Über Zinsen in der Versicherungswirtschaft

Verschwende deine Rente

Die Versicherungsbranche klagt über niedrige Zinsen, weil sie ihre Renditeerwartungen schwächen.

In den Vorstandsetagen der Versicherungskonzerne dürften die Champagnerkorken geknallt haben. Das hätten die Manager selbst nicht besser hinbekommen können, ihr wichtigster Gegner auf Seiten der Verbraucherschützer ist von seinen eigenen Leuten abserviert worden. Ende März hat der sozialdemokratisch dominierte Aufsichtsrat des Bundes der Versicherten, mit 50 000 Mitgliedern die größte Verbraucherschutzorganisation in diesem Bereich, den Vorstandsvorsitzenden Axel Kleinlein aus dem Amt gejagt. Zurzeit wollen Kleinlein und seine Mitstreiter die Einberufung einer außerordentlichen Mitgliederversammlung erwirken, damit er zurückkehren kann. Als versierter Versicherungsmathematiker ist Kleinlein, der Mitglied bei den Grünen ist, einer der besten Kenner und schärfsten Kritiker der Branche. Sein Ausscheiden hat das Lager der Verbraucherschützer erheblich geschwächt.
Wiederkehrende interne Querelen sind ein Grund, warum die Lobby für Kunden der Assekuranz so schwach und die Versicherungswirtschaft in Deutschland so stark ist. Die Branche ist mächtig, sie hat viel Geld. Allein 2012 hat sie mehr als 180 Milliarden Euro an Prämien kassiert und Kapitalanlagen von mehr als 1 325 Milliarden Euro verwaltet, das ist mehr das vierfache Volumen des Bundeshaushalts. Die Lobbyisten der Versicherungswirtschaft wissen ihre Interessen in der Berliner Politik bestens durchzusetzen.
Das für sie interessanteste Geschäftsfeld ist die Altersvorsorge, das die Lebensversicherer betreiben. In anderen Sparten wie dem Rechtsschutz sind die Märkte gesättigt, mit der privaten Rentenversicherung können die Anbieter aber bislang Schätze heben – nämlich die, die sich noch in den Händen der gesetzlichen Rentenversicherung befinden. Deshalb verpassen die Manager keine Gelegenheit, die gesetzliche Rente schlechtzureden und die Überlegenheit der privaten Altersvorsorge zu predigen. Das ist gar nicht so schwer, denn die Politik treibt die Verbraucher in die Arme der Assekuranz. Tatsächlich werden die gesetzlichen Renten nicht zuletzt infolge der rot-grünen Rentenreform von 2001 für die meisten Menschen schon bald nicht mehr zum Leben reichen. Der damalige Arbeitsminister Walter Riester (SPD), nach dem die staatliche geförderte Privatrente benannt ist, ist heute Maskottchen der Finanzbranche und hat als Werbeträger für sie fürstlich verdient. Viele Politiker sind der Versicherungswirtschaft über Mitgliedschaften in Aufsichts- oder Beiräten verbunden.

Die Branche ist politisch und wirtschaftlich in einer so komfortablen Lage, dass sie die derzeit zutage tretenden Schwächen ihres Geschäftsmodells nutzen kann, um Änderungen zu ihren Gunsten und zu Lasten ihrer Kunden durchzusetzen. »Wir sind permanent im Krisenmodus«, ­zitiert die Wirtschaftswoche ein ungenanntes Vorstandsmitglied. Die anhaltende Niedrigzinsphase sorgt für Unruhe in der Branche, denn sie schmälert die hochgesteckten Renditeerwartungen. Anfang Mai hat die Europäische Zentralbank den Leitzins nochmals herabgesetzt, von 0,75 Prozent auf 0,5 Prozent. Die Versicherer erwirtschaften mit ihren gigantischen Kapitalanlagen bei niedrigen Zinsen weniger Gewinn als bei hohen. Der Deutsche Aktienindex hat zwar vor kurzem ein Allzeithoch erreicht, die deutschen Lebensversicherer dürfen aber nur einen Teil ihrer Kapitalanlagen in Aktien anlegen, bis zu 30 Prozent. Den Rest müssen sie in sichere Investments stecken. Sie investieren zurzeit 90 Prozent in sichere festverzinsliche Wertpapiere, den vorhandenen Spielraum nutzen sie also nicht. Laufen alte Papiere aus, können die Unternehmen das Geld nur zu schlechteren Konditionen neu anlegen. Die Manager klagen zudem darüber, dass Kunden mit älteren Verträgen ein Recht auf die Verzinsung ihrer Einlagen in einer Höhe haben, die über den am sicheren Kapitalmarkt zu erzielenden Erträgen liegt. Denn wer einen Vertrag abschließt, bekommt eine sogenannte Garantieverzinsung zugesichert, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses festgelegt wird. Die maximale Höhe bestimmt das Bundesfinanzministerium. Zu Beginn der neunziger Jahre lag die Garantierverzinsung bei vier Prozent, derzeit liegt sie bei 1,75 Prozent. Die Manager haben allerdings keinen Grund zu klagen. »Der Branche geht es gut«, sagt Kleinlein. Die in den vergangenen Wochen von den Unternehmen vorgelegten Bilanzen bestätigen das. Der Marktführer Allianz hat 2012 mit gut fünf Milliarden Euro den zweithöchsten Gewinn in der Firmengeschichte verbucht. Mehr war es nur 2007, dem Jahr vor Ausbruch der Finanzkrise. Die Axa hat ihren Gewinn um 44 Prozent gesteigert. Auch die Konkurrenten machen einen guten Schnitt.

Die Gesellschaften lassen ihre Anlageprobleme trotzdem gnadenlos auf die Kunden durchschlagen. »Große Lebensversicherer lassen Kunden hungern«, schrieb das Handelsblatt. Die Unternehmen kürzen das Geld für Verbraucher, wo sie können – und sie haben eine Menge Verschiebemöglichkeiten. Die Folge ist, dass die Auszahlungen weit hinter den Erwartungen zurückbleiben.
Handelt es sich um private Rentenverträge, sinkt die beim Abschluss vom Kunden erwartete spätere Rente. Das räumen Branchenvertreter auch unumwunden ein. »Ich will nicht beschönigen, dass die niedrigen Zinsen vor allem zu Lasten derjenigen gehen, die auf die private Altersvorsorge viel mehr angewiesen sind als ihre Vorgängergenerationen«, sagt Alexander Erdland, Vorsitzender des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft und Vorstandsvorsitzender des Finanzkonzerns Wüstenrot & Württembergische. Seine Lösung lautet: Die Bürger »müssen infolge der Eurokrise auch deshalb mehr sparen, weil sie weniger Rendite bekommen«. Weil sie für ihr Geld weniger bekommen, sollen die Kunden mehr zahlen. »Hier steht die Politik in der wahren Verpflichtung: Sie muss die Menschen weiterhin über die Notwendigkeit zur ergänzenden privaten Altersvorsorge aufklären und dafür Anreize setzen. Umgekehrt darf Politik zur Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente keine Versprechen machen, die nicht gehalten werden können«, sagt Erdland. Vorschläge von der Linkspartei, der SPD oder den Grünen, die gesetzlichen Renten in welcher Form auch immer aufzustocken, müssen die Versicherer furchtbar finden. Denn das schmälert ihre Geschäftsaussichten.
Der gesetzlichen Rentenversicherung geht es ausgezeichnet, zu Jahresbeginn hat die Bundesregierung den Beitragssatz gesenkt. Diejenigen, die geradezu damit drohen, ihre Versprechen nicht halten zu können, sind die privaten Anbieter. »Damit die Versicherer auch in Zukunft zuverlässige Anbieter von privater und betrieblicher Altersversorgung sein können, brauchen wir eine Regulierung, die den stark veränderten aktuellen Rahmenbedingungen – insbesondere den anhaltenden Niedrigzinsen – Rechnung trägt«, sagt Erdland. »Bildlich gesprochen: Es wäre falsch, das Autoverdeck in Erinnerung an schöne Sommertage offen zu lassen, wenn sich das Wetter dauerhaft verschlechtert.« Das eigene Geschäftsmodell als nur schönwettertauglich zu bezeichnen, ist schon allerhand. Manager wie Erdland wagen das, weil sie mit ihrem Alarmismus alte Forderungen wiederbeleben. Sie wollen eine gesetz­liche Änderung, damit sie Kunden noch weniger Geld auszahlen müssen. Dabei geht es um die stillen Reserven. Sie entstehen, wenn der in den Büchern stehende Wert, also der Einkaufspreis, eines Investments unter dem aktuellen Marktwert liegt. Ist eine Aktie zum Beispiel bei der Anschaffung 100 Euro wert und der Kurs steigt auf 150 Euro, beträgt die stille Reserve 50 Euro. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen Versicherer Kunden, deren Lebensversicherung ausgezahlt wird oder die den Vertrag kündigen, zur Hälfte an den stillen Reserven beteiligen. Die Versicherer sind gegen diese Regelung Sturm gelaufen, die 2008 ins Versicherungsvertragsgesetz aufgenommen wurde. Jetzt sehen sie die Möglichkeit, die ungeliebte Vorgabe zumindest in Bezug auf festverzinsliche Wert­papiere loszuwerden.
Kleinlein findet den Vorstoß »unverschämt«. »Wir haben erlebt, wie in den neunziger Jahren die Versicherer erstmal gesagt haben, es gibt diese Reserven eigentlich gar nicht, dann wurde gesagt, man könne sie nicht berechnen, und am Schluss wurde gesagt, man könne sie nicht an die Kunden auszahlen«, sagt er. Insgesamt hat die Branche stille Reserven in Höhe von 75 Milliarden Euro in den Büchern. Im vorigen Jahr haben die Unternehmen ihren Kunden drei Milliarden Euro als Beteiligung daran ausgezahlt.

Im ersten Anlauf ist es der Versicherungswirtschaft überraschenderweise nicht gelungen, diese Verpflichtung loszuwerden, oft genug setzt sich die Assekuranz durch. Zunächst sah es auch in diesem Fall danach aus. Der Bundestag hat ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, der Bundesrat hat das Gesetz aber nicht passieren lassen. Die geplante Regelung hätte Kunden willkürlich je nach Ablauftag ihres Vertrags viele tausend Euro gekostet. Verhandlungen im Vermittlungsausschuss scheiterten – dem Vorwahlkampf sei dank. In den kommenden Monaten wird in dieser Frage wohl nichts mehr geschehen, aber die Ver­sicherer bereiten schon die nächste Offensive vor. Sie haben wichtige Fürsprecher, etwa aus den Reihen der für sie zuständigen Aufsichtsbehörde. »Wenn die Neuregelung jetzt nicht kommen sollte, hoffen wir auf einen neuen Anlauf – vielleicht nach der Bundestagswahl«, so die Präsidentin der Finanzaufsicht Bafin, Elke König. Sie war lange Managerin bei der Hannover Rück, die zum Versicherungskonzern Talanx gehört, das ist jene Gesellschaft, bei deren Aufsichtsratsvorsitzende Christian Wulff in der Toskana Urlaub machte. Und für noch etwas fühlt sich die Branche stark genug: Sie geht an den Kern ihres Geschäftsmodells, die lebenslangen Garantien.
Mit deren Infragestellung verlagern die Unternehmen das Kapitalmarktrisiko noch weiter auf die Verbraucher. Private Rentenversicherungen sind teuer, weil die Anbieter viel Geld von der Prämie des Kunden für Vermittler und Verwaltung abziehen. Auch wenn die Verträge sehr kompliziert sind, wissen viele Verbraucher das. Sie lassen sich trotzdem darauf ein, weil sie die Sicherheit der Policen schätzen, die lebenslang garantierte Verzinsung. Die Unternehmen wollen nur noch zeitlich begrenzte Garantien. Im Juli werden die Versicherungskonzerne Allianz und Ergo Policen mit neuen Konzepten auf den Markt bringen. »Die Versicherer sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen«, glaubt Kleinlein. Das Risiko ist begrenzt. Versicherer finden erfahrungsgemäß meistens eine politische Mehrheit, die sie auffängt.