Giuliano Santoro im Gespräch über die 5-Sterne-Bewegung und den Grillismus

»Grillo bietet einfache Lösungen«

In seinem Buch »Un Grillo qualunque« (Ein beliebiger Grillo) schildert Giuliano Santoro die Entstehung der Bewegung, die zur stärksten Partei im italienischen Parlament geworden ist. Ein Gespräch über Beppe Grillo, seine Geschichte und die Widersprüche des Grillismus.
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Ist Beppe Grillo wirklich ein »Überraschungssieger«, wie ihn internationale Medien beschreiben?
Für mich ja, das muss ich ganz ehrlich zugeben. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die den Sieg des Movimento 5 Stelle (M5S) prophezeit haben. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Schließlich haben drei bis vier Prozent der Stimmen von ehemaligen Mitte-Links-Wählern die Wahl entschieden. Das politische Establishment, vor allem die Demokratische Partei (PD), sowie auch die eta­blierten Medien haben das Phänomen bis zum Schluss unterschätzt. Als ich anfing, mein Buch zu schreiben, wurde auch ich behandelt, als würde ich mich für ein Randphänomen, eine politische Kuriosität interessieren. Hinterher sind alle schlauer, aber ich denke, die Wenigsten haben mit diesem Ergebnis gerechnet. Der Movimento 5 Stelle wird unter anderem als »italienische Anomalie« bezeichnet.

Fühlen Sie sich an 1994 erinnert, als Silvio Berlusconi sich der Politik zuwandte?
Der politische und gesellschaftliche Zusammenhang, in dem diese Bewegung entstanden ist, ist keine italienische Anomalie. Die wirtschaftliche und soziale Krise, die Existenzängste von Millionen von Menschen, das Misstrauen gegenüber der Politik, das in Grillos Sprache im Hass gegen die »Politiker« Ausdruck findet, die viel beschworene »Krise der politischen Repräsentation« und der Wunsch nach direkter Teilnahme am politischen Geschehen, das alles haben in den letzten Jahren etwa die »Occupy«-Bewegungen thematisiert, was man auch immer von ihnen halten mag. Der spezifisch italienische Charakter besteht in der populistischen Antwort auf diese Wünsche und Bedürfnisse, in der Faszination für den starken Mann, den Macher, der auf den Tisch haut und gleichzeitig schöne Geschichten und Witze erzählen kann. Die italienische Version des starken Mannes hat nichts Übermenschliches, ganz im Gegenteil: Er wirkt sympathisch und wird geliebt wegen seiner Fähigkeit, sich als »einer von euch« darzustellen, ganz unabhängig davon, was er in Wirklichkeit ist oder vertritt. Grillo ist in diesem Sinne ein Produkt der früheren großen italienischen Anomalie: des Berlusconismus.
 

Grillo stellt die »Politikerkaste« als natürliche Feind des »einfachen Bürgers« dar. Jetzt ist die Bewegung, die mit dem »System« nichts gemein haben will, zur stärksten Partei im Parlament geworden. Ist das nicht eher das Gegenteil einer Krise der politischen Repräsentation?
Das ist einer der größten Widersprüche dieser Geschichte. In Grillos Erzählung werden die »normalen Bürger« als eine fast mystische Gemeinschaft imaginiert, die keine inneren Widersprüche kennt. Sie werden nur mit Tugenden wie Ehrlichkeit, Moralität und dem Interesse für das Gemeinwohl identifiziert. Der M5S hat seinen Ursprung zwar in der Politikverdrossenheit, aber Grillo hat es geschafft, einen Fetischismus der Wahl zu erzeugen, er hat die Wahlen in einen kathartischen Moment der Erneuerung für die gesamte Nation verwandelt.

Deshalb trifft die Bezeichnung »Antipolitik«, die oft für den M5S benutzt wird, nur bedingt. Vor zehn Jahren vertrat Grillo eine ganz andere Position, die aus der Globalisierungskritik stammte. Er nahm die multinationalen Konzerne ins Visier und behauptete, die Politik sei machtlos angesichts der Vorherrschaft der Ökonomie. »Was Sie im Supermarkt einkaufen, ist wichtiger als Ihr Kreuz auf dem Wahlzettel«, lautete die Botschaft seiner Bühnen-Shows in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends. Grillo hat sich nicht nur der globalisierungskritischen Rhetorik bedient.

Politisch ist er durch die Kampagnen etwa zum Thema der Gemeingüter bekannt geworden, und er hat sich sogar eine gewisse street credibility verdient, nachdem er sich an den Protesten der No-Tav-Bewegung beteiligt hatte.

Wie hat er es geschafft, sich die Themen, die Sprache und das Imaginäre der sozialen Bewegung anzueignen und daraus seine eigene Narration zu machen, die, wie ständig behauptet wird weder rechts noch links sei?
Grillo hat bestimmte Themen, die Ende der neunziger Jahren mehrheitsfähig geworden waren, aufgegriffen und sie in einen neuen diskursiven Zusammenhang gestellt. Er reduziert die Komplexität der sozialen und ökonomischen Verhältnisse auf die binäre Darstellung des Bürgers, der von der Macht schikaniert wird.

Wie kann man sich vor diesem Monster schützen?
Grillo bietet einfache Lösungen: ein bisschen Ökologie, eine Wirtschaft, die nach den Prinzipien des gesunden Menschenverstands funktionieren und die Interessen der Kleinen schützen soll, Partizipa­tion durch Vernetzung.

Viele Leute, die sich in der sehr heterogenen Welt der No-Global-Bewegung der neunziger Jahre politisiert haben, fühlten sich von diesen Themen angesprochen. Ich habe diese Rekontextualisierung linker Diskurse mit dem Begriff des frame von George Lakoff beschrieben. Klassenunterschiede, Kategorien wie rechts und links gehören in Grillos Narration zur »alten« Politik. So wie der Umgang mit der faschistischen Vergangenheit. Als ein Militanter der neofaschis­tischen Organisation Casa Pound ihn fragte, ob er sich als Antifaschist bezeichne, antwortete Grillo, Antifaschismus gehöre nicht zu seinen Kompetenzen und die Aufnahme ehemaliger neofaschistischen Militanter in den M5S sei kein Tabu, solange man in konkreten Programmpunkten übereinstimme. Abgesehen vom Business-Jargon, der hier unfreiwillig komisch wirkt, ist diese Aussage weniger als Beweis für den angeblichen faschistischen Charakter des M5S zu deuten, sondern eher als Beispiel des frame »weder rechts noch links«, das im Namen eines post­ideologischen Pragmatismus verwendet wird.

Der M5S gibt sich als eine radikale Bewegung, die keine Kompromisse mit der »Kaste« schließen wird. Wollen die »beliebigen Bürger« wirklich alle den Bruch mit dem alten System?
Ich vermute nicht, sie sind in Wirklichkeit viel gemäßigter als ihr brüllender Anführer. Unter den Wähler des M5S finden sich mehr Konservative, als man vermuten würde. Wie oft hat man den Satz gehört, Grillo sei nicht der Stilvollste, aber er nenne die Dinge beim Namen und sei ein Pragmatiker. Dieser Fetischismus der Effizienz ist ein wesentlicher Aspekt von Grillos Diskurs. Pragmatismus und Leck-mich-Rhetorik halten die Basis des M5S zusammen. Wie lange das gutgehen wird, hängt von der Fähigkeit des Anführers ab, diese beiden Seelen zu bedienen, wie bei jeder Bewegung mit einer starken Führung. Womit wir beim Führungsstil des Herrn Grillo wären.

Wie ist der M5S organisiert?
Die Gründungsprinzipien und die organisatorischen Infrastruktur des M5S sind im so genannten »Nicht-Statut« festgehalten, einem Dokument, das von Grillo und dem Web-Unternehmer Gianroberto Casaleggio verfasst worden ist. Die Bewegung hat keine Büroräume, in denen sich die Mitglieder treffen. Alles dreht sich um den Begriff der liquid democracy. Reale Treffen der Anhänger des M5S finden nur auf lokaler Ebene statt, ansonsten kommuniziert und organisiert man sich man auf dem sozialen Netzwerk Meetup. Während die Aktivisten auf ihrem Territorium mehr oder weniger frei sind, zu tun, was sie wollen, gibt es nur ein Organ, das berechtigt ist, für die gesamte Bewegung zu sprechen, und das ist die private Website von Beppe Grillo, die oft Blog genannt wird, allerdings nicht die offene Struktur eines Blogs aufweist. Niemandem wurde bisher erlaubt, eine offenere Kommunikationsform zu entwickeln. Im Wahlkampf wurde es den Kandidaten sogar verboten, sich an politische Talkshows zu beteiligen, nur kurze Interviews zu bestimmten Punkten des Programms wurden genehmigt. Die Auseinandersetzung mit Journalisten und politischen Gegnern ist somit wieder mit Hilfe der Rhetorik der »korrupten Kaste«, zu der auch die Medien gehören, geschickt vermieden worden. Faktisch ist Grillo der einzige, der zur Öffentlichkeit spricht, was jetzt nach der Wahl zu paradoxen Situationen führt: Obwohl nicht Grillo, sondern 150 Mitglieder des M5S ins Parlament eingezogen sind, bleibt er der einzige, der mit Gegnern oder potentiellen Verbündeten spricht und die Linie der Partei bestimmt.

Welche Rolle spielt Gianroberto Casaleggio für den M5S?
Er ist die perfekte Ergänzung zu Grillo, der der M5S eine Stimme, ein Gesicht, einen Körper gibt. Casaleggio, der als Experte für Webmarketing die Dynamik des Internet sehr gut kennt, verkauft die Marke. Er weiß zum Beispiel, dass im Gegensatz zu dem, was Grillo propagiert, das Web kein mystischer Ort der direkten Demokratie ist, in dem alle gleich sind und gleich zählen. Grillos digitaler Fetischismus benutzt das Netz als identi­täres Element, während jemand wie Casaleggio weiß, dass auch im Netz Macht- und Besitzverhältnisse sowie Hierarchien herrschen. Der M5S ist außerdem das perfekte Beispiel dafür, wie das kommunikative Modell des Fernsehens im Netz funktionieren kann: Die Kommunikation ist frontal, keine Interaktion ist vorgesehen, es gibt nur Zuschauer und Zuhörer. Als das Internet und die sozialen Netzwerke zu Massenphänomenen wurden, fing Grillo an, das Netz wie das Fernsehen zu benutzen. Dabei hat er sehr geschickt den Eindruck der Teilnahme erzeugt. Wissen Sie, wie der M5S die Kandidaten für die Parlamentswahlen ausgewählt hat?
Diese sollten ein kurzes Bewerbungsvideo auf Youtube hochladen, darüber wurde dann online abgestimmt. Ähnlich wie bei einer Casting- oder Reality-Show.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Grillo sei »die Fortsetzung von Berlusconi mit anderen Medien« .
Nein, ich schreibe, diese Beschreibung wäre zu einfach. Aber ich versuche zu analysieren, wie Grillo ohne das Fernsehen sowohl als Komiker als auch als Politiker kaum denkbar wäre. Auch dieser Mythos, dass Grillo nicht im Fernsehen auftritt, ist Teil des Images des einsamen Kämpfers gegen das System. Weil er und seine Kandi­daten sich keiner Debatte gestellt haben, wurden die Zuschauer von den Nachrichtensendern mit den Aufnahmen der »Tsunami-Tour« (so lautete der Titel von Grillos Wahlkampftournee durch Italien, Anm. d. Red.) regelrecht bombardiert, mit dem brüllenden Volkstribun und den mit jubelnden Zuschauern gefüllten Piazze. Grillo war im Fernsehen präsenter als jeder anderer Poli­tiker, mit Ausnahme vielleicht von Berlusconi. Insofern trifft auch die Bezeichnung »digitaler Po­pulist« für Grillo nicht ganz. Ich versuche, dieses Konzept möglichst neutral zu benutzen. In Grillos Fall ist Populismus kein Synonym für Faschismus. Ein Populist ist er eher in der lateinameri­kanischen Fassung des Begriffs.

Er hat einen Konsens um seine Person gebildet, Casaleggio hat ihm mit den Strategien des viral webmarketing geholfen. Gleichzeitig war Grillo alles andere als eine virtuell Figur: Er hat Plätze gefüllt und in seinen One-Man-Shows den Eindruck vermittelt, er gehe unter die Leute, er mische sich mit ihnen, er sei ein Teil von ihnen.

In Teilen der außerparlamentarischen Linken freut man sich über den Sieg des M5S, den man als Ausdruck der Ablehnung der europä­ischen Sparpolitik deutet. Sehen diese Leute Grillo als Boten des kommenden Aufstands?
Dass viele Leute Grillo gewählt haben, weil sie das vor den Wahlen erwartete Ergebnis einer gemäßigten, von Mario Montis Bündnis unterstützten Mitte-Links-Regierung vermeiden wollten, ist korrekt. Dass dies als ein Zeichen für eine vorrevolutionäre Situation in Italien interpretiert wird, zeigt, dass die radikale Linke den Grillismus nicht verstanden hat. Grillos Bewegung kanalisiert Wut, Frustrationen und Ängste, ohne das System und dessen Herrschaftsmechanismen radikal in Frage zu stellen.