Über den Roman »Wittgensteins Mätresse«

Die Kuratorin der Welt

Kritiker liebten ihn, anderen war er schlichtweg zu kompliziert. Nun ist David Marksons Roman »Wittgensteins Mätresse« endlich auf Deutsch erschienen.

Wenn nicht ein Gottesgericht die Menschheit für ihren Hochmut bestraft, werden die Wucherungen der Zivi­lisation dafür sorgen, dass die Welt brutaler und hässlicher wird. Pandemien, Klimakatastrophen, nukleare und biologische Waffen – eingesetzt von Maschinen, die einen Krieg gegen ihre Erfinder führen. Menschen bauen Häuser zu Festungen aus, kämpfen ums Überleben, in ABC-Schutzanzügen oder archaischen Kriegerrüstungen. Und mittendrin Tina Turner, in einem motorisierten Streitwagen über das Ödland jenseits der Donnerkuppel bretternd, bis auch dem letzten Kämpfer Sprit und Wasser ausgegangen sind. Irgendwo in ferner Vergangenheit herrschte eine Ordnung gelungenen Zusammenlebens, jetzt regiert das unerbittliche Recht des Stärkeren. So oder so ähnlich stellt sie sich gemeinhin dar, die gute alte Endzeit.
Doch das postapokalyptische Szenario des Romans »Wittgensteins Mätresse«, der zuerst 1988 in den USA erschien, sieht anders aus und ist von derlei grellen Science-Fiction-Visionen deutlich weiter entfernt als vom Werk Samuel Becketts. Formal, inhaltlich und sicherlich auch den kommerziellen Erfolg betreffend. Inwieweit können wir Kate, der Malerin und zerstreuten Hauptfigur des Romans, und ihrer bruchstückhaften Beschreibung einer menschen- und sinnentleerten Welt auch nur ansatzweise trauen? Sie behauptet jedenfalls, die letzte lebende Person auf diesem Planeten zu sein. Plötzlich waren alle verschwunden und hinterließen ihr eine leblose, im Gegensatz zu vielen Endzeitvorstellungen jedoch nicht in vollständiger Zerstörung begriffene Welt der Artefakte. Kate begibt sich auf die Suche nach Menschen, richtet sich auf ihrer Reise durch Europa und Russland in Kunstmuseen ein, wohnt im Metropolitan Museum, im Louvre und in der Tate Gallery, bis sie schließlich in einem Strandhaus dauerhaft Unterschlupf findet. Aber hat die Apokalypse tatsächlich stattgefunden oder ist Kates Wahrnehmung verrückt, ist sie über dem Tod ihres kleinen Sohnes irre geworden?
David Markson hatte sein Buch bereits 1983 fertiggestellt. Allein, die Verlage zeigten sich desinteressiert an Marksons eigentümlicher Erzählweise. 54 Ablehnungen musste er für »Wittgensteins Mätresse« hinnehmen, bis endlich ein Verlag anbiss. Hatte Markson, nicht zuletzt aus finanziellen Erwägungen heraus, anfangs Thriller, Drehbücher und Westerngeschichten für Magazine geschrieben und herausgegeben, wandte er sich mit diesem Roman von klassischen Erzähltechniken ab und schuf einen Stil, der auch seine nachfolgenden Bücher dominieren sollte. Literarische Anspielungen reihen sich an biographische Anekdoten, im Mittelpunkt steht eine einzelne Erzählerstimme.
Kate notiert: »Jackson Pollock ist mit seinem Auto in einen Baum gekracht, von dem Ort, wo ich in diesem Augenblick sitze, nicht mehr als zehn Minuten mit dem Lieferwagen entfernt, am elften August 1956./Ich vergesse Pollocks Geburtstag, andererseits. Obwohl es zweifellos nichts ist, was ich je wusste./Ich habe auch Renoirs Arthritis vergessen./Meine eigene Schulter hat mir überhaupt keine Probleme bereitet in letzter Zeit. Allerdings./Gaugin war noch ein Maler, der Syphilis hatte.« Knapp 300 Seiten lang stellt Kate so unter Beweis, dass sie im Laufe der Jahre ihres (gefühlten) Alleinseins offensichtlich die Fähigkeit eingebüßt hat, eine kohärente Geschichte zu erzählen. Wem sollte sie auch davon berichten, dass nichts mehr passiert? Wer sollte die Geschichte lesen? Die Niederschrift ihrer Gedanken ist der Versuch, geistig aktiv zu bleiben, eine Form der Selbstvergewisserung, um nicht gänzlich den Verstand zu verlieren.
Marksons umfangreiches Werk kreist um Künstler, um Musiker und Schriftsteller, die sich in einer krisenhaften Situation befinden. So folgen wir auch Kate durch eine endlose Gedankenschleife, alles wiederholt sich, wird ein weiteres Mal wiedergekäut und ziellos vergrübelt. Insbesondere ihre persönliche Geschichte, der Tod ihres Sohnes, wird ihr zur Last und treibt sie in die Depression. Um sich abzulenken, dem Strudel schmerzlicher Erfahrungen zu entkommen, bringt sie das kollektive Gedächtnis gegen ihr privates in Stellung. Das ist ihre Strategie.
»Wittgensteins Mätresse« ist voller Anspielungen in alle Richtungen und Zeiten, Kate verstrickt sich in Bezüge auf kunsthistorische Figuren und ihre Schöpfer, das griechische Drama, Philosophen, Schriftsteller und die Verbindungen zwischen all dem. Wo es keine Beziehungen gibt, stellt sie selber welche her, kombiniert Unzusammenhängendes, schreibt auf, korrigiert sich, erinnert historische Tatsachen in unzähligen Anläufen auf unterschiedliche Weise. Indem sie die Geister der Vergangenheit lebendig hält, mit ihnen in Kontakt tritt, schreibt sie die kollektive Erinnerung zu ihrer eigenen um.
Markson sagte in einem Interview einmal, dass er William Gaddis’ »The Recognitions« für den wichtigsten amerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts halte. Während Gaddis einen genialen Kunstfälscher Fragen von Echtheit, Originalität und Repräsentation aufwerfen lässt, hat Markson der Hauptfigur von »Wittgensteins Mätresse« eine Vorliebe für Spiegel, Gemälde und intellektuelle Abbilder der Welt verliehen. Obwohl sich Kate sicher ist, dass Sprache die Welt repräsentiert, gehört zu den wenigen Dingen, an denen sie festhält, dass jede künstlerische Ausdrucksform, die Sprache generell, ihre Grenzen hat. Zusehends verwischt die Unterscheidung zwischen dem, was sie gesehen, was sich tatsächlich ereignet hat, und den Dingen, die nur ihrer Einbildung entsprungen sind. Tatsachen und deren Repräsentationen auseinanderzuhalten, ist in ihrem Leben als einziger Mensch auf dem Planeten unerheblich geworden.
»Marksons Buch gelingt es, einfallsreich &  konkret die überaus trübe mathematische Welt wiederzugeben, die von Wittgensteins Tractatus revolutioniert wurde«, schreibt David Foster Wallace in seinem Essay »Das leere Plenum« (1998), der der deutschen Übersetzung von »Wittgensteins Mätresse« beigefügt ist. Markson habe Ludwig Wittgensteins Ideen Leben eingehaucht, die Mätresse belebe eine Welt, wie sie der »Tractatus logico-philosophicus« denkt. »Was ich damit sagen möchte, ist dies: dass Markson, indem er sich auf eine zwingende atomistische Metaphysik bezieht & sie in Kunst verwandelt, so etwas wie das definitive Anti-Melodram geschaffen hat. Er hat die Fakten traurig gemacht. Denn Kates Dasein ist das des atomischen Fakts, ihre Einsamkeit metaphysisch ultimativ. Ihre Welt ist ›leer‹, sprich entleert von allem außer Daten, die wie die Löcher in einem Netzmuster sind, definiert & eingesperrt von den epistemologischen Fäden, die einzig und allein sie selbst weben kann, wie sie weiß.«
David Markson ist heute vor allem dafür bekannt, zeit seines Lebens unterschätzt und unbekannt gewesen zu sein. »Wittgensteins Mätresse« gilt als sein wichtigstes Werk, es brachte ihm Ende der achtziger Jahre zumindest in Kritikerkreisen eine Anerkennung ein, auf die er Jahrzehnte warten musste. Marksons letzter Roman, »The Last Novel«, erschien 2007 in den USA, er starb 2010 im Alter von 82 Jahren in New York.

David Markson: Wittgensteins Mätresse. Aus dem amerikanischen Englisch von Sissi Tax. Berlin-Verlag 2013, 336 Seiten, 22,99 Euro