Verfassungsschutz unter Verdacht

Die ganz große Oper

Der Verfassungsschutz hat keinen Skandal, er ist der Skandal. Und er ist es schon immer gewesen.

Als der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) seine Mordserie bereits begonnen, aber längst noch nicht beendet hatte, stellte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Verbotsverfahren gegen die NPD ein. Das ist heute zwar nicht völlig in Vergessenheit geraten, präsent ist es in der Debatte über die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Beobachtung und Nicht-Beobachtung des NSU allerdings auch nicht gerade. Kritik am Verfassungsschutz ist in Deutschland eine jenseits der kurzatmigen Skandalkultur wenig geübte Disziplin, bestenfalls ein Fall für Liebhaber der Operette, schmissig, immer wieder gern inszeniert, aber nicht gerade um Durchdringung und Originalität bemüht. Man weiß ja um den Geschmack des Publikums.

Also: Blick zurück in die ganz große Oper 2003. Die Verfassungsrichter setzten sich in ihrer ausführlich begründeten Entscheidung damals mit der kaum durchschaubaren Gemengelage von Beobachtern und Beobachteten und deren rechtlichen Konsequenzen auseinander: »Für den Erfolg eines Parteiverbotsantrags gemäß Art. 21 Abs. 2 GG kann bedeutsam sein, ob die Partei nach dem charakteristischen Gesamtbild ihrer Ziele und des Verhaltens ihrer Anhänger Ausdruck eines offenen gesellschaftlichen Prozesses ist oder ob ihr Gesamtbild von Umständen geprägt wird, die ihr nicht zugerechnet werden können.« Das war dezent formuliert. Nicht zugerechnet werden konnten der NPD nach Auffassung des Zweiten Senats Handlungen und Haltungen, von Funk­tionären, die gleichzeitig auch V-Leute des Verfassungsschutzes waren – und bei denen man eben nicht so sicher sein kann, was Hauptberufung und was Nebenberuf war.
Das Verfassungsgericht schilderte folgendermaßen, was ihm von den Verbotsbefürwortern mitgeteilt worden war: »Es sei weder nach den gesetzlichen Regelungen noch nach den Dienstvorschriften verboten, an V-Leuten, wenn diese in den Vorstand gelangten, festzuhalten oder V-Leute auf der Vorstandsebene anzuwerben. Folglich gebe es V-Leute auf der Ebene der Vorstände der Antragsgegnerin. Im relevanten Zeitraum habe die Antragsgegnerin auf Bundes- und Länder­ebene jeweils etwa 200 und als Folge der Fluktuation insgesamt etwa 560 Vorstandsmitglieder gehabt. An drei ausgewerteten Stichtagen (4. April 1997, 31. Juli 2001 und 17. April 2002) habe der Anteil der V-Leute in den Vorständen jeweils unter 15 Prozent gelegen.« Unterstellt man einmal, was man nicht so ohne weiteres unterstellen sollte, nämlich die Wahrheit dieser Behauptung, so war an drei gezielt gewählten Stichtagen jeder siebte Funktionär einer militant-rechtsextremen Partei gleichzeitig Verfassungsschutzmitarbeiter.
Daran hat sich möglicherweise wenig geändert – und es waren eben nicht nur Funktionäre der NPD auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes, ein V-Mann war auch der Anführer des »Thüringer Heimatschutzes«, Tino Brandt, über den sein Führungsoffizier der Frankfurter Rundschau sagte: »Der Dienst hat acht Jahre lang von Brandt gelebt.« Ob das nun sieben fette Jahre und ein mageres waren oder umgekehrt mag dahinstehen – ebenso übrigens wie der exakte Inhalt der so termingerecht geschredderten Akten über die »Operation Rennsteig«, in denen es, glaubt man, was eher naiv erscheint, dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), um weitere sieben V-Leute in der Thüringer Heimatschutzszene ging. Sieben aus 35 übrigens, denn so viele Kandidaten für die lukrativen Posten meinten die verschiedenen Geheimdienste zu haben, als sie sich 1996 zusammengesetzt haben sollen, um das Vorgehen gegen die (oder mit der?) Thüringer Neonaziszene zu beraten. Die wurde damals auf 200 Mann geschätzt, 35 waren also wieder das magische Siebtel. Insgesamt acht V-Leute wären dagegen unter der Fünf-Prozent-Hürde gewesen und damit für den Verfassungsschutz eine ungewöhnlich schlechte Bestückung, es sei denn, auch die anderen sieben standen, wie Tino Brandt, in der Hierarchie weit oben.

Anlässlich der Vernichtung der Akten zur Opertation Rennsteig, die sich angeblich nicht einmal der deswegen scheidende Verfassungsschutzpräsident mit dem schönen Echtnamen Fromm erklären kann, fragte sich die bundesdeutsche Medienöffentlichkeit, ob hier nun Dilettanten am Werke waren, Pannenkönige, Versager oder Skandalnudeln. Währenddessen ging am Oberlandesgericht Stuttgart der Prozess gegen Verena Becker zu Ende (siehe Seite 6). Auch in diesem Verfahren, das weder zu tragischer Größe auflief noch komisch genug war, um sonst einen Charme zu entwickeln, spielte der Verfassungsschutz eine Rolle irgendwo zwischen Soubrette und charakterlosem Bass. Die grundsolide Wochenzeitung Die Zeit resümierte: »Verena Becker war, wie der Prozess noch einmal bestätigt hat, eine Informantin für den Verfassungsschutz. Ausführliche Vermerke über Aussagen von ihr gegenüber Mitarbeitern des Geheimdienstes wurden dem Gericht jedoch vorenthalten oder geschwärzt. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat Teile der brisanten Unterlagen vor Prozessbeginn für 30 Jahre gesperrt. Weshalb? Um eine allzu enge Verbindung der Verfassungsschützer zu einer Führungsfigur der RAF zu ver­tuschen, oder daraus resultierende einseitige Ermittlungen? Oder doch nur, um eine Informantin und ihre Kontaktleute zu schützen? Die Bundesanwälte hatten erkennbar kein Interesse ­daran, dies aufzuklären.« Warum sollten sie auch? Sie profitieren doch schon seit langem und immer wieder von der schwer durchschaubaren Tätigkeit des Inlandsgeheimdienstes.
Beispielsweise im Prozess gegen drei angebliche Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) vor dem Kammergericht Berlin, wo im Februar 2009 der Stellvertreter des jetzt zurückgetretenen BfV-Prä­sidenten Fromm befragt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte selbst der Bundesgerichtshof, nicht gerade für seine Sympathien gegenüber linksradikalen Gruppen bekannt, festgestellt, dass die Militante Gruppe, wenn es sie denn überhaupt als einheitliche Gruppe geben sollte, jedenfalls keine terroristische Vereinigung im Sinne des berüchtigten Paragraphen 129a StGB darstellte. Die Bundesanwaltschaft wollte die Angeklagten aber wenigstens als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung hinter Gitter bringen. Eines der wichtigsten Beweismittel dafür: ein »Behördenzeugnis« des Verfassungsschutzes, das besagte, nach einer dem BfV vorliegenden, vertraulichen und unbestätigten Information gehörten die Angeklagten der Militanten Gruppe an. Über diesen Personenkreis hinaus gebe es noch weitere Mitglieder. Der Informant wurde seitens des BfV als im Allgemeinen zuverlässig und »nachrichtenehrlich« eingestuft. Mehr als dieses Geraune konnte der Geheimdienst nicht präsentieren, aber überhaupt dabei zu sein, war ihm den schwachen Auftritt wert.
Die Liste der Fälle, in denen Verfassungsschützer bei kriminellen Aktionen mitgemischt haben, Akteure an einer Leine laufen ließen und Aufklärungsarbeit erschwert oder unmöglich gemacht haben, die Liste der Skandale, Skandälchen und der bemerkenswerterweise nie skandalisierten Aktionen ließe sich nahezu beliebig verlängern (je mehr Akteneinsicht man nehmen könnte, desto länger würde sie). Erwähnt seien hier nur das RAF-Aussteigerprogramm der späten acht­ziger und frühen neunziger Jahre und das Celler Loch. 

Und wer ein Beispiel für die beachtliche Kontinuität der Arbeit der Verfassungsschützer sehen will, findet es in der 38 Jahre währenden Überwachung des Bremer Publizisten und Rechtsanwalts Rolf Gössner, die 1970 begann und nach einem mehrjährigem Prozess 2011 vom Verwaltungsgericht Köln als rechtswidrig über den gesamten Zeitraum bis zu ihrem Ende 2008 quali­fiziert wurde. Der erste BfV-Präsident, der für diese rechtswidrige Überwachung verantwortlich zeichnete, war Hubert Schrübbers von der CDU, der 1972 zurücktreten musste, nachdem der Spiegel seine Tätigkeit als Staatsanwalt in der NS-Justiz enthüllt hatte; es folgten als Verantwort­liche Günther Nollau, Richard Meier, Heribert Hellenbroich, der später wegen Betrugs verhaftete Holger Pfahls, Gerhard Boeden, Eckart Werthebach, Hansjörg Geiger, Peter Frisch und schließlich Heinz Fromm – eine lange Reihe von Präsidenten unterschiedlicher Provenienz und parteipolitischer Couleur, alle aber einig darin, einen kritischen Journalisten und Rechtsanwalt, weil er kritisch war, überwachen zu lassen. Eindrucksvoller lässt sich nicht demonstrieren, dass der Verfassungsschutz nicht bisweilen in die Krise gerät oder aufgrund misslicher Umstände einen Skandal produziert – er verkörpert die Krise und ist dauerhaft ein Skandal, weswegen die jetzt diskutierten Reformvorschläge auch nichts Substan­tielles ändern werden.
Ein Geheimdienst ist eben immer ein Heimat- oder Staatsschutzkommando, niemals kann er dagegen eine freiheitliche Verfassung schützen. Ohne das Konzept der »wehrhaften Demokratie«, die immer schon lauthals und im Brustton der Überzeugung »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« intoniert, ist er nicht vorstellbar. Dass die Verfassung ohne diesen Schutz besser dastünde, kann wohl niemand garantieren, es gibt genug andere Quellen, aus denen sich autoritäres Staatstheater speisen kann. Aber dass es der Verfassung jedenfalls nicht schaden würde, wenn man diesen Posten einsparte und an die Opernhäuser der Republik als Bundeszuschuss zur Begleichung der gestiegenen Kosten für die Tarif­erhöhungen im öffentlichen Dienst weiterleitete, kann man wohl zuverlässig prognostizieren.