Das Fusselbärchen geht

Kaum fuchtelt jemand wirr herum, plappert die gröbsten Gemeinplätze des deutschen Biedermanns in die bereitstehenden Kameras und rasiert sich nur unregelmäßig, gilt er in Deutschland rasch als »Querdenker«. Mit dieser bewährten Dummdeutschvokabel werden von den Medien bevorzugt jene Politiker bedacht, die noch jede Schweinerei, die im Bundestag ausgeheckt wurde, mit der größten Nonchalance durchgewunken haben, denen es dabei aber gelungen ist, sich den Anschein des unbeugsamen Mahners und Zeigefingerhebers zu geben, der weder ruht noch rastet, bis das Unglück, das sie selbst mitverursacht haben, aus der bösen Welt geschafft ist. Ein »Querdenker« dieser Sorte ist der 68jährige Ostzonenpfarrer und frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der vergangene Woche angekündigt hat, dass er nächstes Jahr aus dem Bundestag ausscheiden werde. Es dürfte kaum einen deutschen Parlamentarier der Gegenwart geben, der das Einverstandensein so vollständig verinnerlicht hat wie er. Erlauben sich einzelne, an »unserer Demokratie«, die er fortwährend im Munde führt wie einen Zungenbelag, unschöne Details zu kritisieren, nennt er das eine »Ablehnungsfixierung«. In seinem öffentlichen Auftreten jedoch markiert er erfolgreich den »unbequemen«, basisdemokratischen Empörungsbürger, der sich auch mal medienwirksam von der Polizei wegtragen lässt, wenn Wahlen kurz bevorstehen. Früher scherzte man: »Wer kommt mit zu Sitzblockaden?/Erst mal Wolfgang Thierse fragen!/Sitzt man da auf Hirsekissen?/Das muss Wolfgang Thierse wissen!«
Sieht man von seiner penetranten Frömmelei und seiner moralischen Verworfenheit einmal ab, hat man es bei dem ehemaligen »Bürgerrechtler« mit einer possierlichen Erscheinung zu tun: Er dürfte einer der letzten lebenden Politiker sein, die etwas Menschenähnliches an sich haben. Immer wenn der fusselbärtige Zonenzausel (»Ich will meinen Bart nicht ideologisch aufladen«) seine Gemeinplätze in die Fernsehkameras nuschelt, nickt man wenigstens sofort friedlich weg. Wer bleibt nun übrig im Bundestag, wenn Thierse ihn 2013 nach 23 Jahren Mitgliedschaft verlässt, man aber nach wie vor eine Einschlafhilfe braucht? All die Westerwelle-Klone, all die lebenden Toten und seelenlosen Sprechautomaten, bei denen man nach 15sekündigem Zuhören weiß: Außerirdische haben sie entführt, ihnen das Gehirn entnommen, es durch Spachtelmasse ersetzt und sie wieder zur Erde zurückgebracht.