Nahad Ul-Quasem Orchid im Gespräch über Arbeitsbedingungen und Katastrophen in Bangladesh

»Massenmord an Arbeitern«

Der Einsturz eines Gebäudes mit mehreren Textilfabriken in Savar nahe Dhaka am 24. April kostete mehr als 1 100 Menschen das Leben und zog in Bangladesh Proteste gegen die Verantwortlichen des Unglücks und gegen korrupte Politiker nach sich. Inzwischen haben internationale Textilunternehmen Abkommen für mehr Arbeitssicherheit unterzeichnet (siehe auch Seite 15). Zwei Tage lang beteiligte sich auch Nahad Ul-Quasem Orchid spontan an den Bergungsarbeiten, als er von dem Einsturz hörte. Der 29jährige hat einen Abschluss in Katastrophenmanagement der Dhaka University und setzt sich unter anderem in Kampagnen wie »One Billion Rising« und Filmprojekten für einen gesellschaftlichen Wandel in Bangladesh ein. Mit ihm sprach die Jungle World über die Gründe für das Unglück und die Reaktionen in Bangladesh.

Wie ist die derzeit die gesellschaftliche Lage in Bangladesh?
2013 geht es sozial und politisch sehr turbulent zu, ökonomisch sieht es im Vergleich dazu noch heiter aus. Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht gespalten, die größten Gegensätze sind die zwischen Stadt und Land, bei der Verteilung des Reichtums und kulturelle und religiöse Konflikte. Unsere Familien und sozialen Beziehungen werden durch diese Spaltungen bestimmt, die so tief sind, dass wir lieber nicht die Ursachen für Konflikte angehen, sondern versuchen, etwas durch oberflächliche Alternativen zu erreichen.
Es gibt grundlegende Probleme, die seit der Unabhängigkeit 1971 nicht richtig gelöst wurden. Irgendwie müssen die Leute diese längst überfälligen Debatten 2013 führen. Die extreme soziale Ungleichheit und daraus resultierende Probleme erhalten heute mehr Aufmerksamkeit seitens der privilegierten urbanen Intellektuellen. Zwei Dekaden lang haben wir eine Entpolitisierung der Jugend beobachtet, seit 1990 die Militärherrschaft von Hussain Muhammad Ershad durch eine studentisch-bürgerliche Bewegung beendet wurde. Diese Entpolitisierung einer ganzen Generation führte zu einem Vakuum in der politischen Führung. Der Mangel an demokratischer Praxis in jeglicher sozialen und politischen Institution in unserem Land wurde durch das Fehlen qualifizierter junger Leute verschlimmert, die sich politisch betätigen wollen. Heute bezeichnen sich junge Menschen gerne als »Parteipolitik-Hasser«. Die Ironie daran ist, obwohl wir die Korruption der Parteipolitiker hassen, suchen wir nicht nach einer besseren Alternative. Um das Problem einer schlechten politischen Kultur und Praxis zu lösen, setzt die Jugend heute auf »apolitische« Prozesse und die Zivilgesellschaft.
Welche Rolle spielten die gesellschaftlichen Konflikte beim Gebäudeeinsturz am 24. April?
Der Teil der Gesellschaft, der Entscheidungen trifft, Ressourcen verteilt und die Aufgabe hat, das Risiko für seine Beschäftigten zu reduzieren, scherte sich nicht viel um deren Leben. Arbeitssicherheit herzustellen wären nicht besonders teuer, das wissen die Verantwortlichen. Aber es ist ihnen nicht wichtig genug, weil sie immer mit ihrer Nachlässigkeit davon kommen werden, indem sie ihre politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss einsetzen.
Korruption auf verschiedenen Ebenen spielte eine Rolle bei dem Einsturz. Die Politiker der beiden größten Parteien, sowohl von der Regierung als auch der Opposition, werden von reichen Fabrikbesitzern unterstützt. Die Politiker sind also in einem Netz von Interessen gefangen – denen der Arbeiter und denen der Unternehmer –, während sie politische Entscheidungen im Parlament treffen. Der Spielraum der Arbeiter ist aber nicht sehr groß, sie haben keine gemeinsame Vertretung.
Wie lief das konkret in diesem Fall?
Der Besitzer dieses Gebäudes, Sohel Rana, war ein Komplize des lokalen Abgeordneten Murad Jong von der Regierungspartei. Rana hatte jahrelang versucht, seinen Bauplan für ein vierstöckiges Gebäude durchzusetzen. Er wurde mehrmals wegen struktureller Probleme von den lokalen Behörden abgelehnt. Erst nachdem Rana seinen Einfluss auf den befreundeten Abgeordneten ausgenutzt hatte, erhielt er die Erlaubnis, auf einem ehemaligen Sumpfgebiet zu bauen, das für die Bebauung unzureichend aufgeschüttet worden war. Und nach der Genehmigung der vier Stockwerke baute er einfach nach demselben Plan acht Stockwerke. Nun fanden Experten heraus, dass in den oberen Stockwerken viel zu dünne Stahlstreben verwendet wurden.
Obwohl einen Tag vor dem Unglück Risse im Gebäude entdeckt worden waren, holte Rana einen lokalen Beamten, um bestätigen zu lassen, dass das Gebäude für die normale Arbeit sicher sei. Dieser Beamte verfügte über keine technische Kompetenz, um derlei Sicherheitsfragen zu beurteilen. Dann entschieden sich der Gebäudebesitzer und die sechs Besitzer der ansässigen Textilunternehmen, alle Beschäftigten zurückzurufen, die einen Tag zuvor wegen Sicherheitsmängeln weggeschickt worden waren, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht behoben waren. An dieser Stelle kann ich keine andere Bezeichnung für diesen Vorfall finden als: Massenmord an Arbeitern! Die im gleichen Gebäude befindliche Filiale einer großen Bank blieb aus Sicherheitsgründen an dem Tag geschlossen. Im herrschenden System sind die Leben von Bankangestellten also offenbar mehr wert als die von Beschäftigten einer Textilfabrik.
Wie wurde auf das Unglück reagiert?
Die erste unmittelbare Reaktion vieler Menschen auf den Vorfall war es, sich an den Bergungsarbeiten zu beteiligen, mit allen Ressourcen, die ihnen als Individuum oder Gruppe zur Verfügung standen. In der zweiten Phase wurden dann Proteste vor dem Gebäude des Verbandes der Textilproduzenten und -exporteure Bangladeshs (BGMEA) abgehalten.
Das Parlament erweiterte das Arbeitsgesetz um eine Klausel, die das Recht der Arbeiter festschreibt, eine Gewerkschaft zu gründen. Zuvor war dies nur möglich, wenn der Arbeitgeber dies erlaubte. Das führte de facto dazu, dass Gewerkschaften in vielen Fabriken nicht existieren, weil die Besitzer ihre Gründung verbieten.
Wie gehen Politiker und Unternehmer mit Gewerkschaften um?
Politiker müssen sich mit den Gewerkschaften auf keiner Ebene auseinandersetzen. Es gibt ausgesuchte Arbeiterführer, die im Fall von Arbeiter­unruhen als Vermittler in bestimmten Regionen dienen. Diese Führer sind auch der einen oder anderen größeren politischen Partei angeschlossen. Letztlich folgt die Verhandlung den Interessen des Arbeitgebers, denn die Unternehmer verfügen über ein gutes Netzwerk und werden von allen größeren Parteien unterstützt.
Bangladesh hat verschiedene internationale Arbeitsrechtsabkommen unterzeichnet. Warum werden sie nicht eingehalten?
Bis heute hat Bangladesh 33 Abkommen der International Labour Organisation (ILO) unterzeichnet, darunter sieben grundlegende Abkommen, wie sie die Erklärung der ILO einschließt. Ein anderes unterzeichnetes internationales Abkommen ist dasjenige über Arbeitssicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz von 1981. Diese Verträge und Abkommen beinhalten, dass in allen Fabriken und Büros minimale Arbeitsplatzsicherheit gewährleistet wird. Aber das Problem liegt in der Durchsetzung dieser internationalen Gesetze. Bangladesh hat keine ausreichende Anzahl an Industrieinspektoren, keine Institution mit ausreichender Kapazität, um den riesigen Industriesektor zu überwachen und diese Arbeitsrechte durchzusetzen.
Welche Schuld tragen die ausländischen Auftraggeber an den schlechten Arbeitsbedingungen und derartigen Unglücken wie in Savar?
Es ist nicht die Aufgabe der Endverbraucher, sicherzustellen, dass die Textilien aus verantwortungsvoller Produktion stammen. Das liegt in der Verantwortung der Unternehmen, die mit den RMG-Fabriken (Ready-made Garments, Konfektionskleidung, Anm. d. Red.) in Bangladesh Geschäfte machen, als Wettbewerber um qualitativ hochwertige, aber billige Kleidung. Die Wettbewerbsfähigkeit des RMG-Sektors in Bangladesh hängt vor allem von billiger Arbeitskraft ab, was das Leben dieser Arbeiter einem hohen Risiko aussetzt. In der Praxis wird unzureichend gegen Verstöße gegen das Arbeitsrecht vorgegangen, und es fällt zugunsten der Arbeitgeber aus. Im Land gibt es einen Überfluss an ungelernten Arbeitern, die immer bereit sind, Arbeit zu jeglichen Bedingungen anzunehmen.
Was kann man für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen tun?
Meine Aufgabe beschränkt sich darauf, Leute zu Protesten zu mobilisieren, Texte für das Recht auf einen sichereren Arbeitsplatz zu schreiben und das Problembewusstsein innerhalb meines internationalen Netzwerks an Freunden und Bekannten zu schärfen, damit sie das Thema auf ihre jeweilige nationale Tagesordnung bringen; es geht um eine globale Kampagne für die Sicherheit von Beschäftigten.
Letztlich wird billige und stets verfügbare Arbeitskraft weltweit an Bedeutung verlieren. Daher sollten die Unternehmen eine nachhaltige Basis für Produktivität entwickeln. Sie sollen lieber langfristig in ein besseres Management der Wertschöpfungskette investieren als in Schadensbegrenzung nach der Beeinträchtigung von Arbeiterleben.
Von der Regierung fordere ich, dass sie Arbeitsgesetze besser durchsetzt und gegen deren Missachtung vorgeht. Sie soll Gewerkschaftsgründungen gewährleisten und diese unterstützen sowie die Rechte der Beschäftigten gegen Ausbeutung durch monopolistische Fabrikbesitzer schützen. Konflikte soll sie aus ihrem Mandat heraus, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, lösen und diese über persönliche Gewinne stellen.
Über 30 internationale Textilunternehmen haben bis zum Ablauf einer Frist am 15. Mai verbindliche Abkommen zu den Themen Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesh unterschrieben. Was halten Sie von dieser jüngsten Vertragsunterzeichnung?
Die Details kenne ich nicht, aber es ist ein willkommener Schritt der großen Unternehmen. Es zeigt, dass die Frage »Profit oder Menschenleben« ernst genommen wird.

Aus dem Englischen von Nicole Tomasek