Psychiatrie und Neurowissenschaften

Diagnose als Symptom

Die Psychiatrie wird immer neurotischer. Über das Verhältnis von »psyschischen Störungen« zu den Neurowissenschaften.

Der Sieg der biologischen Psychiatrie, wie er sich im Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen 5 (DSM-5) manifestiert, ist zugleich Symptom ihres Niedergangs. Allen Frances, der emeritierte Papst der Verhaltenswissenschaften, legt davon in seinem Buch »Normal« Zeugnis ab: Der Trend, den er als einer der Autoren des DSM-3 und -4 mit befördert hat, wird nach Maßgabe der pharmazeutischen Industrie ins Absurde getrieben, so dass Frances selbst nun zum Kritiker zu werden scheint. Dabei geht es dem bekannten US-Psychiater keineswegs um eine grundlegende Abrechnung. Vielmehr bemüht er sich, den bisherigen state of the art zu bewahren.
Die wohlfeile Kritik an der Aufnahme krankheitswertiger Trauer wenige Wochen nach dem Verlust unter dem Stichwort bereavement related disorder ist etwa so eine Sache: Die Angehörigen der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 mussten mit ihren Versicherungen um Zahlungen für Therapien und Medikamente kämpfen, weil ihre in vielen Fällen wirklich pathologisch verlaufene Trauer als »normal« klassifiziert wurde, da die Symptome so kurz nach dem Verlust auftraten. Um nichts anderes geht es im DSM: Diagnosen von »Störungen«, deren Therapie von den Versicherungen gezahlt wird.
Die Ausweitung von Diagnosen und ihre Umgruppierung anhand »objektiver« Kriterien, die in den meisten Fällen nichts anderes beinhalten als die nochmalige Binnendifferenzierung schon vorhandener Diagnosen, das ist das DSM-5 – und all das nur, um die Ratlosigkeit der Psychiatrie zu kaschieren. In über 40 Jahren Forschung ist es nämlich nicht gelungen, auch nur einen biologischen Marker für psychisches Leiden zu finden. Weder Gene noch Hormone, weder Hirnaktivitäten noch sonst irgendwelche Befunde lieferten Beweise dafür, dass eine bestimmte biologische Ursache für eine bestimmte »Störung« existiert. Man könnte in Hinblick auf die Psychiatrie geradezu von einer pure obsessional-compulsive disorder – einer reinen Zwangsvorstellung – sprechen. Frances versucht zu retten, was zu retten ist, dabei ist das DSM-5 nur die Konsequenz aus der völligen Beliebigkeit, die aus der monokausalen Selbstbeschränkung der psychiatrischen Forschung und ihrer Abhängigkeit von den Pharmafirmen erwachsen ist. Jede Neurose tendiert zum Mehr desselben.

Die Ausweitung der Diagnosen und Kriterien für psychische »Störungen«, wie das seelische Leid wissenschaftlich genannt wird, mag empörend sein, sie spiegelt sich aber im allgemein gewordenen Gesundheitswahn wider – die permanente psychische Mobilmachung findet im DSM-5 seine Entsprechung. Die Befürchtung, das neue Manual könnte einen Anstieg der Diagnosen auslösen, verkehrt Ursache und Wirkung – und verschweigt das Bedürfnis vieler Menschen nach einer psychiatrischen Diagnose mit biologischer Begründung. Eine solche wirkt nämlich ungemein entlastend. Zunächst aber werden die unbestimmten Diagnosen weniger werden. Die häufigste von ihnen war in den USA zuletzt die »nicht weiter klassifizierte Persönlichkeitsstörung«, die aufgrund einer Vielzahl von Fällen vergeben wurde, in denen nur einzelne Kriterien auf die Patienten zutrafen. Ausgerechnet diese Gruppe von Diagnosen wurde nun aber mit Kriterien wie »Selbsterleben« und »Beziehungen« zu bedeutsamen anderen ergänzt – mit Termini also, die der psychoanalytischen Tradition entstammen.

Anders wusste man sich offenbar nicht mehr zu helfen, nachdem vor allem die Komorbidität, das gleichzeitige Auftreten mehrerer psychischer »Störungen«, zu einem Problem geworden ist. Nicht zuletzt aber ist die Ausweitung des Störungskonzepts auf alle möglichen Verhaltensweisen, die nicht einer wie auch immer definierten Norm entsprechen und als Fehlanpassungen oder dysfunktional begriffen werden, ein Anzeichen für den Zerfall von Klassifikationssystemen, die an ihrem eigenen Anspruch, objektiv zu sein, scheitern. Es geht bei der Differenzierung noch der geringfügigsten Störung schließlich um nichts anderes, als endlich Heilungserfolge vorzeigen zu können. Die kleinteiligere Diagnostik wird dazu führen, dass einzelne Symptome, gerade weil sie für sich genommen bedeutungslos sind, ganz evidenzbasiert geheilt werden.
Zugleich aber trägt die biologische Psychiatrie damit ungewollt dem Gedanken Sigmund Freuds Rechnung, dass die Grenze zwischen Normalem und Pathologischem fließend ist, dass vielmehr so etwas wie Normalität erklärungsbedürftig ist. Das psychoanalytische Verständnis von Leidenszuständen, die in der eigenen Geschichte begründet sind, fordert das Denken und die Zeit dazu. Das DSM-V ist ein Dokument der Spaltungen, die das Denken verhindern sollen, die Spaltungen aber sind so zahlreich, dass sich eine Notwendigkeit zum Denken aufdrängt – das zeigen sowohl die öffentliche als auch die fachinterne Debatte. Die paradoxe Logik des DSM, dem Unbewussten Herr zu werden, indem man das Denken, also den bewussten Zugang zum Leid, gleich ganz aufgibt, passt zu einer Epoche, in der jedes die Leistungsfähigkeit der Einzelnen auch nur im geringsten infrage stellende Missbehagen nach einer Diagnose verlangt.