Der neue Roman von António Lobo Antunes ist eine sprachliche Herausforderung, die sich lohnt

Jenseits von Portugal

Leicht macht es einem António Lobo Antunes mit seinem Roman »Der Archipel der Schlaflosigkeit« nicht, aber man wird belohnt. Hier schreibt ein von der Sprache Besessener.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat in seinem »Tractatus Logico-Philosophicus« geschrieben, dass die Grenze der Sprache die Grenze unserer Welt bedeutet. An diesen Gedanken knüpft »Der Archipel der Schlaflosigkeit« an, der neue Roman von António Lobo Antunes. Es ist ein virtuoser Versuch, die Grenze der Sprache und dadurch die Grenze unserer Welt zu umreißen. Dem portugiesischen Dauergeheimfavoriten für den Literaturnobelpreis gelingt es auf den knapp 300 Seiten, eine Sprache zu entwickeln, die sich der Stringenz und Logik klassischer Erzählweisen konsequent verweigert.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Antunes kehre zu einem Thema zurück, das er bereits in seinem Buch »Das Handbuch der Inquisitoren« von 1996 entfaltet hat: der Niedergang der portugiesischen Gesellschaft, dargestellt als eine Art Kammerstück auf einem alten Gutshof. Viele Motive ähneln sich: der Ort, ein Gutshof am südlichen Ufer des Flusses Tejo gelegen, der alte Tyrann, der das Gehöft mit strenger Hand führt, ein unterdrückter Sohn, dazu ein Enkel, über dessen Abstammung gerätselt wird, und die Frauen, die sowohl Objekte des Missbrauchs durch den Tyrannen wie auch seine Komplizen sind und dadurch ihre Identität zu verlieren drohen. Auch andere Elemente aus Antunes’ früherem Werk tauchen wieder auf. Unvermittelt finden wir uns im zweiten Abschnitt des Buches in einer Psychiatrie wieder, eine Umgebung, die der ausgebildete Psychiater Antunes noch aus seiner Zeit als praktizierender Arzt kennt.
Aber während Antunes in »Das Handbuch der Inquisitoren« ein Sittengemäldes der portugiesischen Gesellschaft zeichnete, er vor allem das durch Diktatur und Kolonialkrieg beschädigte Leben der Portugiesen beschrieb, und hierfür einen polyphonen Chor von Erzählern verwendete, beschränkt er sich in »Der Archipel der Schlaflosigkeit« auf wenige Perspektiven. Zum Großteil kommt eben jener Enkel, der gelegentlich Jaime genannt wird, zu Wort, im dritten Abschnitt des Buches übernehmen das Erzählen dann teilweise die Schwiegertochter Maria Adelaide und die Cousine Hortelinda, die ein Todesbuch mit sich führt, anhand dessen sie die Menschen aus dem Leben ruft.
Die Welt, die Antunes seine Erzähler beschreiben lässt, ist reduziert und frei von menschlichen Regungen. Der Enkel berichtet emotionslos, wie sein vermeintlicher Vater – auch der Verwalter könnte sein Erzeuger sein – ständig vom Großvater gedemütigt und von diesem nur »Idiot« genannt wird und wie der alte Patriarch regelmäßig die Küchenhilfe missbraucht. Dazwischen taucht eine morbide Landschaft auf, bevölkert nur von Vögeln und Hunden.
Stets hat Antunes den Rahmen seiner Erzählungen erweitert und blieb doch thematisch der Enge Portugals verhaftet. Es war vor allem seine Sprachgewalt, die ihn für Leser außerhalb lusophiler Kreise zu einem interessanten Autor machte. Er kehrte aber immer zu den portugiesischen Kolonialkriegen in Afrika, zur Salazar-Diktatur und zur patriarchalen portugiesischen Gesellschaft zurück. Dabei war klar, dass es ihm um die Sprache und weniger um die Geschichten ging.
Antunes selbst hat in einem Interview gesagt, die Aufgabe des Schriftstellers sei es, »Primworte« zu finden. Und in bisher keinem seiner Bücher hat er diese Aufgabe so brillant gelöst wie in »Der Archipel der Schlaflosigkeit«. Hier, scheint es, hat er die Worte gefunden, die nur durch sich selber und die Einheit teilbar sind, wie er die Primworte, analog zur Mathematik, definierte. Während der Lektüre spürt man förmlich die Arbeit des Autors an und mit der Sprache. Das Buch ist geprägt durch Brüche: Sätze, die anfangen und von kurzen Gesprächsfetzen unterbrochen werden, Einschübe, Gedanken, die im Nirgendwo enden, und Beschreibungen, die sich ständig wiederholen. Das Buch macht es dem Leser nicht leicht, einen inneren Zusammenhang zu finden, und vielleicht gibt es diesen auch nicht. So wie der Autor sich an den Worten abarbeitet, ist auch für den Leser die Lektüre kein Vergnügen. Er muss sich von Wort zu Wort durch eine Wüstenei begeben, einen Ort ohne Liebe oder sonst irgendwelche Ausschmückungen, nur um am Ende alleine mit der Sprache António Lobo Antunes’ dazustehen.
Wenn im Buch unvermittelt der Satz »dieses Haus ist voller Fragen und zerstört sich selber« auftaucht, dämmert es einem, dass der Gutshof nicht mehr als Parabel auf den Verfall der portugiesischen Gesellschaft dient, wie es in seinem früheren Werk der Fall war, sondern die Erfahrung des Lesens widerspiegelt. Die Lektüre des Buchs wird somit vor allem zu einer Erfahrung des Scheiterns, es wirft Fragen auf, deren Antworten es verweigert. Antunes lotet die Grenzen unserer Welt aus, ohne zu sagen, welche dies sind. Deshalb wird auch bis zum Schluss nicht klar, ob die erzählte Geschichte real ist oder nur den wirren Gedanken des psychisch kranken Sohnes entstammt. Es könnte aber auch zutreffen, was Antunes die Schwiegertochter Maria Adelaide sagen lässt: »Dies ist kein Buch, es ist ein Traum.«
Es scheint, als habe der Autor seine »Primworte« gefunden hat. Seit er 1979 seinen ersten Roman veröffentlichte, hat er seinem Œeuvre jedes Jahr mindestens ein weiteres, zumeist voluminöses Buch hinzugefügt. Das ist die Produktion eines von der Sprache Besessenen. Mit seinem neuesten Roman wird klar, dass alle diese Bücher nur Vorarbeiten waren, um nun endlich wirklich große Literatur zu schreiben, die nicht nur das Thema Portugal variiert. Er musste sich erst durch die schmerzhaften Erfahrungen als Arzt im Kolonialkrieg sowie den Niedergang Portugals arbeiten, um als 70jähriger zur Sprache zu kommen.
Aus diesem Grund wäre es wichtig, dass der Verlag Luchterhand die Reihenfolge der Übersetzungen transparenter gestaltet. Zwar sind mittlerweile die meisten Bücher Antunes’ ins Deutsche übertragen, aber bereits bei seinen früheren Romanen war nicht ganz nachvollziehbar, nach welchen Kriterien der Verlag die Veröffentlichungen auswählt. So ist auch »Der Archipel der Schlaflosigkeit« im Original schon 2008 erschienen, also vor seinem bereits auf Deutsch vorliegenden Buch »An den Flüssen, die strömen«. Auf die Übersetzungen der vier seitdem erschienen Bücher muss man deswegen wohl noch ein wenig warten. Dennoch sei an dieser Stelle die vorzügliche Übertragung ins Deutsche durch Maralde Meyer-Minnemann erwähnt, der es einmal mehr gelingt, den komplexen Erzählstil Antunes einzufangen. Daran als Leser teilzuhaben ist kein Vergnügen, aber eine Herausforderung, der zu stellen es sich lohnt.

António Lobo Antunes: Der Archipel der Schlaflosigkeit. Luchterhand-Verlag, München 2012, 320 Seiten, 22,99 Euro