Ägypten bereitet sich auf den ersten Jahrestag der Revolution vor

Die gestohlene Revolution

Am 25. Januar jährt sich der erste Tag der Großdemonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Bewegung ruft für diesen Tag zu Protesten gegen das regierende Militär auf. Doch die Chancen für einen neuen Frühling stehen schlecht.

»The dark days«, so beschreibt der berühmte ägyptische Blogger Mahmoud Salem, alias Sandmonkey, die Situation in Ägypten. Viele Menschen, die durch die Revolution aus ihrem alten Leben geworfen wurden und seit einem Jahr unermüdlich kämpfen, sind ausgebrannt und erschöpft, aber sie machen weiter.
Die Revolution hat das Bild der arabischen Welt für immer verändert – von innen und von außen. Doch die verkrusteten Herrschaftstrukturen der Diktatur haben sich als hartnäckig erwiesen. Im Alltag und in den Institutionen ist die Revolution in Ägypten auch ein Jahr nach ihrem Beginn nicht angekommen. Dort, wo der spontane Aufbruch dem Land einen blühenden Frühling beschert hatte – auf den Plätzen und Straßen, in Cafés, Internetforen und Redaktionsräumen – wurden die Leichtigkeit und die Hoffnung auf eine neue Ära mit immer härteren Methoden vertrieben. Das Militär, dem die Bewegung in einem Anflug von Naivität vertraut hatte, übernahm die Macht. Es hat Monate gedauert, bis die Bewegung gemerkt hat, in welche Gefahr sie die Revolution mit diesem Vertrauen gebracht hat. Einige Aktivistinnen und Aktivisten hatten die Repression schon in den ersten Wochen des Aufstands zu spüren bekommen, als Soldaten das Camp auf dem Tahrir-Platz am 9. März 2011 räumten und 200 Protestierende verhafteten und folterten.
Genau einen Monat später griffen Tausende Soldaten eine versuchte Besetzung auf dem Tahrir-Platz an. Im April wurde per Dekret die Zensur wieder eingeführt, erste kritische Journalisten, Blogger und Aktivisten wurden vorgeladen. Im August kam es erneut zu einer brutalen Räumung des Platzes, und es gab Verfahren gegen Dutzende Menschenrechts- und Frauenorganisationen, die des Hochverrats angeklagt wurden, weil sie angeblich Geld aus dem Ausland bekommen hätten. Zu diesem Zeitpunkt gab das Militär auch erstmals Zahlen über die Militärtribunale heraus, die seit der Revolution zum Schrecken von Protestierenden geworden sind. 1 2000 Menschen waren zwischen Februar und August in nichtöffentlichen Verfahren verurteilt worden, die oft nur einige Minuten dauerten.

In den ersten Monaten nach der Revolution waren die Bewegung und die Öffentlichkeit noch so kritisch, dass der Militärrat seine institutionell bereits bestehende Macht nicht offen ausüben konnte, zu unsicher war seine Herrschaft noch. Während des Sommers gelang es den Generälen einerseits durch Propaganda, Repression und die Verbreitung von Angst vor einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, einen Großteil der Bevölkerung zurück auf ihre Sofas zu bringen, und andererseits einen bedeutenden Teil der Bewegung auf seine Seite zu ziehen. Erst dann spielte der Militärrat seine Macht offen aus.
In Ägypten, das wurde der Bewegung erst nach und nach klar, hat die Revolution, anders als in Tunesien, kein Machtvakuum eröffnet, es gab nie wirklich Raum für die Entstehung von etwas Neuem. Genau genommen regiert die Armee in Ägypten seit dem Putsch von 1952: Alle Präsidenten kommen seither aus dem Militär. Die Generäle, so argwöhnen derzeit viele, haben die Revolution benutzt, um sich Mubaraks zu entledigen, der immer unfähiger für die Regierungsgeschäfte wurde.
Dass die Zeiten, in denen die Soldaten als vermeintliche Beschützer der Revolutionäre noch fast wie Heilige verehrt wurden, so schnell Geschichte geworden sind, liegt nicht nur an der Gewalt und der Repression, sondern auch an der Unfähigkeit der alten Generäle, irgendein sinnvolles ökonomisches und politisches Konzept für das Land zu entwickeln. Das ökonomische Desaster wird vom Militär aktuell nur verschlimmert, teilweise mit der Verbreitung von absurden Theorien über angebliche ausländische Verschwörungen, die Ägypten schwächen sollen. Die Unsicherheit über die weitere Richtung der eigenen Politik wird mit skurrilen Inszenierungen überspielt, etwa dem Aufstellen des »höchsten Fahnenmastes der Welt« oder mit Militärparaden auf dem Tahrir-Platz. Vor einigen Wochen wurden die Aufgaben der zentralen Schulprüfungen im Internet veröffentlicht: Die Aufgabe für 12jährige lautete, einen Brief an den Militärrat zu schreiben, in dem die Schüler dessen Verdienste für das Land aufzählen und sich dafür bedanken sollen.
Nur langsam wurde die Wahrheit über die Verhältnisse in Ägypten der Öffentlichkeit klar, nämlich erst, als die Bilder von Soldaten auftauchten, die auf protestierende Frauen einprügelten und Leichen auf Müllhaufen warfen, als Amnesty International und Human Rights Watch in ihren Jahresberichten feststellten, dass die Menschenrechtslage mittlerweile schlimmer ist als unter dem Regime von Mubarak, und schließlich als der Militärrat ausgerechnet das Büro der Adenauer-Stiftung in Kairo stürmen ließ, weil er auch dort eine »ausländische Verschwörung« vermutete.

Lange haben die westlichen Medien sich darauf konzentriert, vor einer Machtübernahme der Islamisten zu warnen – ohne darauf einzugehen, wie der Militärrat die Machtübernahme akribisch vorbereitet hatte. Die Muslimbruderschaft und die Salafisten wurden schon bald nach der Revolution zu den wichtigsten Bündnispartnern des Militärs. Dass sie nun als stärkste Fraktionen aus den Wahlen hervorgegangen sind, ist nicht verwunderlich. Die Revolutionsbewegung hatte eine Teilnahme an den Wahlen von vornherein abgelehnt. Die der Bewegung nahestehenden Kräfte hatten nach den blutigen Kämpfen vom November zumeist ihre Kandidaturen zurückgezogen. Eine Machtübernahme der Islamisten muss man in Ägypten allerdings nicht fürchten. Das Parlament hat weiterhin keine Macht und die Islamisten sind vom Militärrat weitaus abhängiger, als dieser es von ihnen ist. Aber eine Militärdiktatur, die vor allem in gesellschaftlichen Bereichen wie der Bildungs- oder Familienpolitik Zugeständnisse an ihre islamistischen Bündnispartner macht, bleibt für viele junge Protestierende eine Horrorvorstellung. Die meisten sind sich sicher, dass auch der nächste Präsident aus dem Militär kommen wird. Erst vor wenigen Tagen hat Mohammed el-Baradei, der bekannteste liberale Kandidat, seinen Rückzug aus dem Rennen um das Präsidentenamt angekündigt – solange das Militär derart fest über das Land herrsche, sehe er keine Chance und keinen Sinn in einer Präsidentschaftswahl.
Dass die Bewegung hofft, am Jahrestag der Revolution wieder Massenproteste auslösen zu können, ist verständlich. Die Bedingungen dafür sind allerdings schlecht. Die Bewegung ist isoliert, auch die Liberalen haben sich auf das politische Spiel eingelassen und sich bereit gezeigt, mit dem Militärrat zu kooperieren. Zudem haben die Streiks aus Frustration oder aus Angst vor der Repression nachgelassen. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung durch die Zensur ein verzerrtes Bild von den realen Verhältnissen im Land hat. Dennoch könnte der 25. Januar wegen seiner Symbolkraft ein Ausgangspunkt für neue Ansätze sein. Der Militärrat, der sich öffentlich weiterhin als legitimer Erbe der Revolution profiliert, hat bereits angekündigt, den Jahrestag ebenfalls zu feiern – mit einer Militärparade auf dem Tahrir-Platz.