch nicht wieder formiert, als am blutigen »schwarzen Sonntag« einen Monat später 27 Menschen erschossen und einige mit Panzerfahrzeugen zermalmt wurden, nachdem das Militär eine Demonstration vor dem Gebäude des Staatsfernsehens in Maspiro am Nilufer in Kairo angegriffen hatte. Die meisten Opfer waren koptische Christen, die gegen den Militärrat und seine Politik demonstriert hatten.
Es ist für Außenstehende schwer zu begreifen, was das Massaker von Maspiro für die ägyptische Demokratiebewegung bedeutet. Das Militär machte damit deutlich, dass es sich seiner Macht sicher ist, die Medien unter Kontrolle hat, und vor allem, dass es keine Skrupel hat, auch mit Gewalt gegen die Bewegung vorzugehen. Damit geht die Strategie des alten Regimes wieder auf: Für Gewalt und Chaos sorgen, religiöse Spannungen anheizen, dann als »ordnende Macht« auftreten und Kritik zum schweigen bringen. Nach diesem Schlag gab es keinen Aufschrei in der Bevölkerung, keinen Protest, keine Kritik am Vorgehen der Militärregierung. Das Staatsfernsehen hetzte noch während des Angriffs gegen angebliche »christliche Extremisten«, die »wehrlose Soldaten« angegriffen hätten, und rief die muslimische Bevölkerung dazu auf, auf die Straße zu gehen, um »ihre Armee« gegen die Christen zu verteidigen. Ein offener Aufruf zum Bürgerkrieg, wie Aktivistinnen und Aktivisten entsetzt und ohnmächtig feststellten. Eine Untersuchungskommission veröffentlichte wenig später eine Liste der angeblichen Verantwortlichen für die »religiösen« Unruhen. An erster Stelle steht Mina Daniel, ein junger Kopte, der auf dem Tahrir-Platz demonstriert hatte und der am 9. Oktober, dem »schwarzen Sonntag«, vom Militär getötet wurde.

Am 30. Oktober nahm das Militär den Blogger Alaa Abd El-Fatah fest und klagte ihn wegen »Waffendiebstahls und bewaffneten Angriffs auf das Militär« an. Der Blogger, der im Internet über seine Beobachtungen am 9. Oktober in Maspiro berichtet hatte, ist einer der bekanntesten ägyptischen Aktivisten. Er war bereits unter Mubarak verhaftet worden, später wanderte er aus Ägypten aus und kehrte während der Revolution zurück. Seine Frau Manal, ebenfalls eine bekannte Bloggerin, wird wahrscheinlich Ende November das erste gemeinsame Kind des Paares bekommen. El-Fathas Verhaftung zeigte, dass nun auch bekannte Aktivisten, die gebildet sind, aus gutem Hause kommen und Kontakte ins Ausland haben, in Ägypten nicht mehr sicher sind.
Am Dienstag veröffentlichte Amnesty International einen Bericht über die Lage in Ägypten nach Mubaraks Rücktritt. Darin wird die Einschätzung geäußert, dass die Menschenrechtslage nicht besser, sondern schlimmer als zuvor ist. Das war zu diesem Zeitpunkt bereits offensichtlich: Die Sicherheitskräfte gehen mit derselben Brutalität wie am Jahresanfang gegen die Protestierenden vor; Scharfschützen stehen auf den Dächern der Amerikanischen Universität in Kairo und strecken Demonstrierende nieder; die bezahlten Schlägertrupps verbreiten Angst und Chaos; Soldaten ziehen Frauen und Männer an den Haaren über die Straßen, prügeln sie tot und werfen ihre Leichen in den Müll, wie Videos im internet zeigen. Es sind diesselben Menschen, die vor zehn Monaten gekämpft haben, die nun wieder auf die Straße gehen: Einige sind gebildet, aber der Großteil kommt aus den ärmeren Vierteln und hatte sich von der Revolution eine bessere Zukunft erhofft. Sie wollen nicht aufgeben, aber heute stehen sie nicht mehr nur der Polizei gegenüber, sondern den Soldaten. Das Militär scheint entschlossen zu sein, die Machtfrage ein für alle Mal mit Gewalt zu beantworten.