Über den Film »Die wilde Zeit« von Olivier Assayas

Die Syntax des Mai

Olivier Assayas rekonstruiert in seinem Film »Die wilde Zeit« den Aufbruch der Jugend Anfang der siebziger Jahre in Paris.

Wie positionierst du dich? Konkret wird diese Frage im Film zwar nur ein einziges Mal gestellt, implizit geht es jedoch unablässig darum. »Die wilde Zeit« handelt von selbstpositionierungsgestressten Jugendlichen in der Zeit des Nachwirkens des Pariser Mai 1968. Der französische Regisseur Olivier Assayas weist den Film ganz offen als autobiographisch aus, schon in dem in Briefform verfassten, inzwischen auf Englisch publizierten Text »A Post-May Adolescence. Letter To Alice Debord« hat er sehr persönlich über die Erschütterungen in der Zeit nach dem Mai geschrieben. (Dass der deutsche Verleih den Originaltitel »Après Mai« für nicht übersetzbar erachtet, sagt einiges über das verwaschene Geschichtsbild in diesem Land und darüber aus, was man dem Kinopublikum an politischem Verständnis zutraut).
Als Nachfolger der gescheiterten Revolution versuchen der Gymnasiast Gilles (Clément Métayer) – so etwas wie Assayas’ Alter Ego – und seine politisch radikalisierten Mitstreiter und Mistreiterinnen Anfang der siebziger Jahre die begonnenen, aber nicht beendeten Kämpfe fortzusetzen. Sie verteilen alternative Zeitungen, organisieren Streiks, drucken Plakate, liefern sich Straßenkämpfe mit Spezialeinheiten der Polizei und debattieren. Das Alltagsleben ist vollständig politisiert: Bei jedem Spaziergang im Grünen wird zumindest eine unabhängige linke Zeitung verteilt, jedes Liebesverhältnis wird zum diskurspolitischen Terrain.
Wie schon der verwandte, ebenfalls von Assayas’ eigenen Erfahrungen geprägte Film »L’eau froide« (1994) erzählt auch »Die wilde Zeit« von Initiationen, von Verwirrungen, Identitätskrisen und Selbstfindungen. Doch was Assayas im Frühwerk zugunsten einer eher poetisierten Darstellung von Dissidenz bewusst offenlässt und in eine skizzenartige Erzählform voller Ellipsen und Brüche übersetzt, wird nun zeitspezifisch konkretisiert. Die Perspektive ist jetzt sowohl distanzierter als auch weiter, fast panoramatisch: Weitgehend frei von nostalgischem Sentiment, richtet sie sich gleichermaßen auf die Figuren wie auch auf ihre identitätsstiftenden (pop-)kulturellen Objekte. Assayas erschließt die siebziger Jahre detailgenau, mitunter vielleicht ein wenig zu explizit im Gestus des Zeigens, über Bücher, Kleidung, Musik (Syd Barrett, Captain Beefheart, The Incredible String Band etc.) und Graphikdesign (etwa von Zeitungen, Plattencovern, Flugblättern und Plakaten).
Die Figuren bleiben weitgehend opak. Assayas geht es eher um das Einfangen von Leben, Gesten und Blicken, Sprechweisen (auch die automatisierte Rhetorik der dogmatischen Linken), um die Atmosphäre von Anarchie, Radikalität und Erneuerung und schließlich das Auseinanderdriften der Lebensentwürfe zwischen politischer Filmarbeit, Parties, Drogen und militantem Untergrund. In einem ideologisch rauer werdenden Klima unter Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten und solchen, die sich nirgends zugehörig fühlen, findet sich Gilles, der inzwischen ein Kunststudium begonnen hat, in den Reihen der unorganisierten Radikalen wieder – desillusioniert und einsam. Zu seiner éducation gehört auch die Liebe zu zwei sehr unterschiedlichen Frauen: Laure (Carole Combes) wählt den Rausch und den freien künstlerischen Ausdruck; Christine (Lola Créton) schließt sich einem politischen Filmkollektiv an. Gilles hat seinen Platz nicht gefunden und leidet darunter. In London landet er als Praktikant für eine B-Movie-Produktion mit Sauriern und Nazis bei den Pinewood-Studios. Eine Art Rettung verspricht schließlich die Begegnung mit den Schriften der Situationisten Guy Debords.
Zentral für die Evokation von Gegenwart ist in »Die wilde Zeit« die Bewegung. Eine nächtliche Sprayer-Aktion inszeniert Assayas als eine genau getaktete, fast choreographische Abfolge vertikaler und horizontaler Bewegungen. Dabei fängt die dynamische Kamera von Éric Gautier das Geschehen unmittelbar ein, ohne mit Authentizität und Dabeisein anzugeben. So ist die Steadycam auch bei einer Demonstrationsszene mittendrin, folgt Bewegungen in die verschiedenen Richtungen und aus den verschiedenen Perspektiven. Es entsteht eine zwar dichte, aber doch richtungsoffene Montage aus anrückenden Polizeiwagen, flüchtenden Demonstranten und Demonstrantinnen und verfolgenden gewalttätigen Polizisten. Aber auch Parties und kollektives Herumhängen im Freien versprechen kein Innehalten. Eine extensive Party in einem feudalen Landhaus entwickelt sich zum lyrischen Bewegungskino. Daneben erweitert sich auch der Bewegungsradius. Nach dem Anschlag auf einen Wachmann der Schule reist die Gruppe um Gilles nach Italien, andere ziehen weiter, fahren nach Indien oder Kabul und bringen ihre Erfahrungen auf Super-8-Bildern mit.
Die Sprache ist ebenso Bewegung und Aktion. Als Gilles und seine Freunde mit der Arbeit eines politischen Filmkollektivs in Kontakt kommen, gerät eine Dokumentation über den politischen Widerstand in Laos ins Kreuzfeuer der Stilkritik. Doch gegenüber der Frage, ob ein revolutionäres Thema nicht eine »revolutionäre Syntax« verlange, verteidigen sich die Filmemacher mit einer argumentativen Keule: »Ist nicht die revolutionäre Syntax im Grunde nichts anderes als der individualistische Stil des Kleinbürgertums?« Später äußert Gilles eine vernichtende Kritik an »El coraje del pueblo« (1971) von Jorge Sanjinés, einem der bekanntesten Protagonisten des militanten politischen Kinos in Lateinamerika. Indirekt distanziert sich Assayas damit auch von der Konventionalität eines politischen Kinos, das sich in der Abbildung sozialer Missstände erschöpft.
Eher diskursfrei verhandelt Assayas allerdings die Bildende Kunst. So üben Gilles und sein Freund Alain, auch er ein angehender Maler, klassisches (Akt-)Zeichnen, ihre Motive sind die Ruinen von Pompeji und ihre Freundinnen. Das Atelier wiederum inszeniert Assayas ganz unsituationistisch als vom Politischen gänzlich abgespalten, ein Raum der Innerlichkeit und Privatheit, den es vor den gesellschaftlichen Kämpfen zu schützen gilt. Doch selbst in diesen schwächeren Momenten ist »Die wilde Zeit« immer noch unendlich viel intelligenter und lebendiger als alles, was das so spießige wie politisch verblödete deutsche Historienkino üblicherweise anbietet.
Von der Aufgewühltheit der Figuren, ihrer Desorientierung und ihrer Suche nach einem ihnen eigenen Ausdruck wird der Film selbst nicht affiziert; Assayas spricht hier trotz aller Emphase für »gelebte Erfahrung« doch eher aus der Position des Historiographen. Aber trotz des retrospektiven Blicks dringt in »Die wilde Zeit« immer wieder auch die reine Gegenwart ein – wenn Assayas etwa die Gesichter und Gesten seiner jugendlichen Darsteller und Darstellerinnen erforscht und der Film dabei auch zu einem Porträt ihrer selbst wird. Und ganz am Schluss wird »Die wilde Zeit« auch stilistisch aufgebrochen: Als Gilles im Kino einen Experimentalfilm sieht, endet der Film in einer Synthese aus Farben, Unschärfen und wechselnden Perspektiven – eine psychedelische Antwort auf die »revolutionäre Syntax«.

Die wilde Zeit (F 2012). Regie: Olivier Assayas. Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Carole Combes. Start: 30. Mai