Wie frei sind »freie Schulen«? Sie sind totalitär

Wider den offenen Vollzug

In der bürgerlichen Gesellschaft war die Schule ein notwendiges Übel. Erst die Versuche, sie in einen Ort gelebter Freiheit zu verwandeln, haben sie zur totalen Institution gemacht.

Viele Menschen werden, wenn sie groß sind, statt Lokführer nur deshalb Linke, weil sie nicht ohne den pubertären Klassenverband auskommen. Während in ihren Wohngemeinschaften die Erinnerung an Jugendherbergen fortwest und ihr Lesekreis seine Aufgabe mit der gleichen engagierten Langeweile absolviert wie Junge Christen die Bibellektüre, brauchen sie das Kollektiv als Ersatzfamilie, weil sie die echte scheiße finden. Wer nicht bis Mitte dreißig eine Partnerschaftscharaktermaske gefunden hat, um einen alternativen Kleinfamilienklon zu gründen, dem bleibt nichts übrig, als in offenen Beziehungen und prekären Beschäftigungen bis zur geistigen Frührente vor sich hinzustagnieren.
Wenn man keine Zukunft hat, braucht man wenigstens einen Feind. Der zeitgemäße Dissident bekämpft im Grunde nicht Kapitalismus, Rassismus, Sexismus und Gesamtscheiße, sondern nur den einstigen Lehrer, weil er ihm immer noch die Autorität neidet, die er sich heimlich selber wünscht. Nicht wegen ihrer tatsächlich repressiven Funktion wurden der bürgerliche Lehrer und der Frontalunterricht zu Angriffszielen linker Kritik, sondern weil sie in Erinnerung rufen, was herrschsüchtige Antiautoritäre nicht wahrhaben wollen: dass Autonomie und Unansprechbarkeit nicht dasselbe sind; dass Denken erst dort beginnt, wo man bereit ist, still zu sein, zuzuhören und von Klügeren zu lernen, um nicht sein Leben lang so beschränkt zu bleiben, wie man ist.

Wie die bürgerliche Familie lebte die bürgerliche Schule von ihrem inneren Widerspruch. Um ihre Insassen zu selbständigen Besitzern ihrer Arbeitskraft zu machen, durfte sie sich nicht in Zurichtung erschöpfen, sondern musste, gleichsam als Abfallprodukt ihres Zwecks, hervorbringen, was ihr widersprach: Freiheit nicht allein als formelles Attribut des Individuums, sondern als dessen reale Möglichkeit. Weil sie das verstanden haben, sind die besten Schüler nie die bequemsten, während sich Coole, Clowns und Streber darin ähneln, dass sie ihren Platz in der Hackordnung akzeptieren, in der Schülerbande und Lehrerkolleg gemeinsam festlegen, was vorbildlich und was verhaltensauffällig ist. Adornos Beobachtung, dass sich sogenannte brave Schüler eher zu widerständigen Individuen entwickeln als refraktäre, die sich nach dem Abschluss mit den Lehrern am Biertisch versammeln, bringt den Doppelcharakter der Autorität auf den Punkt. Wer ihr nur gehorcht, liefert sich ihr aus, wer sich ihr nur verweigert, reproduziert sie in antiautoritärer Selbstbehauptung umso besinnungsloser. Nicht mit ihr eins sein kann nur, wer sie achtet, ohne sich mit ihr abzufinden.
So konnte die bürgerliche Schule, die die Schwarze Pädagogik hervorbrachte, ebenso den Widerstand des Individuums gegen die Familie stärken, indem sie in ihm den Wunsch weckte, durch Anstrengung, Geduld und Eigensinn über die Borniertheit der Sippe hinauszugelangen und dem Sog der Herkunft zu entkommen, der aus dem verletzlichen Neuen, das jedes Kind ist, eine Wiederholung machen will. Die Intimität der Familie wiederum konnte gegenüber der Strenge der Schule der Zweckfreiheit mitunter ein Residuum gewähren. Im Glücksfall waren Schule und Familie in ihrem Antagonismus nicht nur Einübung in die Gesellschaft, sondern ermöglichten auch den Widerspruch zu ihr.

Die sogenannten Freien Schulen, die zur Zeit der Lebensreform Kuriositäten waren und heute pädagogische Avantgarde sind, reagieren darauf, dass die vollends integrale Gesellschaft diesen Widerspruch nicht mehr braucht. Sie schaffen den Unterschied zwischen Schule und Familie ab, indem sie Eltern zu Lehrern machen, sie kennen keine schulfreie Zeit, weil die Schulzeit, erlöst von Curriculum und Stundenplan, nützliche Freizeit sein soll, und sie machen die Bagage der Klassenkameraden, diese brutalsten Exekutoren repressiver Autorität, gegen die der bürgerliche Lehrer zuweilen noch Schutz bot, zur alleinigen Initiationsinstanz, indem sie Schüler, Lehrer und Eltern zum Team und damit alle zu Mitgliedern derselben verschworenen Clique erklären. Anders als die bürgerliche Schule, die einen irgendwann entlässt, verstehen sie sich als organischer Bestandteil des Lebens, das eine offene Vollzugsanstalt ist, in der die zu ehrenamtlichen Sozialarbeitern mutierten Bürger einander lustig den letzten Rest von Zartheit und Geist austreiben. Deshalb gleichen sich Motivationsspiele für Manager, Betreuungsangebote für Senioren und Förderprojekte für Kleinkinder heute aufs Haar: Es sind Verhaltenstherapien für Leute, die mit 16 fertig sind und beim Coaching-Wochenende den Schnuller als Maskottchen am Schlüsselbund tragen.